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Ohne Punkt und Komma

Man huldige dem Thomas Bernhard aus Österreich, dem tollsten aller Länder. Von diesem Bernhard, da hat ein Buch gerade 80 Seiten und kommt aus ohne Punkt und ohne Komma. Bis der Vorhang fällt, bei diesem Bernhard, Text, doch weder Punkt noch Komma.

Alexander Fischer, München
Die Bücher Thomas Bernhards sind bei Suhrkamp erschienen

 

Schwimmen im indischen Ozean

In der Früh um acht im Alten Stadtbad (das aufgrund eines Bürgerbegehrens nun doch nicht geschlossen werden darf) meine Bahnen zu ziehen. Die Sonne zaubert Seychellenwasser durch die Jugendstilfenster. Man ist mitten in Augsburg und doch an einem völlig anderen Ort.

Ingrid Kipp, Augsburg

 

Kritzelei: Nero

Wenn ich kritzle, dann dient das zum Überleben in langweiligen Besprechungen. Das Motiv ergibt sich beim Zeichnen.

Manfred Kreis, Dernbach

 

Briefe über Deutschland (6)

Lieber Rich,

zunächst: Wir sind ohne Probleme aus Europa zu­rückgekommen. An den drei Flughäfen, über die ich fliegen musste, war kein einziger Flug mehr storniert, und im Flugzeug von Madrid nach Ams­terdam gab es sogar reichlich freie Plätze. Das Problem besteht nicht darin, dass die Vulkan­asche sich vielleicht im Nachhinein als ungefähr­lich herausgestellt hat (immerhin deuteten die Ab­lagerungen in dem finnischen Kampfjet auf das
Gegenteil hin), sondern darin, dass die Politik un­vollständige Informationen hatte. Das verlangt nach besserer Wissenschaft, besserer Koordination und, ja: Grenzwerten. Der unaus­sprechliche isländische Vulkan war aber zum letz­ten Mal vor der Ära der kommerziellen Luftfahrt ausgebrochen.

Dem Vorbeugeprinzip folgend, konnte die Politik nicht anders reagieren – die Konsequenzen einer Fehlentscheidung zulasten der Sicherheit wären nicht verzeihlich gewesen. Nun kann man darüber streiten, ob dieses Prinzip Sinn hat. Allerdings ist es Teil der europäischen Entscheidungsfindung, mehr jedenfalls als dies­seits des Atlantiks. Das betrifft nicht nur Vulkan­asche, sondern auch den Klimawandel, Genmani­pulation, Chemikalien und ihre Auswirkung auf die Gesundheit, Datenschutz und so weiter. Wir sollten es uns nicht nehmen lassen, findet

Dein Julian

Im wöchentlichen Wechsel schreiben sich hier Julian Lee, 30, Umweltberater aus Montreal, und sein Stiefvater Friedrich Engelke, 68, Physiker aus Villingen

 

Ausflug nach Quatna

Ich lese keine historischen Romane, ich habe keine Ahnung von der Geschichte des Vorderen Orients, ich wusste nicht einmal, dass es einen Staat Qatna gab. Und dann ging ich in die Stuttgarter Ausstellung, in der die archäologischen Funde dieses kleinen Königsreiches gezeigt wurden, eigentlich nur, weil der Tübinger Professor Peter Pfälzner im Irak diese spektakulären Entdeckungen gemacht hat. Und ich wohne bei Tübingen. Alles toll, alles
aufregend, gut gemacht.

Und dann machte ich diesen Fund im Museumsshop: der historische Roman „Qatna“ von Maria Courant. Man sagt ja, man habe ein Buch gefressen. Genauso ging es mir. 555 Seiten spannendste Dramen aus dieser Epoche (1355 bis 1332 v. Chr) haben mich nicht mehr losgelassen, weil – und das ist jetzt die Bereicherung – die Autorin eine Wissenschaftlerin ist, die Pfälzner offenbar im Nacken saß. Sie weiß alles über König Schuppiluliuma, Pharao Echnaton und schildert das Leben der damaligen Zeit, als sei sie eine Freundin von Prinzessin Kira, Schuppiluliumas Tochter und Protagonistin, gewesen. Wir erfahren alles über das höfische Leben, Kriegskunst, Liebeskunst, Männerphantasien, Frauendasein – und können uns glücklich schätzen, die Bedeutung des archäologischen Fundes Qatna zu erahnen. Wie gesagt, ich lese sonst keine historischen Romane, weil in ihnen so viel Schmu erzählt wird. Hier nicht. Geschichte pur in Spannung pur. Hab ich so noch nicht erlebt. Und ich lese viel.

Eleonore Wittke, Kusterdingen-Mähringen

 

Du bist Schuld!

Liebe Mama!

Ich bin mit meinem Frühjahrsputz fertig! Lass dich nicht täuschen, das Ausrufezeichen verrät nur meinen Euphemismus. Es wird keine gute Hausfrau aus mir, obwohl Familienmanagerin so ein vortrefflicher Semi-Anglizismus ist. Wie alle bedauernswert Berufenen musste ich ja doch zum Künstler werden!

Aber die Schriftstellerei wird mich ebenso wenig systemimmanent machen wie Heroinsüchtige, Hartz-IV-Empfänger und Frauen, deren Körpergewicht ihrer Größe entspricht. Warum nur tobte Deutschland an mir seine debile Neigung aus, Dichter und Denker zu erzeugen? Wieso konnte mich mein Vater nicht vor Schusterjungen und Hurenkindern beschützen? Weshalb hat mir die Kirche den Beelzebub der Metaphysik nicht ausgetrieben? Und dann erteilte mir der Faust auch noch zu viele Schläge auf den Hinterkopf!

Doch eben erinnerte ich mich: Du warst es doch, die mir schonungslos ehrlich sagte, dass Hausarbeit dir sinnlos und langweilig vorkommt! Und dass dein Beruf dir viel mehr Spaß macht, als die uns genetisch vorbestimmte Aufgabe des Herdheimchens! Wie konntest du nur? Nur deshalb zieht es mich unheilvoll an Tasten und Moleskine!
Nur darum wurde ich süchtig nach Fantasmen und Idealen, will mich wollüstig in Worten wälzen und mit Anaphern Unzucht treiben! Das ist der Grund warum Metaphern Spalier stehen auf meinem Leidensweg des Sagenmüssens! Schlimmer noch packt mich meine Vers-Maßlosigkeit und durchschüttelreimt mich, bis mir Haus- und Brutpflege vergeht! UND DU BIST SCHULD, Mama!

Du hast es ja nicht anders gewollt. Ich übrigens auch nicht.

Schöne Grüße und viel Spaß beim Nichtmehrputzenmüssen
Deine zutiefst dankbare Tochter Anja!

Anja Thieme, Jüchen

 

Zeitsprung: Feldfrüchte

2008

Wenn ich zurzeit aus meinem Fenster schaue, macht mich der Anblick richtig wütend: Wo bis vor drei Jahren noch verschiedene Bauern Kartoffeln, Rüben oder Getreide anbauten und wir Hasen, Fasane und Rebhühner beobachten konnten, wächst nun Spargel, und zwar unter Folie.

2010

Ein Bauer hat sämtliche Felder übernommen. Und ich frage mich: Müssen wirklich ganze Landstriche unter Folie verschwinden und die ganze Gegend so hässlich aussehen, nur damit wir Verbraucher ein, zwei Wochen früher an frischen Spargel kommen? Auch wenn dadurch Lebensräume für Tiere verloren gehen? Und welche ästhetischen und gesundheitlichen Folgen haben die abgedeckten Landstriche für uns Menschen? Eines weiß ich genau: Ich esse keinen unter Folie gewachsenen Spargel. Auch keine Erdbeeren oder sonstiges Obst und Gemüse!

Christel Sponagel-Goebel, Bickenbach

 

Wiedergefunden: eine Liebeserklärung

Unser Nachbar ist ein großer Liebhaber und Sammler von allem Alten. Eines Tages brachte er aus einem Antiquitätenladen in Goslar einen aus Bronze gegossenen Hund mit, ein sehr schönes, dekoratives Stück. Er machte sich an eine gründliche Reinigung, schraubte die Bodenplatte ab, auf der der Hund stand und – fand zu seinem Erstaunen im Hohlraum einen vergilbten Zettel, auf dem etwas in Sütterlinschrift stand. Und weil er es nicht lesen konnte, kam er zu mir. Auf dem Zettel hieß es:

Josephine! Wenn der Zufall einst Dir diese Zeilen zu Gesicht bringt, so wisse, dass ich Dich lieben werde, bis mein Herz hört auf zu schlagen. Du vernichtest mit nur einem Schlage mein Dasein, aber ich kann Dich nicht hassen, der Gedanke an Dich foltert mich Tag und Nacht. Am liebsten möchte ich sterben, dann wär’s mit einmal still.
Berlin, am 2. Mai 1875. Julius Fleischer

Der Inhalt dieses Briefes wird sein Geheimnis wohl nie preisgeben. Aber eines ist sicher: Die Frau, der diese Zeilen galten, hat sie nie gelesen.

Brigitte Becker, Lutherstadt Eisleben

 

Urzeitliche Erfinder

Meine maßlose Überschätzung von heutigen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen wurde angekratzt, als ich am Sonntag das archäologische Museum im Pauli-Kloster zu Brandenburg/Havel besuchte. Viele spitz zugeschlagene Feuersteine füllen überall die Vitrinen, aber wie kommt man auf die Erkenntnis, dass ein Pfeil mit solchem Feuerstein besser fliegt, wenn sein Schaft mit Federn versehen ist? wie kamen Steinzeitmenschen auf die Idee, mit ihren Mitteln einen Blasebalg zu basteln, um das Feuer anzufachen? Diese Vorgänge wurden mir in dem exzellenten Pauli-Kloster-Museum so anschaulich vor Augen geführt, dass der Unterschied in der Potenz des Neocortex zwischen diesem Anfangswissen und z.B. der Evolutionstheorie oder neuzeitlichen technischen Neuerungen zu schwinden schien.

Christa Krüger, Berlin