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Annette

(Nach Robert Gernhardt, »Materialien zu einer Kritik der bekanntesten Gedichtform italienischen Ursprungs«)

Annette find ich so was von gerissen,
so streng, frigide, einfach ohne Glut;
es macht mich ehrlich krank, wenn wir uns küssen,
dass sie so lustlos bleibt. Wer hier den Mut

hätt, dieser Frau die Show mal zu versauen;
allein das Wissen tät mir richtig gut,
kann mich an dem Gedanken sehr erbauen.
Ich hab vor so was Achtung. Und die Wut

darüber, dass ihr höhnisches Gegacker
mich bei den andern Wichsern so blamiert,
schafft in mir Groll als abgewracktem Macker.

Ich raff nicht, was das Weibsbild motiviert.
Ich raff es echt nicht. Wills auch gar nicht wissen.
Ich find Annette unheimlich gerissen.

Cornelia Lösch, Mönchengladbach

 

Herbstwahl

(sehr frei nach Rainer Maria Rilke, »Herbsttag«)

Hey Mann: Der Sommer war zu kurz und verdammt heiß!
Zum Glück finden wir nun überall Schatten,
und der Wind kühlt unsere erhitzten Gemüter.

Die Bäume hängen voll mit leckeren Früchten.
Wir nehmen uns noch ein paar Tage frei für den Süden
und freuen uns auf den süßen, schweren Wein.

Gott sei Dank: Wir haben ein großes Haus und bauen uns
keines mehr,

Zum Glück sind wir auch nicht allein.
Wir schlafen lange, lesen ein wenig und schreiben
unseren Freunden kurze E-Mails.
Durch die Einkaufspassagen schlendern wir ganz cool
hin und her, wenn die letzten zerfetzten Wahlplakate im
Wind treiben.

Rudi Thal, Leutenbach

 

Herbstwind

(frei nach Rainer Maria Rilke »Herbsttag«)

Herr, es ist Zeit, der Sommer war sehr schön.
Nun lass die Kerle wieder lange Hosen tragen,
lass eisekalten Wind um ihre Beine jagen!
Ich kann die bleichen Stelzen nicht mehr sehn.

Mein Augenarzt sprach ernst von Allergie,
von trocknen Augen oder Netzhautschaden.
Es stellte sich heraus, es sind die Männerwaden
mit Stoppelhaaren bis hinauf zum Knie.

Herr es ist Zeit, lass auch die weißen Socken
nun lange, lange Zeit im Schrank verschwinden!
Lass – langbehost – die Kerle dann ’ne Frau noch finden,
mit der sie bis zum Frühling auf dem Sofa hocken!

Helga Strassenmeyer, Hamburg

 

Wandrers Trinklied

(nach Johann Wolfgang von Goethe, „Wandrers Nachtlied II“)

Zwischen manchen Zipfeln

Ist Wurst.

Nach manchen Kipfeln

Folgt der Durst.

Wie es der Brauch:

Sechs Fläschelein füllen in Kürze

Mit herber Würze

Unseren Bauch.

Klaus Haberkamm, Münster

 

Bootstour

(nach Günter Eich, »Inventur«)

Dies ist meine Kapuze,
dies ist meine Jacke,
die den scharfen Wind
und das Wasser durchlässt.

Der Goldring und zwei
Steine sind im Saum
vor begehrlichen
Augen verborgen.

Versteckt in der Tasche
die Adresse in Deutschland,
die ich niemandem
weitersagen soll.

Der Zettel ist feucht
wie alle Sachen,
die Schrift zerlaufen.
Das ist mir egal.

Dies ist mein Fladenbrot,
durchweicht, lösts sich auf.
Hunger habe ich nicht
auch keinen Durst.

Die glatte Planke hier
teil ich mit vielen.
Sie liegt zwischen uns
und dem dunklen Abgrund.

Das ist mein Baby.
Im nassen Tuch schläft
es auf meinem Schoß.
Atmet schon lang nicht mehr.

Hilde Stutte, Tübingen

 

Der Teig ist aufgegangen

(nach Matthias Claudius »Der Mond ist aufgegangen«)

Der Teig ist aufgegangen,
rot-blaue Zwetschgen prangen
Nicht länger mehr am Baum.
Sie sind schon aufgeschnitten
Und zeigen ihre Mitten
Kernlos, süß-saurer Früchtetraum.

Den Teig werd ich nun rollen,
Auf ihm die Pfläumchen sollen
Dicht liegen, Reih an Reih.
Darauf streu ich noch Nüsse
Und Zucker, süß wie Küsse,
Damit das Glück vollkommen sei.

Wenn dann der Duft vom Ofen
Steigt, kommen sie gelofen
Und sagen: »riecht das gut!«
Lasst uns noch Sahne schlagen.
An späten Sommertagen
macht Pflaumenkuchen Lust und Mut.

Ute Wendorff, Warburg

 

iDings

(nach Hermann Hesse, »Stufen«)

Wie jedes Handy lauscht und jedes Knistern
geortet wird, fließt jede kleine Bitte,
fließt unser Reden auch und unser Flüstern
ins Cybermeer und wird dort ewig lauern.
Es muss der Mensch bei jedem seiner Schritte
bereit zum Abschied sein und seine Daten
in cooler Tapferkeit und ohne Trauern
zu schonungslosem Nutzen weitergeben.
In jedem iDings nisten gute Paten,
die uns beschützen vor dem eignen Leben.

Wir wollen unser Sein mit allen teilen,
uns tief ins kollektive Treiben mengen,
das Weltnetz will nicht fesseln uns und engen,
es will nur hören, kennen, wissen, peilen.
Kaum dass wir störrisch uns ins Ich versenken
und schweigen, jeder Fehltritt wird uns lehren:
Nur wer bewusst beim Geben ist und Schenken,
wird misslicher Gefahren sich erwehren.

Wir werden auch in unsrer Todesstunde
noch Bilder, Postings, Smileys twitternd senden,
denn Orwells Ruf an uns wird niemals enden …
Mach weiter, Mensch, gib alles und gesunde.

Oliver von Flotow, Aurachtal, Bayern

 

Ich lag auf einer Wiese

(nach Walther von der Vogelweide, »Ich saz ûf eime steine«)

Ich lag auf einer Wiese
und dachte an die Krise.
Darauf ward mir ganz ungemütlich;
die Banken waren mir nicht gütlich:
Kredite gab es nur für Reiche,
die gleicher sind als andre Gleiche.
Wie sollte ich nur überleben?
Wer würd mir Subventionen geben?
Kein Rat ward mir zuteile,
doch galt ja höchste Eile!
Wie konnt ich Ehre, Steuerschuld
und täglich Brot mit Staates Huld
verbinden ohne Widerstreit?
Ja, leider! Da kam ich nicht weit,
denn überleben ehrenhaft,
wenn auf dem Konto Lücke klafft,
der Weg ist leider mir benommen,
und nichts ist nirgends zu bekommen.
Untreue, Raffgier und Gewalt
sind auf der Straß im Hinterhalt,
und Friede, Recht sind tief verletzt.
Dem Armen gibt man kein Geleit,
eh sie nicht wieder eingesetzt!

Lothar Schwarz, Troisdorf-Bergheim

 

Dass gar es schwele

(nach Stefan George, »Das Jahr der Seele«)

Sie schieben, schwergewicht, mit sattem blicke
Den einkaufswagen hin zum schlachtertresen
Sie zeigt aufs fleisch bedacht ob er auch nicke
Dass ihrer leiber notdurft werd genesen

Sie weilen unter schattenreichen bäumen
Wo schlund und mund von bieres trunke keuchen
Dort wo die andern platt vom grillen säumen
Im glimmlicht schimmernd feuchte bäuche leuchten

Sie blicken auf ihr grillgut innernd blickes
Sie sinds zufrieden wie bei malz und hopfen
Es dampft das fleisch geölt ob dünn ob dickes
Die heißen fette in den abbrand tropfen.

Albrecht Braune, Hamburg

 

Die Gedanken waren frei

Update eines inkompatibel gewordenen Volkslieds 

Die Gedanken waren frei,
Man weiß jetzt, was wir denken.
Wir sind nur zu bereit,
Sie glatt zu verschenken.
Sie rasen in Massen
Durch gläserne Trassen,
Gefiltert und sortiert –
Und Obama spioniert!

Die Gedanken waren frei,
Man kann sie berechnen
Und speichert weit und breit,
Was wir so besprechen.
Wir liefern an Facebook
Alltäglichen Humbug,
Intimes und noch mehr –
Und dann wundern wir uns sehr!

Die Gedanken waren frei,
Es droht ein Debakel:
Die Gedankenpolizei
War Orwells Orakel.
Und meine Gedanken
Erkennen die Schranken
Und bleiben dabei:
Wir waren einmal frei!

Oliver Rötting, Frankfurt am Main