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Weihnachten?

(Nach Joseph von Eichendorff, »Weihnachten«)

Markt und Straßen sind voll Drängen,
Lichterketten niederhängen.
Hektisch eil ich durch die Gassen,
Kann die Tüten kaum noch fassen.

Bunte Fenster dringend werben:
»Bitte, nicht das Spiel verderben!
Schaut – doch lasst vor allen Dingen
Unsre Ladenkassen klingen!«

Bang erreich ich meinen Schlitten,
Hab die Parkzeit überschritten.
Knöllchen klebt schon an der Scheibe,
Dass vom Geld nichts übrig bleibe.

Draußen, vor des Städtchens Toren,
Summt es mir noch in den Ohren
Von den Liedern, die gedudelt,
Tausendfach schon abgenudelt.

Einer sei da einst erschienen,
Uns zu lieben und zu dienen,
Mitzuleiden mit uns allen –
Irgendwas ist mir entfallen …

Sylvia Börgens, Wölfersheim

 

Der Sommerengel

Juni. Ein Spargelessen zu dritt. Sie hatte den Tisch festlich gedeckt, ihr Mann die Kartoffeln gekocht, die Freundin den Spargel. Ihr Mann war heiter, prostete ihr zu, denn es war ihr Geburtstag. Da störte ein Anruf die friedliche Stimmung. Ein Theologiestudent bat sie, ihm zwei, drei Monate lang jeden Tag beim Übersetzen griechischer und lateinischer Texte zu helfen. Das Thema: Sterben, Tod, das Fortleben der Seele in Texten von Platon und Cicero. Texte, in die sie seit ihrem Studium nicht mehr hineingesehen hatte. Eigentlich hatte sie vor, in den nächsten Wochen und Monaten den Garten umzugestalten, einen Seerosenteich anzulegen, neue Rosen zu pflanzen, die Hecken zu schneiden. Draußen wollte sie sein von morgens bis abends, aber nicht sich mit Perioden und der Funktion von Nebensätzen in den beiden antiken Sprachen beschäftigen. Sie fragte ihren Mann um Rat. »Das machst du«, sagte er nur und fügte ein leises, eindringliches »bitte« hinzu. Sie sagte zu, obwohl sie sich innerlich sträubte. In der Nacht starb ihr Mann an einem Herzinfarkt. In seinem Arbeitszimmer. Als erfahrener Arzt, erfuhr sie einige Tage später von einem seiner Kollegen, hatte er die Vorzeichen am Tage ihres Geburtstags stoisch gelassen selbst diagnostiziert. Zwei Wochen später saß der Theologiestudent, »der Junge«, wie sie ihn von nun an nannte, ungezwungen im Schneidersitz in einem ihrer Sessel. Über ihm im Regal ein Foto ihres Mannes: in Ferienlaune, erholt, lachend. Fast sehnsüchtig erwartete sie die tägliche Anwesenheit des Jungen, während sie nach geeigneten Texten für den Unterricht suchte. Sie half dem Jungen bei seinen allmählich flüssiger werdenden Übersetzungen, ließ ihn die Gedanken der Philosophen interpretieren, entdeckte mit ihm Parallelstellen in der Bibel und bei den Kirchenvätern. Das jugendliche, fast aufmüpfige Gebaren des Studenten und seine fantasievollen Übersetzungsvorschläge brachten sie manchmal zusammen zum Lachen. Und das alles half ihr, nicht die Contenance zu verlieren. So durchlebte sie, nach fast fünfzigjähriger Ehe, die ersten Monate ihres Alleinseins. Dass der Junge vielleicht ein Engel war, der ihr eine Botschaft überbrachte, vielleicht sogar eine frohe, dachte sie bisweilen. Auch später noch und nicht nur zur Weihnachtszeit.

Ursula Schorsch, Berlin

 

Was mein Leben reicher macht

Der Laden war fast leer. Nur eine Kundin wurde bedient. Ich stellte ich mich in einiger Entfernung geduldig auf. Wenig später betrat eine weitere Kundin das Geschäft, ebenfalls im  Seniorenalter. Nach kurzer Wartezeit wandte sie sich an mich: »Haben Sie es eilig?« – »Nein.« – »Schön, nicht wahr?« Und strahlte.

Heinz Wolfermann, Darmstadt

 

Straßenbild


Ein junges Paar zieht in unsere Nachbarschaft, und mit ihm kommt ein Indianer. Er postiert sich neben der Haustür, alle Passanten und Besucher im Blick. Aufrecht steht er da und selbstverständlich, Wind und Wetter die Stirn bietend. Die rechte Hand schützt die Augen gegen die blendende Morgensonne. Das Flachland des Niederrheins scheint dem Migranten nicht fremd. Ein Prärieindianer des Mittleren Westens? Ein Shawnee vielleicht? Aus dem Stamm des legendären Häuptlings Tecumseh, der sich den weißen Landräubern entgegenstellte und letztlich mit seinen Mannen auf verlorenem Posten war? Unrecht und Leid haben die Indianer erfahren müssen. Ich habe mir angewöhnt, allmorgendlich freundlich hinüberzuwinken. Und wenn im Frühjahr die Tage wieder wärmer werden, will ich mit dem Paar die Friedenspfeife stopfen, den Indianer in die Mitte nehmen und ihn und andere Nachbarn zum Mitrauchen einladen. Wir würden uns in Tabakwolken hüllen und wünschen, dass der Rauch des Friedens hinauf zu Manitu steige, um ihn ein bisschen gnädig zu stimmen.

Heinz van de Linde, Goch

 

Was mein Leben reicher macht

Ich hüte meine beiden Enkelkinder, 11 und 13 Jahre alt. Josefine und Robin haben seit Langem zwei Zwerghasen. Meine Tochter hat einen Zettel geschrieben und ihn auf den Tisch geklebt: »Hasen füttern nicht vergessen!« Am nächsten Morgen großes Geheule: »Omi, Pünktchen ist weg, mein Zwerghase!« Im Zaun war ein Loch! Wir suchen überall, auch mit der Hilfe der Nachbarn; das Häschen bleibt verschwunden. Ich mache mir Sorgen und überlege, ob ich ein Ersatztier beschaffen soll. Aber da hat Josefine schon kurz und bündig das n von Hasen weggestrichen.

Karin Klopfer, Dürnau

 

Zeitlupe: Mein Wort-Schatz

Mein Wortschatz: die Zeitlupe. Ein wunderbares Wort, das es auf den Punkt bringt: die Zeit so vergrößern, dass kleinste Details wahrnehmbar werden. Wie bedauerlich, wenn stattdessen von Slow Motion oder gar von »Slo Mo« gesprochen wird. Warum hegen wir unsere Wort-Schätze nicht und geben sie so leichtfertig auf? Wir staunen doch immer über Sprachen, deren Vielfalt wir als poetisch empfinden, man denke an »Schnee, der auf Zedern fällt«. Bei uns fällt weniger Schnee und mehr Regen, dementsprechend haben wir den Dunst, den Niesel, den Fieselregen. Es tröpfelt, schauert, regnet Bindfäden, gießt wie aus Kübeln, schüttet aus Eimern… Und dann der Wolkenbruch! Was für ein Wort-Schatz! Ähnliche Vielfalt findet sich übrigens auch beim Geld: schnöder Mammon, Knete, Kies, Schotter, Kohle, Asche, Moos, Zaster, Moneten, Patte, Piepen, Pieselotten… Was sagt diese Vielfalt über uns aus? Das Vorangegangene jedenfalls illustriert, wie man »von Höcksken up Stöcksken« kommen kann. Darum sei an dieser Stelle Schluss!

Katharina Silies, Lübeck

 

Was mein Leben reicher macht

Mein Geburtstag. In Gedanken zieht mein vergangenes Jahr an mir vorüber. Ich frage mein Bruderherz, was für ihn das Bedeutsamste, Schönste in diesem Jahr war. Er überlegt und antwortet: »Dass du deinen Freund gefunden hast.«

Miriam Hoffmann, Berlin

 

Kritzelei der Woche


Ich habe dieses Bild während einiger Schulstunden angefertigt, die sich unglaublich in die Länge zogen. Angefangen habe ich mit dem kugelförmigen Objekt links von der Bildmitte, das spitz und in Kringeln ausläuft. Einige Tage später dachte ich mir, dass ich daraus eine verrückte Zeichnung machen könnte, für deren Ausgestaltung sich während des Unterrichts genügend Freiräume ergaben. Und da ich mich im Unterricht ziemlich häufig langweile, ist diese Zeichnung nur eine von vielen, die in der Schule entstanden sind.

Lindsey Wang, München

 

Was mein Leben reicher macht

Auf dem Rückweg von einem Vortrag, den ich halten durfte, sitze ich am späten Abend im ICE. Als Dank hatte ich einen üppigen Herbstblumenstrauß erhalten. Bis nach Hause schafft er es nicht, denke ich noch so. Mit mir im Abteil sitzt eine sehr junge Ordensfrau, die aus ihrem Jahresurlaub zurück ins Kloster fährt und am nächsten Bahnhof den Zug verlassen wird. Sie arbeitet im Hospizbereich. Tod, Tränen und zerschlagene Hoffnungen sind ihr Alltag. Als ich sie frage, ob ich ihr mit den Blumen eine kleine Freude machen dürfe, ist sie zunächst etwas verlegen. Als sie dann mit dem Blumenstrauß aussteigt und ich ihr beim Gepäck behilflich bin, küsst sie mich im Vorübergehen auf die Wange und lächelt. Am Horizont berühren sich Himmel und Erde eben doch!

Ferdinand Reelsen, Borchen