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Grüne: Unsichtbares Spitzenpersonal in Hülle und Fülle

Zwei Parteivorsitzende, zwei Spitzenkandidaten – ein Mangel an Führungskräften herrscht bei den Grünen wahrlich nicht, die Bundesdelegiertenkonferenz der Grünen vom vergangenen Wochenende hat dies dem interessierten Bürger eindrucksvoll vor Augen geführt. Und doch kann man in diesen grünen Wein auch Wasser gießen. Am vergangenen Freitag hat die Forschungsgruppe Wahlen die Ergebnisse ihres neuesten Politbarometers veröffentlicht; fester Bestandteil davon ist die Liste der zehn wichtigsten Politiker – fast schon eine Währung deutscher Politik. Grüne dort? Fehlanzeige!

Ein Blick auf die Liste unter parteipolitischen Gesichtspunkten liefert interessante Befunde: Die CDU ist mit Merkel und von der Leyen (was werden die Mitglieder des Andenpakts davon halten?) doppelt vertreten; die CSU mit zu Guttenberg und Seehofer ebenfalls. Die SPD schafft mit den Stones und Müntefering drei Platzierungen, die FDP ist mit Westerwelle in den Top Ten vertreten, die Linke mit ihrem Führungsduo Gysi/Lafontaine sogar doppelt. Grüne – 0.

Neu ist das nicht. Die folgende Grafik zeigt, welche Parteien mit ihrem Spitzenpersonal in der Liste der Top Ten seit 2004 vertreten waren:


 

Seit dem Ausscheiden von Joschka Fischer aus der aktiven Politik (und damit auch der Liste der wichtigsten Politiker) Ende 2005 hat es kein grüner Spitzenpolitiker mehr in die Liste geschafft. Wäre weniger hier mal wieder mehr?

 

Zuversicht in der Krise

Nach einer aktuellen Umfrage der Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) glauben derzeit rund 71 Prozent der Deutschen nicht, dass sich ihr sozialer Status durch die Finanz- und Wirtschaftskrise verändern wird. Aber Zuversicht scheint keine Nachricht wert. Im Bericht der „Welt am Sonntag“, in deren Auftrag die GfK-Befragung durchgeführt wurde, wird stattdessen hervorgehoben, dass zurzeit 28 Prozent der Deutschen ihre Schichtzugehörigkeit durch die Finanz- und Wirtschaftskrise gefährdet sehen. Der Titel der Presseinformation der GfK lautet noch: „Mehrheit der Deutschen fürchtet keinen sozialen Abstieg“. Bei „Welt online“ wurden daraus Schlagzeilen wie „In Deutschland wächst die Angst vor dem sozialen Abstieg“ und „Deutsche Mittelschicht fürchtet sozialen Abstieg“. Der Nachrichten-Aufmacher bei T-Online am Montagvormittag dröhnte: „Die Angst vor sozialen Abstieg geht um“. Und da musste dieselbe Befragung auch gleich als Beleg dafür herhalten, dass die Angst vor einem sozialen Abstieg durch die Wirtschaftskrise bei immer mehr Deutschen um sich greife.

Nun gehört es zu den wenig aufregenden Erkenntnissen der Medienforschung, dass schlechte Nachrichten gute Nachrichten sind, weil sie mehr Aufmerksamkeit wecken und sich damit auch besser verkaufen lassen. Wenn aber aus guten Nachrichten schlechte Nachrichten gemacht werden, dann untergräbt das die Glaubwürdigkeit des Überbringers der Botschaft und der Grad zwischen Information und Desinformation wird beunruhigend schmal.

Dabei bedürfen die krisenbedingten Ängste der Deutschen wohl kaum einer künstlichen Übertreibung. Denn laut jüngstem ARD-Deutschland-Trend von Infratest dimap machen sich 57 Prozent der Deutschen Sorgen um ihre persönliche wirtschaftliche Zukunft, 56 Prozent fürchten um ihre Ersparnisse und 76 Prozent glauben, dass uns der schlimmste Teil der Krise noch bevorsteht. Unter den Erwerbstätigen haben 38 Prozent der Befragten Angst um ihren Arbeitsplatz, mit einer Zunahme von 6 Prozentpunkten im Vergleich zum Vormonat.

Diese Zahlen sind alarmierend genug, zumal in einem Superwahljahr, in dem die Wählerinnen und Wähler aufgefordert sind, den Politikern ihrer Wahl das Vertrauen auszusprechen. Nun stellt sich die Frage, wem man in der Krise mehr vertrauen mag: den Wünschelrutengängern, die in der Bevölkerung „Empörung über die Folgen der Krise“ (Gesine Schwan) und „soziale Unruhe“ (Oskar Lafontaine) „spüren“; oder denjenigen, die zwar unsere Sorgen nicht unter den Teppich kehren, aber auch Mut machen, dass wir die Krise gemeinsam überstehen und daraus gestärkt hervorgehen werden.

Die Amerikaner entschieden sich bei der zurückliegenden Präsidentschaftswahl in großer Mehrheit für Zuversicht und Optimismus: Yes, we can – Ja, wir packen das! Wofür werden sich die Deutschen entscheiden – für eine Wahl der Angst oder für eine der Zuversicht? Und welche Partei wird den Deutschen überhaupt die Wahl lassen, den Optimismus zu wählen?

 

Das grüne Wahlprogramm von 2009 – Vorbereitung für eine neue Regierungsbeteiligung?

Politische Parteien müssen zwangsläufig Wandlungsprozesse durchlaufen, um sich an veränderte Präferenzen in der Wählerschaft anzupassen. Nur so können sie ihre Erfolgschancen wahren und erhöhen. Auf keine Partei trifft dies mehr zu als die Grünen, die in ihrer noch relativ jungen Geschichte wohl die stärksten Veränderungen erfahren haben. Dies gilt zunächst für die Parteiorganisation und die Wahlkampfführung. Es gilt aber auch, wenn man sich die Veränderungen in der Haltung der Bündnisgrünen zum bundesdeutschen Staat im Allgemeinen und den Wandel der ideologisch-programmatischen Ausrichtung der Grünen im Besonderen anschaut. So wandelte sich die grüne „Anti-System-Partei“, die sogar noch von Teilen der SPD bis Mitte der 1990er Jahre als nicht koalitionsfähig angesehen wurde, zu einer staatstragenden politischen Kraft, deren Regierungsvertreter die ersten Kampfeinsätze der Bundeswehr in internationalen Friedensmissionen mitgetragen und befürwortet haben.

Dieser Wandel in der Grundausrichtung der Partei ist auch in deren Wahlprogrammen erkennbar. Insbesondere während der 1980er Jahre nahmen die Grünen eine explizit linke Position auf dem ideologischen Spektrum ein, die auch in den 1990er Jahren noch beibehalten wurde. Dies änderte sich nach der Regierungsübernahme der rot-grünen Koalition. Zu den Wahlen 2002, in die die Bündnisgrünen als Regierungspartei zogen, zeigt sich ein deutlicher Wandel hin zu einer moderaten Position, die der des Koalitionspartners SPD sehr nahe kam. Zu den vorgezogenen Neuwahlen 2005 setzte wiederum eine Bewegung in Richtung des linken ideologischen Spektrums ein, der sich – zumindest auf Grundlage des vorläufigen Wahlprogramms – im Jahr 2009 offenbar fortsetzt.

Links-Rechts-Positionierung der Wahlprogramme 1980-2009

Eine ähnliche Bewegungsrichtung ist auch im Fall des FDP– und insbesondere des SPD-Wahlprogramms sichtbar, was dazu führt, dass Sozialdemokraten und Grüne eine ähnlich geringe ideologische Distanz trennt wie zur Wahl 2002. Lediglich die Linkspartei nimmt – gemessen auf der Grundlage ihres Wahlprogrammentwurfs – nach ihrem deutlich links ausgerichtetem Programm zur Wahl 2005 wieder eine leicht moderatere Position auf der allgemeinen Links-Rechts-Achse ein, was zu einer recht geringen ideologischen Distanz eines potentiellen Linksbündnisses aus SPD, Grünen und der früheren PDS führt. Dies stellt – koalitionstheoretisch betrachtet und unter der Bedingung einer Mandatsmehrheit – eine optimale Voraussetzung für die Bildung einer stabilen Koalitionsregierung dar – wenn nicht die Sozialdemokraten unter Führung von Müntefering und Steinmeier eine Koalition mit der „Linken“ explizit ausgeschlossen hätten. Inwiefern diese „negative Koalitionsaussage“ der SPD gegenüber den Sozialisten auch nach der Bundestagswahl im September gilt, werden das Wahlergebnis und die Resultate der Sondierungsgespräche zwischen den Parteien zeigen. Die Bündnisgrünen haben zumindest auf ihrem Parteitag vom vergangenen Wochenende ein solches Linksbündnis nicht a priori ausgeschlossen.

 

Die Steuersenkungsdebatte – Wegweisung oder Wahlkampftrick?

Die Union diskutiert ihre steuerpolitische Ausrichtung. Während die Kanzlerin Steuersenkungen vorschlägt, um so die kriselnde Konjunktur zu beleben, warnen Parteifreunde vor solchen Schritten. So haben sich Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble und Sachsens Ministerpräsident Stanislaw Tillich zu Wort gemeldet und gemahnt, keine Wahlversprechen zu geben, die nach der Bundestagswahl nicht eingehalten werden können. Damit treffen sie den Nerv vieler Wähler, denn die Skepsis gegenüber Vorschlägen, die zu Wahlkampfzeiten geäußert wurden, ist traditionell groß.

Ist dieses Misstrauen berechtigt? Der sozialwissenschaftliche „Klassiker“ zur Frage der Übereinstimmung von Wahlprogramm und Regierungspolitik ist eine Studie von Hans-Dieter Klingemann, Richard Hoffebert und Ian Budge aus den 90er-Jahren, deren Erkenntnisse bis heute als wegweisend gelten. Die Forscher ermittelten (u.a. anhand der Ausgabenpolitik von Regierungen), dass die Politik besser ist, als ihr Ruf. Deutschland zählt demnach im internationalen Vergleich zu den Staaten, in denen politische Entscheidungen nach einer Wahl in hohem Maße auf den Wählerauftrag zurückzuführen sind: Die Wähler haben den siegreichen Parteien ein Mandat erteilt und diese setzen ihre Programme um (die so genannte „Mandats-These“). In anderen Ländern (etwa Frankreich oder Großbritannien) gilt hingegen tendenziell eher die „Agenda-These“: Es ist weniger wichtig, welche Partei einen bestimmten Vorschlag formuliert hat – nach einer Wahl setzt der Sieger die prominentesten Vorschläge um.

Natürlich wird auch in Deutschland nicht jedes Wahlversprechen erfüllt und kaum ein Koalitionsvertrag spiegelt die Wahlprogramme der beteiligten Parteien exakt wider. Der allgemeine Trend ist aber eindeutig: Parteien halten sich an Ihre Versprechen und versuchen, ihre politischen Forderungen nach der Wahl umzusetzen. Dass sich dennoch der Eindruck hält, dass Politiker ihre Wähler täuschen, ist nicht zuletzt der Logik des politischen Prozesses geschuldet: Konsense und reibungslose Kompromisse erfahren nicht die selbe Beachtung wie politische Streitigkeiten. Die Opposition wird sich auf diese Probleme beziehen, wenn sie die Regierung attackiert, und auch innerhalb der Koalition sind die Partner stets um Profilierung bemüht – die nächste Wahl kommt bestimmt…

Nichtsdestotrotz ist den Parteien bezüglich der Einhaltung ihrer Wahlversprechen ein gutes Zeugnis auszustellen. Die Wahlprogramme sind so formuliert, dass die Umsetzung, sprich: Finanzierung, möglich ist. Dies ist auch Resultat der innerparteilichen Demokratie, die einem Programmbeschluss voraus geht und unrealistische bzw. unseriöse Forderungen zumeist frühzeitig stoppt. Insofern können die Einwände aus der Union durchaus als konstruktive Beiträge verstanden werden. Für Ministerpräsident Tillich, dessen Regierung im Sommer selbst zur Wahl steht, ist dies zudem eine gute Möglichkeit, an Profil zu gewinnen und sich von den politischen Wettbewerbern in Sachsen abzuheben. Dass die Kritik am Wahlkampf auf diesem Wege selbst zu einer wirkungsvollen Wahlkampfaussage werden kann, ist eine weitere Besonderheit des politischen Prozesses.

 

Die Rente: Auf ewig im Wahlkampf sicher

Ewigkeitsgarantien kannte man in der Bundesrepublik bislang nur aus Artiktel 79 (3) des Grundgesetzes, in dem es heißt: „Eine Änderung dieses Grundgesetzes, durch welche die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung oder die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze berührt werden, ist unzulässig“, wobei in Artikel 1 die Menschenwürde (als Grundlage aller weiteren Persönlichkeitsrechte) und in Artikel 20 die Prinzipien der Demokratie und der Bundes-, Sozial- und Rechtsstaatlichkeit festgelegt sind. In diesen erlauchten Kreis ist nun auch die Sicherheit der Renten aufgestiegen – auch sie sollen auf ewig nicht mehr sinken, so wollen es Union und SPD.

Dass dies gerade jetzt – knapp fünf Monate vor der Bundestagswahl und im Angesicht eines drohenden Rückgangs der Renten – verkündet wird, ist sicherlich kein Zufall. Wirft man einen Blick zurück auf die Bundestagswahl 2005 (und die zugehörige repräsentative Wahlstatistik), so stellt man fest, dass 32 Prozent der Wahlberechtigten bei dieser Wahl 60 Jahre und älter waren (und nur 9 Prozent 25 Jahre oder jünger). Da zudem die Wahlbeteiligung mit dem Alter tendenziell steigt, liegt der Anteil 60plus bei den Wählern sogar noch etwas höher: Jeder dritte Wähler ist mittlerweile zumindest nahe dem Rentenalter. Die Wählerschaft der Union bestand 2005 sogar zu 41 Prozent aus Personen, die mindestens 60 Jahre alt waren. Bei der SPD waren es 33 Prozent, bei den weiteren Parteien dagegen nur 25 Prozent waren. Dass die Große Koalition diese Wählergruppe nicht er- und verschrecken will, ist vor dem Hintergrund dieser Zahlen nachvollziehbar. Interessant ist einzig noch, dass die Initiative aus dem Kreise der SPD kam, man hätte sie eher noch aus Unionskreisen erwartet.

Literatur
» Doreen Namislo, Karina Schorn, Margitta von Schwartzenberg: Wählerverhalten bei der Bundestagswahl 2005 nach Geschlecht und Alter Ergebnisse der Repräsentativen Wahlstatistik, in: Wirtschaft und Statistik 3/2006 (Download)

 

Europa: Wahlen zweiter Ordnung, schlecht dokumentiert

9. Mai – Europatag. Vor knapp 60 Jahren legte Frankreichs Außenminister Robert Schumann an diesem Tag die Grundlage der Montanunion, der Urform der heutigen Europäischen Union. Vieles hat sich seit dem getan: Die EU sich erweitert und vertieft, in immer mehr Politikfeldern Kompetenzen erhalten, ist demokratischer geworden. Ausdruck dessen sind die nächsten „Europatage“ vom 4. bis zum 7. Juni, wenn Europas Bürger zum siebten Mal aufgerufen sind, die Abgeordneten des Europäischen Parlaments direkt zu wählen.

Gleichwohl sind die Europawahlen auch Ausdruck der Probleme der EU (siehe dazu auch die bereits erschienenen Beiträge zu den Europawahlen auf Wahlen-nach-Zahlen): Die Bürger interessieren sich kaum dafür, entsprechend niedrig (und zunehmend niedriger!) fällt die Wahlbeteiligung aus, auch die Parteien widmen diesen Wahlen wenig Aufmerksamkeit: Christina Holtz-Bacha beschreibt den Europawahlkampf heute als „nur langweilig“ und „völlig ineffektiv“. Zumeist ist der Wahlkampf auch insofern daneben, dass weniger europäische Themen, sondern nationale Themen dominieren. Die Plakate der SPD sind ein gutes Beispiel dafür.

Konsens ist daher, die Europawahlen als „Nebenwahlen“, als „second-order national elections“ zu bezeichnen, wie es Karlheinz Reif und Hermann Schmitt schon 1980 getan haben: Medien, Wähler, Parteien – sie alle vernachlässigen die Europawahlen in einer immer wichtiger werdenden EU sträflich.

Peinlich ist aber, dass die EU selbst die Wahlen nicht ernst zu nehmen scheint. „Es gibt keine europäische Institution, die die amtlichen Europawahlergebnisse sammelt und der Öffentlichkeit zur Verfügung stellt“, sagt etwa Markus Tausendpfund vom Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung. Wer Ergebnisse der Europawahlen sucht, muss mühsam auf die Suche nach Sekundärquellen gehen – und stösst auf bemerkenswerte Dinge: „Erstens lassen sich immer wieder Unterschiede in den veröffentlichen Wahlergebnissen feststellen, und zweitens wird in den seltensten Fällen eine konkrete Quelle für die publizierten Daten genannt“, sagt Tausendpfund. So variiert beispielsweise der Prozentanteil der britischen Konservativen bei der Europawahl 1994 in der Fachliteratur zwischen 26,8 und 27,9 Prozent.
Um die offenkundig bestehenden Dokumentationsdefizite zu beseitigen haben Mannheimer Wissenschaftler die „Mannheimer Dokumentation der amtlichen Europawahlergebnisse 1979 bis 2004“ als Kompendium erstellt. Kann sich irgendjemand vorstellen, dass Ähnliches bei Bundestagswahlen nötig wäre?

Literatur
» Daniela Braun, Markus Tausendpfund: Mannheimer Dokumentation der amtlichen Europawahlergebnisse 1979 bis 2004: Tabellen zu den amtlichen Europawahlergebnissen, Mannheim 2007 (download)
» Markus Tausendpfund, Daniela Braun: Die schwierige Suche nach Ergebnissen der Wahlen zum Europäischen Parlament: Ein neuer Datensatz für die Wahlen 1979 bis 2004. Zeitschrift für Parlamentsfragen 39 (2008), S. 84-93

 

Angie 2.0 – die Kanzlerin gewinnt im Internet

Spitzenpolitikerinnen und Spitzenpolitiker, so viel ist mittlerweile klar, müssen sich im Internet präsentieren. Dabei hielt sich lange der Eindruck, dass die SPD der CDU auf diesem Terrain ein Stück weit voraus sei: Thorsten Schäfer-Gümbel konnte in Hessen dank einer allseits gelobten Online-Kampagne eine noch größere Wahlniederlage verhindern, Heiko Maas setzt im Saarland seit einigen Wochen verstärkt auf Präsenz im Internet und feiert laut jüngster Umfragen überraschende Erfolge. Die Union hingegen ist bisher noch nicht mit aufregend-provokativen YouTube-Spots oder ähnlichen Formaten in Erscheinung getreten. Man beschränkt sich weitestgehend auf bewährte Formen der Internet-Kommunikation, ein Beispiel sind die Video-Podcasts der Kanzlerin, die bereits seit Juni 2006 regelmäßig zu sehen sind und sich großer Resonanz erfreuen.

Seit zehn Tagen präsentieren sich die im Bundestag vertretenen Parteien und ihre Kandidaten nun auch auf der insbesondere von Jugendlichen stark frequentierten Online-Plattform studiVZ (mit diesem Thema beschäftigte sich schon ein Beitrag von Andrea Römmele). Sie präsentieren sich in multimedialen Botschaften und werben um die Nutzer, die sich als Befürworter eines Kandidaten oder einer Partei eintragen können. Ein erster Blick zeigt Überraschendes: Angela Merkel konnte bisher 13.587 Unterstützer gewinnen, Frank-Walter Steinmeier liegt mit 3.846 Anhängern klar hinter der Bundeskanzlerin. Auch auf Facebook, einem anderen sozialen Netzwerk, wo man schon seit längerer Zeit öffentlich Kandidaten unterstützen kann, zeigt sich ein ähnliches Bild.

Unterstützer der Spitzenkandidaten in den sozialen Netzwerken

Stand: 7.5.2009, 14:00 Uhr.

Kann Angela Merkel sich und ihre Botschaften in den sozialen Netzwerken also besser verbreiten als ihr Herausforderer? Die Werte der beiden ähneln den Zahlen, die Umfrageinstitute beispielsweise für die so genannte „K-Frage“ erhoben haben (Wenn man den Kanzler/die Kanzlerin direkt wählen würde, für wen würden Sie stimmen?“). Dort sind die persönlichen Zustimmungswerte der Kanzlerin derzeit knapp doppelt so hoch wie die ihres Konkurrenten.

Dieser Befund wirft eine Frage zum Nutzen des „Web 2.0″ für Wahlkampfzwecke auf: Kann man auf interaktiven Online-Plattformen wirklich Themen setzen und Kandidaten bekannt machen? Oder sind die genannten Unterstützerzahlen nicht eher ein Abbild der allgemeinen Bekanntheits- und Beliebtheitswerte der Kandidaten? Kann Angela Merkel mich online für sich gewinnen oder unterstütze ich sie dort, weil sie mich zuvor schon in TV, Radio, Zeitungen oder auf Veranstaltungen überzeugt hat?

Eine weit verbreitete Kampangen-Weisheit lautet: „Get them where they are“ – Hol‘ die Wähler dort ab, wo sie sind. Dies gilt für die Inhalte, in denen sich die Wähler „heimisch“ fühlen sollen, ebenso, wie für den Ort einer Kampagne: Plakate sollten gut sichtbar positioniert werden, Wahlstände an Plätze mit großem Publikumsverkehr gestellt werden und Fernsehspots in den passenden Programmen geschaltet werden. Das Internet kann diesem Credo nur bedingt folgen, hier gibt es keine „Hauptverkehrsstraßen“, an denen wir früher oder später alle vorbeikommen. Vielmehr kommt es immer auf den entscheidenden Klick an, den nur der Nutzer selbst durchführen kann. Er muss sich aktiv informieren und beispielsweise die Homepage einer Partei gezielt ansteuern.

Die sozialen Netzwerke, die das Internet zunehmend prägen, spielen für Wahlkämpfe sicherlich eine große Rolle. Wahlkämpfer sollten sich aber zugleich der Möglichkeiten und Grenzen bewusst sein und die zur Verfügung stehenden Online-Instrumente zielgerichtet einsetzen. So bietet das Internet beispielsweise schnelle und unkomplizierte Wege für die Organisation von Unterstützern und die Koordination von Wahlkampfaktionen. Wenn das strategische Ziel aber lautet, Themen zu verbreiten und Kandidaten bekannt zu machen, ist nach wie vor die „Offline“-Arbeit entscheidend.

 

TV-Duell 2.0?

Alle reden derzeit vom Internetwahlkampf (vulgo: Wahlkampf 2.0, Online Campaigning), viele reden derzeit auch von TV-Duellen und möglichen Formaten, insbesondere der Möglichkeit eines „Townhall-Meetings“ (siehe hierzu auch den Beitrag von Jürgen Maier). Niemand spricht dagegen bisher von der Kombination beider Wahlkampfformen. Warum eigentlich nicht? Immerhin gab es doch im US-amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf – neben den traditionellen Formaten (einschließlich des Townhall-Formats) – mit den CNN/YouTube-Debates eine echte Innovation in dieser Richtung: Bürger konnte via YouTube ihre Fragen einreichen, ausgewählte Videos mit ihren Fragen wurden den Kandidaten in der Sendung gezeigt, die dann darauf antworteten. Ein schönes Format, aber in der deutschen Diskussion bislang nicht existent. Soweit ist der Internetwahlkampf (oder auch die crossmediale Vernetzung) in Deutschland dann wohl doch noch nicht.

 

Showdown im Fernsehstudio – oder doch woanders?

Dass es auch bei der Bundestagswahl 2009 zu so genannten TV-Duellen zwischen Merkel und Steinmeier kommen wird, stand für Wahlkampfexperten und Wahlforscher eigentlich außer Frage: Zu groß ist der Anreiz der Wahlkampfstrategen, Wähler unter weitgehender Umgehung journalistischer Selektionskriterien direkt anzusprechen. Zu einzigartig ist die Chance, Wählern den Kontrast zum Kandidaten des gegnerischen Lagers unmittelbar vor Augen zu führen. Zu groß war das Publikumsinteresse bei den beiden Fernsehdebatten zwischen Schröder und Stoiber 2002 (jeweils rund 15 Millionen Zuschauer) bzw. der einzigen Live-Konfrontation zwischen Schröder und Merkel 2005 (21 Millionen Zuschauer). Zu groß ist damit der Marktanteil, der die an der Ausstrahlung solcher Duelle beteiligten Sender lockt. Und zu groß ist deshalb der mediale Druck, der auf die beiden Hauptakteure der diesjährigen Bundestagswahl ausgeübt wird.

Die Nachricht des SPIEGEL, dass die Wahlkampfteams der beiden Kandidaten über Anzahl und Format von Fernsehdebatten verhandeln, ist daher wenig überraschend. Dass die Union dabei versucht, die Zahl der gemeinsamen Fernsehauftritte von Merkel und Steinmeier zu minimieren, verwundert auch nicht. Denn erstens knüpft dies an die Strategie des Wahljahrs 2005 an, in dem sich Merkel mit Hinweis auf Terminschwierigkeiten weiteren Live-Diskussionen mit Schröder entzog. Und zweitens ist Merkel jetzt Kanzlerin und hat nur wenig Interesse, der schwächelnden SPD eine Plattform „auf Augenhöhe“ zu bieten. Bemerkenswert ist aber der Vorstoß der Fernsehsender, vom bislang gewohnten Format abzuweichen und auf so genannten Town-Hall-Meetings – also ein Format, in dem Wähler den Kandidaten Fragen stellen dürfen – zu setzen.

Town-Hall-Meetings sind keine deutsche Erfindung. Sie kommen, wie das TV-Duell-Format, das seit der vorvergangenen Bundestagswahl hierzulande gepflegt wird, aus den Vereinigten Staaten. 1992 kam es dort erstmals im Rahmen eines Präsidentschaftswahlkampfes zu einem Town-Hall-Meeting. Bill Clinton, Bob Dole und Ross Perot standen damals 209 parteipolitisch ungebundenen Wählern Rede und Antwort. Town-Hall-Meetings sind also keine Veranstaltung, in deren Rahmen jeder beliebige Fragen stellen kann, sondern ausgewählte Bürger stellen den Kandidaten Fragen, die natürlich vorher von Dritten als einem solchen Ereignis angemessen bewertet wurden. Auch ist ein Town-Hall-Meeting keine basisdemokratische Diskussion zwischen Wählern und noch zu Wählenden. Vielmehr gelten auch hier strikte Regeln – etwa was die Zeit betrifft, in der die Kandidaten eine Antwort geben können. Town-Hall Meetings geben den Bürgern aber das Gefühl, sich – vertreten durch andere Bürger – direkt an die Kandidaten zu wenden. Solche Formate sind besondere Zuschauermagneten; häufig liegt die Sehbeteiligung hier deshalb über der „klassischer“ TV-Debatten.

Über die weiteren Konsequenzen, die sich aus unterschiedlichen Debattenformaten ergeben, ist allerdings nur wenig bekannt. Die wenigen empirischen Ergebnisse aus den USA weisen darauf hin, dass sich Kandidaten in Town-Hall-Meetings zurückhaltender präsentieren: Verbale Angriffe auf den politischen Gegner sind seltener, dafür steigt die Zahl der Aussagen über die eigenen Leistungen und Ziele. Als Ursache hierfür wird die Art der gestellten Fragen gesehen, die sich deutlich von journalistischen Fragen in traditionellen Duell-Formaten unterscheiden. Nachdem Wähler sensitiv auf negative campaigning reagieren, kann sich das Format damit zumindest indirekt auf Zuschauerurteile auswirken. Ob die direkten Effekte von Town-Hall-Formaten auf Wissen, Einstellungen und Verhalten stärker ausfallen als bei klassischen Aufeinandertreffen, ist aber nach wie vor eine ungeklärte Frage. Ein Wechsel zu einem neuen Debattenformat wäre zwar (vor allem für die TV-Sender) interessant und für die Zuschauer sicherlich attraktiv. Angesichts der unklaren Wirkung auf die Wahrnehmungen und Bewertungen der Kandidaten birgt er für die Wahlkämpfer aber ein zusätzliches Risiko. Man darf deshalb gespannt sein, wer sich am Ende der vom SPIEGEL berichteten Verhandlungen durchsetzen wird: Die Medien oder die Wahlkampfstäbe?

 

Das Flügelflattern in der Union und seine Folgen

Wahlprogramme gelten als die Zusammenstellung der programmatischen Vorstellungen einer Partei für die folgende Legislaturperiode. Auf die darin formulierten Politikziele haben sich die Parteiführungsgremien unter Einbeziehung aller relevanten innerparteilichen Gruppen in Form von Kompromissen geeinigt, die dann von einem Parteitag in der Regel problemlos abgesegnet werden.

Die CDU tut sich in der Formulierung ihres Wahlprogramms zur Bundestagswahl 2009, das sie wohl wieder mit der CSU gemeinsam verfassen wird (es gab bislang nur vier Bundestagswahlen, bei denen CDU und CSU mit getrennten Programmen zur Bundestagswahl angetreten sind), überraschend schwer. Dies mag einerseits an den schwachen Umfragewerten für die Partei liegen, der zurzeit ein ähnlich (schlechtes) Ergebnis wie zur letzten Wahl 2005 von um die 35% vorhergesagt wird. Es kann aber auch andererseits mit den Konflikten innerhalb der Christdemokraten zu tun haben, die sich ja bekanntlich nicht über den wirtschafts- und sozialpolitischen Kurs von Kanzlerin Angela Merkel in Form des Einstiegs des Staates bei Banken und Konzernen sowie Schulden in die Höhe treibenden Konjunkturpakten einig sind. Auch in gesellschaftspolitischen Fragen werden alte Gräben innerhalb der Union durch die – aus Sicht des konservativen Parteiflügels – zu liberale Politik wieder aufgerissen: so wird die Familienpolitik von Ministerin Ursula von der Leyen schon lange innerparteilich kritisch beäugt und die Papst-Kritik der Kanzlerin hat den auf traditionelle Werte setzenden Flügel noch weiter in Beunruhigung versetzt.

Wie weit die Vorstellungen innerhalb der CDU auseinanderklaffen macht eine Analyse der Präferenzen der beiden maßgeblichen wirtschafts- und sozialpolitischen innerparteilichen Organisationen der Union – der Christlich-Demokratische Arbeitnehmerschaft (CDA) und der Mittelstandsvereinigung (MIT) – deutlich. Bezieht man ihre zuletzt formulierten grundlegenden Programme – im Fall der MIT sind dies die „Kölner Leitsätze“ von 2003 und ihre Fortschreibung aus dem Jahr 2004, für die CDA werden die „Hannoveraner Leitsätze“ von 2008 herangezogen – in die Analyse der Bundestagswahlprogramme mit ein, dann ergibt sich ein deutlicher Gegensatz in den programmatischen Vorstellungen dieser beiden innerparteilichen Gruppen. Auf einer explizit die wirtschaftspolitischen Vorstellungen widerspiegelnden Achse, die zwischen „mehr staatliche Leistungen bei höheren Steuern“ und „weniger staatlichen Leistungen bei niedrigen Steuern“ unterscheidet, kommt die CDA auf einen Wert von 11,8 und die MIT auf eine Position von 20,3 (höhere Werte geben eine wirtschaftsliberale Position an, während niedrige Werte für einen starken Wohlfahrtsstaat stehen). Zur Einordnung dieser Werte eignen sich Angaben zu den ermittelten wirtschaftspolitischen Positionen der bislang vorliegenden Wahlprogramme von SPD, FDP und der „Linken“ zur Bundestagswahl 2009: der Programmentwurf der Sozialdemokraten erhält eine Position von 7,1, der der Liberalen von 18,0 und der der Linken einen – überraschend moderaten – Wert von 6,1 auf dieser sozioökonomischen Achse.

Diese hohe Divergenz in den wirtschafts- und sozialpolitischen Zielvorstellungen innerhalb der Union macht nicht nur deutlich, warum es zu schwierigen Verhandlungen über die letztendliche Form des Wahlprogramms kommt, sondern auch, dass es bei einem Weiterregieren von Angela Merkel und CDU/CSU nach den September-Wahlen weiterhin Konflikte um den wirtschaftspolitischen Kurs innerhalb der Christdemokraten wie auch der künftigen Koalitionsregierung geben wird. Sollte die Union mit der FDP koalieren, dann würde dies der Mittelstandsvereinigung und damit den wirtschaftsliberalen Flügel in der Union stärken. Die Chancen, einen klaren marktliberalen Kurs in der Wirtschaftspolitik umzusetzen, würden massiv anwachsen, jedoch nicht gerade auf wohlwollende Unterstützung seitens der CDA stoßen. Das Gegenteil wäre der Fall, wenn die große Koalition mit der SPD fortgesetzt werden würde (oder vielmehr: müsste): die CDU-Sozialausschüsse könnten unter Verweis auf die wirtschaftspolitische Position der SPD ihre moderaten ökonomischen Vorstellungen in der Koalitionsregierung besser durchsetzen. Es bleibt somit nicht nur für die Regierungsbildung und die künftige Politikgestaltung der nächsten Bundesregierung spannend, wie die endgültige Version des CDU/CSU-Wahlprogramms aussieht, sondern auch, wie sich die innerparteilichen Gruppen der Union in der künftigen Koalitionsregierung durchsetzen können. Je nach Couleur der nächsten Regierungskoalition wird auf jeden Fall eine der beiden wirtschaftspolitischen innerparteilichen Gruppen Probleme mit dem Kurs des neuen Regierungsbündnisses haben – sei es die CDA in einer bürgerlichen Koalition oder die MIT in einer Neuauflage der großen Koalition.