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Zum Amt des Vizekanzlers

Wenn Guido Westerwelle auftritt, wird er oft als „Vizekanzler“ angekündigt, und manchmal bezeichnet er sich selbst so. Wenn man allerdings in unserer Verfassung nach dem Amt eines Vizekanzlers sucht, wird man nicht fündig. Teil 6 des Grundgesetzes (GG) legt die Rahmenbedingungen fest, unter denen die Bundesregierung gebildet wird, wie lange sie im Amt ist, welche zentrale Rolle ein Bundeskanzler bei all dem spielt und wie man den Bundeskanzler wählt oder wieder loswerden kann. Doch wo ist der Vizekanzler? Er tarnt sich offenbar als „Stellvertreter des Bundeskanzlers“ in Artikel 69 GG. Dort heißt es lapidar (Abs. 1): „Der Bundeskanzler ernennt einen Bundesminister zu seinem Stellvertreter.“ Mehr ist in unserer Verfassung über den vermeintlichen Vizekanzler nicht geregelt.

Aber die Absätze 2 und 3 machen klar, dass es sich bei diesem Stellvertreter kaum um ein eigenständiges Amt handeln kann, denn das Amt eines jeden Bundesministers endet mit der „Erledigung des Amtes des Bundeskanzlers“ (Art. 69 Abs. 2 GG). Der „Vize“, wenn man ihn denn so bezeichnen möchte, wird nicht etwa automatisch Nachfolger eines zurückgetretenen oder gestorbenen Kanzlers, wie dies beispielsweise mit dem Vizepräsidenten der USA der Fall ist. Sollte der Bundeskanzler aus dem Amt geschieden sein und der Bundespräsident ihn nicht ersucht haben, das Amt bis zur Wahl eines Nachfolgers weiter auszuüben, kann entweder der bisherige Kanzler oder der Bundespräsident einen Bundesminister ersuchen, die Geschäfte des Bundeskanzlers kurzzeitig weiterzuführen (Art. 69 Abs. 3 GG). Dass ein solcher Geschäftsführer der ehemalige Stellvertreter sein muss, ist nicht zwingend, auch wenn Walter Scheel als Bundesaußenminister und Stellvertreter im Frühjahr 1974 neun Tage lang die Geschäfte des zurückgetretenen Kanzlers Willy Brandt bis zur Wahl Helmut Schmidts führte.

Im Grundgesetz spielt der Stellvertreter des Bundeskanzlers demnach eine alles in allem vernachlässigbare Rolle. Doch vielleicht verleiht ihm die Geschäftsordnung der Bundesregierung nach Art. 65 Satz 4 ja größere Bedeutung. Dort heißt es in §8 immerhin: „Ist der Bundeskanzler an der Wahrnehmung der Geschäfte allgemein verhindert, so vertritt ihn der gemäß Artikel 69 des Grundgesetzes zu seinem Stellvertreter ernannte Bundesminister in seinem gesamten Geschäftsbereich. Im übrigen kann der Bundeskanzler den Umfang seiner Vertretung näher bestimmen.“ Demnach schlüpft der Stellvertreter nur dann in die Rolle des Kanzlers, wenn dieser „allgemein verhindert“ ist. Das kann schon einmal vorkommen, auch wenn der Kanzler bestimmen kann, inwieweit der Stellvertreter tatsächlich den Regierungschef „geben“ kann.

Guido Westerwelle, soviel ist klar, genießt die Rolle des Vertretungskanzlers und hat ihre Ausübung am 4. August 2010 sogar mit einer Pressekonferenz zu zweitrangigen Themen medial inszeniert. Das ist genauso neu wie die ständige Verwendung des Titels „Vizekanzler“ in und durch die Medien. Die bisherigen Stellvertreter eines Bundeskanzlers haben um ihre Vertretungsfunktion wenig Aufhebens gemacht, egal ob sie der FDP, der SPD, der CDU oder den Grünen angehörten. Eine Ausnahme mag es mit Jürgen Möllemann gegeben haben, der 1992/93 für immerhin acht Monate Stellvertreter des Bundeskanzlers Helmut Kohl war und mit dieser Tatsache ebenfalls nicht hinterm Berg hielt.

Ob nun Stellvertreter oder Vizekanzler, es handelt sich dabei um nicht mehr oder weniger als eine zusätzliche Funktion eines Bundesministers. Im politischen Alltag spielt die Stellvertreterfunktion selten eine Rolle und wird sich dann auch auf mit dem Kanzler abgestimmte Handlungen wie die Leitung von Kabinettssitzungen beschränken. Und falls der Kanzler endgültig abhanden kommt, wird der Bundestag binnen kurzer Zeit einen ganz neuen wählen. Es gibt also keinen sachlichen Grund, die Rolle des Stellvertreters des Bundeskanzlers immer wieder besonders hervorzuheben oder gar das eigentlich ausgeübte Amt, nämlich das des Bundesministers, das eine notwendige Bedingung für die Rolle des Stellvertreters ist, mit der Bezeichnung „Vizekanzler“ zu ersetzen. Will man sich fußballerischer Analogien bedienen, dann ist Philipp Lahm wahrscheinlich schon jetzt mehr Kapitän der Fußballnationalmannschaft als Guido Westerwelle je Kanzler der Bundesrepublik.

 

Kann man die Verständlichkeit von Politikern objektiv messen?

Die Verständlichkeit deutscher Spitzenpolitiker ist nicht erst seit den berühmten sprachlichen Entgleisungen des einstigen bayrischen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber Anlass für öffentliche und wissenschaftliche Kritik. So berechtigt diese Kritik auf den ersten Blick erscheint: Die Ergebnisse der Verstehens- und Verständlichkeitsforschung belegen, dass die Verständlichkeit von geschriebenen oder gesprochenen Texten stark von den individuellen Verständnisvoraussetzungen des jeweiligen Lesers bzw. Zuhörers bestimmt werden (z.B. Bildung, Vorwissen).
Ansätze für eine Überwindung dieser Problematik bieten die Messinstrumente der Lesbarkeitsforschung, die ursprünglich entwickelt wurden, um die Lesbarkeit von Schulbüchern ökonomisch erfassbar zu machen. Hierfür wurden sogenannte „Lesbarkeitsformeln“ entwickelt, die auf objektiv messbaren Textmerkmalen basieren, für die zudem eine leserübergreifende Relevanz für die Lesbarkeit eines Textes nachgewiesen werden konnte. Hierzu zählen insbesondere die durchschnittliche Wortschwierigkeit und Satzkomplexität.
Die bekannteste und am häufigsten verwendete Lesbarkeitsformel ist der Reading Ease Index von Rudolf Flesch (häufig auch als „Flesch-Formel“ bezeichnet). Sie basiert auf der durchschnittlichen Satzlänge in Wörtern und der durchschnittlichen Wortlänge in Silben und ermittelt Werte von 0 (kaum verständlich) bis 100 (sehr leicht verständlich). Für die englische Sprache wurden seit Ende der 1920er Jahre mehrere hundert solcher Formeln entwickelt, die ab Ende der 1960er Jahre auch als Grundlage für die Entwicklung deutscher Formeln dienten.
Damit zurück zur eigentlichen Fragestellung: Kann man die Verständlichkeit von Politikern anhand dieser Formeln objektiv messen? Eine aktuelle Untersuchung der Universität Hohenheim hat nun erstmals anhand einer experimentellen Untersuchung überprüft, ob Lesbarkeitsformeln dazu geeignet sind, die Verständlichkeitsbewertungen und Verständnistestergebnisse von unterschiedlichen Rezipientengruppen für Politikerreden vorherzusagen. Als Untersuchungsobjekte dienten hierbei Video-Podcasts von Angela Merkel sowie eine Weihnachtsansprache von Horst Köhler.
Das Fazit der Untersuchung: „Zusammenfassend ergeben sich […] eine ganze Reihe von Indizien, die dafür sprechen, dass objektiv messbare Textmerkmale, wie sie von den Formeln erfasst werden, tatsächlich für eine Messung der Politikerverständlichkeit geeignet sind. […] Dass alle Stimuli im Rahmen der vorliegenden Untersuchungen audiovisuell rezipiert wurden, bestätigt die wenigen bislang vorhandenen Belege für solch eine Übertragbarkeit der Prognoseinstrumente der Lesbarkeitsforschung“ (Kercher 2010: 115).
Wie kann man diese beachtliche Prognosekraft eines schlichten Instruments wie der Lesbarkeitsformeln angesichts der Komplexität des Phänomens Verständlichkeit erklären? Aus früheren Untersuchungen lässt sich ableiten, dass die Formeln aufgrund der vielen Interaktionen und Zusammenhänge zwischen unterschiedlichen Textmerkmalen indirekt wesentlich mehr messen, als in den Formeln direkt enthalten ist: „Dies dürfte das eigentliche Geheimnis für den Erfolg der Lesbarkeitsformeln sein“ (Best 2006: 28).

Quellenverweise:

  1. Best, Karl-Heinz (2006): Sind Wort- und Satzlänge brauchbare Kriterien zur Bestimmung der Lesbarkeit von Texten?. In: Wichter, Sigurd / Busch, Albert (Hrsg.): Wissenstransfer – Erfolgskontrolle und Rückmeldungen aus der Praxis. Frankfurt a.M.: Peter Lang, S. 21-31.
  2. Kercher, Jan (2010): Zur Messung der Verständlichkeit deutscher Spitzenpolitiker anhand quantitativer Textmerkmale. In: Faas, Thorsten / Arzheimer, Kai / Roßteutscher, Sigrid (Hrsg.): Information – Wahrnehmung – Emotion: Politische Psychologie in der Wahl- und Einstellungsforschung. Wiesbaden: VS Verlag, S. 97-121.
 

A Belgian Tsunami. Causes and consequences of a remarkable election result

Gastbeitrag von Steven Lauwers / guest article by Steven Lauwers

A few years ago, the Walloon public broadcaster aired a breaking news item, on the occasion of the 1st of April, announcing Flanders had declared its independence. The reactions to this fictional news item varied greatly: while some viewers were outraged, others were panicking and internationally, not all media outlets understood the joke. Since 2007, when international media were covering the elections and the subsequent struggle to form a government and get out of the political padlock, the end of this tiny country has been the focus in many discussions. Belgium seemed unable to resolve its disputes and lost a lot of international confidence. To make things worse, the Flemish Liberal Party (Open VLD), after months of unsuccessful negotiations, stepped out of the federal government, causing its fall early this year. At exactly the moment that Belgium became president of the European Union and needs to help Europe find a solution for the deep economic crisis it is facing, the country is struggling, yet again, to assemble its own government. And with the surprising victory of the NVA, the New Flemish Alliance, could this be the end of Belgium as we know it?

Belgium is divided into linguistic areas. If we exclude the German-speaking area for a moment, we can say that the North (Flanders) is unilingual Dutch, the South (Wallonia) unilingual French and the capital, Brussels, bilingual. The country consists of 10 provinces, which also form the constituencies, with one exception: Flemish-Brabant. This province, part of the Flemish linguistic area, has been split into two constituencies, Leuven and Brussels-Halle-Vilvoorde (B-H-V). B-H-V consists of the capital Brussels and its agglomeration, grouped under the name Halle-Vilvoorde (H-V). As Brussels is bilingual, many of the inhabitants in the surrounding H-V area speak French. Francophones in both Brussels and H-V are allowed to vote for Francophone parties from Wallonia and Brussels, despite the fact that H-V is unilingual Dutch. The other way around is impossible: Flemish parties that stand for election in B-H-V cannot get votes across the linguistic border for their list. In the fifties, Wallonia was renown for its thriving mining and steel industry. As this industry did not modernize its infrastructure adequately, it lost its ability to compete at an international level, while Flanders’ industry was rising around the same time. During the last decennia unemployment and subsequently poverty in Wallonia have grown steadily and many Walloons have to be supported by social security, provided by the federal government of Belgium. The money for this is mainly provided by the Flemish industry and Flanders’ taxpayers. The Flemish part of the country is growing tired of this one-way sponsorship, while Wallonia does not seem to want to change the current situation: it is neither able to provide the social security its inhabitants need, with unemployment rates twice as high as the national average, nor to improve their weak economy.

Belgium has been struggling for years to find an agreement on these issues, which is a prerequisite for many parties to even start talking about other issues. These problems can only be resolved by changing the constitution, which requires a two thirds majority in the Senate and the Chamber of Representatives; this majority also only counts if it consists of a majority in both linguistic communities. The search for an agreement on these topics has paralyzed Belgian politics and put governing the nation on hold, exacerbating problems such as the growing national economic deficit. Earlier this year, the Flemish Liberal party decided to step out of the coalition, causing the government to fall and new elections to be held earlier than anticipated. This action added to the voters’ frustration about the political mess.

Combining all these elements, one should have noticed the signs of the „tsunami“ that was about to hit Belgium. Many Flemish voters sought refuge to the one party that had been criticizing this situation all along: the New Flemish Alliance (NVA). This center-right oriented party, which only held a few seats in the Senate or the Chamber of Representatives until now, won the elections in Flanders with nearly 30% of the votes. In Wallonia, almost 40% of the voters have put their hopes in the the Socialist Party (PS). And still, the outcome of these elections was a wake-up call for everybody. The floodwave changed the political landscape completely and left a lot of casualties behind in every political party including budget cuts and resigning politicians. The two parts of the country have spoken with a clear voice and it is more obvious than ever that Belgian people live in a country with two completely different democracies, two different cultures and two different opinions. The presidents of both parties embody what the different linguistic communities feel the other one stands for: Bart De Wever (president of the NVA) sees nationalism and separatism as the solution to the current chaos and represents a Flemish part that is clearly in search of its identity; Elio Di Rupo (president of the PS) on the other hand embodies the kind of socialism the Flemish voters dislike, the long-term social security and support, which they perceive as the opposite of change and progress.

 

The international media often describes the NVA as a separatist party, with its only goal being Flemish independence. There is no denying that their programme reflects this idea, Bart De Wever claims he does not strive for complete independence at this stage. In the run-up to the elections, he clearly stated that his first priority is to find a solution for the problems that paralyze Belgium and at a later stage consider how Flanders can gain greater independence. Looking for a solution all political players are likely to support is probably the smartest move. He might have won the battle around the elections, but hasn’t won the war yet.

With such a strong political voice in each part of the country, asking for the exact opposite, a solution seems very hard to find. However, both parties seem to realize that a profound change is necessary and that these elections could very well be the last opportunity. The extreme right party as an example lost a tremendous amount of voters to the NVA, a sign that Belgians are not asking for the end of Belgium as a country as we know it, but are giving the politicians a final chance to work it out. As long as Belgians are looking for a compromise, they are still looking for a solution as one country. With one strong voice on each side, a two thirds majority – necessary for the constitutional changes needed to stabilize Belgium – seems much more possible than with a large number of political voices that are in complete disarray.

The parties now face the challenge of finding a compromise. The NVA will have to prove that its main goal is indeed bringing back stability to Belgium and not only striving for Flemish independence. The PS on the other hand will have to show that they want to move forward and have understood that Flanders is asking for change in order to be willing to keep negotiating in the future. There is more at stake than just securing a victory in the next elections.

The Tsunami has left many casualties and changed the political landscape completely. It is too early to say how Belgium will recover, but whatever the outcome of the ongoing negotations will be, it will define the future of Belgium. “Historical” is a word that is used much too often, but there is no other word that better emphasizes the importance of this situation.

 

Warum die Primarschule in Hamburg gescheitert ist

von Andrea Römmele und Henrik Schober

AndreaDer Hamburger Volksentscheid über die Schulreform hat eine eindeutige Siegerin hervorgebracht: die Bürgerinitiative „Wir wollen lernen“. 58 Prozent der Wähler haben der Bürgerinitiative zugestimmt, während der konkurrierende Vorschlag, der immerhin von allen in der Hamburger Bürgerschaft vertretenen Parteien unterstützt wurde, nur 45,5 Prozent Zustimmung verzeichnen konnte.* Somit haben die Bürger entschieden, dass das bisherige System der vierjährigen Grundschule bestehen bleibt und das gemeinsame Lernen nicht auf sechs Jahre ausgedehnt wird.

Volksentscheide sind in Deutschland eine relative neue Form demokratischer Beteiligung und nicht zuletzt deshalb ist die Analyse des Hamburger Ergebnisses bundesweit von Interesse: Warum konnte sich der gemeinsame Vorschlag nicht durchsetzen? Lassen sich aus dem Scheitern dieses Vorzeigeprojektes Erfolgskriterien für Volksentscheide im Allgemeinen ableiten?

Unserer Ansicht nach gibt es zwei Argumente, die den Ausgang der Abstimmung erklären können.

Das Partizipationsargument: Die Wahlbeteiligung lag insgesamt bei 39,3 Prozent, hat sich allerdings zwischen den Stadtteilen stark unterschieden. Während in Nienstedten der Spitzenwert von 60,3 Prozent erreicht wurde, konnten in Billbrook gerade einmal 12,5 Prozent verzeichnet werden. Dabei ist auffällig, dass die Wahlbeteiligung in den sozial schwächeren Stadtteilen eher gering war, während sie in den wohlhabenderen Gegenden überdurchschnittlich hoch ausgefallen ist. Die beiden erwähnten Stadtteile sind dafür exemplarisch: Nienstedten verzeichnet mit 0,5 Prozent die geringste Arbeitslosenquote unter den Stadtteilen, Billbrook mit 15,4 Prozent die höchste.

Dies bestätigt einen gängigen Befund der Partizipationsforschung, nach dem die Wahlbeteiligung in sozial schwächeren Schichten generell niedriger ist als in den wohlhabenderen Schichten. Das Dilemma: Eigentlich sollte die Schulreform gerade für jene sozial Schwachen Vorteile bringen, sie konnten aber nicht mobilisiert werden. Dieser Umstand kam der Bürgerinitiative zu Gute: Ihr Plädoyer für den Erhalt des Gymnasiums hat insbesondere die wohlhabenden und partizipationsbereiten Schichten angesprochen. Der entsprechende Zusammenhang zwischen Wohlstandsniveau, Bildungschancen und politischer Partizipation wurde verschiedentlich nachgewiesen (siehe hierzu ausführlich van Deth 2009). Die Zielgruppe der Bürgerinitiative war also geradezu ideal dafür geeignet, das Regierungsvorhaben durch einen Volksentscheid zu kippen.

Das Kampagnenargument: Neben diesen sozialstrukturellen Argumenten können Aspekte aus dem Bereich der Kampagnenforschung herangezogen werden. Zum einen hat die Bürgerinitiative ihre Kampagne sehr viel früher begonnen als die Regierung. Ein Grund dafür liegt möglicherweise in der Diskussion darüber, ob sich die Bürgerschaft hätte neutral verhalten müssen, wie es von einigen Gegnern der Schulreform gefordert wurde. Zwar haben sich letztlich alle Parteien klar positioniert, allerdings hatte die Kampagne gegen die Schulreform zu diesem Zeitpunkt bereits einen gewaltigen Vorsprung. Dabei ist auch anzumerken, dass sich die Bürgerinitiative eine lange Kampagne leisten konnte. Es können somit zwei Grundregeln moderner Kampagnenführung bestätigt werden (siehe auch Perron und Kriesi 2008): Es lohnt sich, früh anzufangen und viel zu investieren!

Ein weiterer Vorteil der Kampagne gegen die Reform war, dass sie ihre Botschaft sehr viel plastischer und emotionaler darstellen konnte. Mit entsprechender Rückendeckung durch die Boulevardpresse wurde vor dem Qualitätsverlust des Gymnasiums und vor Nachteilen für begabte Kinder gewarnt. Die Wähler konnten so emotionalisiert und damit auch mobilisiert werden. Die Vorteile des längeren gemeinsamen Lernens hingegen, etwa der langfristige sozioökonomische Nutzen oder die Chancen auf bessere Integration, konnten nicht veranschaulicht werden. Ohne eine konkrete Vision ist es aber sehr schwer, die Zielgruppen zu mobilisieren oder gar andere Wähler zu überzeugen.

Aus Sicht der Wissenschaft liefert der Volksentscheid also keine neuen Erkenntnisse, sondern bestätigt die bestehenden Befunde. Die Befürworter der Primarschule konnten weder die bildungsferneren Zielgruppen ausreichend mobilisieren noch in den bildungsnahen Bevölkerungsschichten genügend Unterstützung einwerben. Zudem konnte der Vorsprung der Kampagne „Wir wollen lernen“ nicht mehr aufgeholt werden.

Was bleibt? Es gibt nach wie vor starke Unterschiede in der Partizipationsbereitschaft, die auch und gerade bei der Vorbereitung von Volksentscheiden berücksichtigt werden müssen. Die Kernfrage der Wahlkampfforschung lautet: do campaigns matter – machen Kampagnen einen Unterschied? Unter dem Eindruck des Hamburger Ergebnisses kann festgestellt werden: Wahlkämpfe können auch Volksentscheide maßgeblich beeinflussen, campaigns do matter

* Über die beiden Vorschläge wurde getrennt abgestimmt. Die Vorlage der Bürgerinitiative „Wir wollen lernen“ erhielt 58 Prozent Ja-Stimmen und 42 Prozent Nein-Stimmen, die Vorlage der Bürgerschaft erreichte einen Anteil von 45,5 Prozent Ja-Stimmen bei 54,5 Prozent Nein-Stimmen.

Literaturhinweise:

Van Deth, Jan W.: Politische Partizipation, in: Kaina, Viktoria/Römmele, Andrea (Hg.): Politische Soziologie. Ein Studienbuch. Wiesbaden, 2009.

Perron, Louis/Kriesi, Hanspeter: Neue Trends in der internationalen Wahlkampfberatung, in: Zeitschrift für Politikberatung 1(1), 2008.

 

Das rot-grüne Koalitionsabkommen in NRW: wirklich ein Angebot nur an die Linke?

Die Bildung der rot-grünen Minderheitsregierung in Nordrhein-Westfalen hat in den letzten Tagen die Debatte entfacht, ob solche Bündnisse künftige Optionen für die Bundesebene darstellen. Die Diskussion darüber basiert auch auf der Beobachtung, dass Minderheitsregierungen im internationalen Vergleich durchaus erfolgreiche Modelle darstellen, die in ihrer Stabilität solchen Koalitionsregierungen, die sich auf eine Mehrheit im Parlament stützen können, in nichts nach stehen. Auch die Minderheitsregierungen, die bereits auf Ebene der deutschen Bundesländer wie etwa in Sachsen-Anhalt von 1994 bis 2002 bestanden, wurden nicht vorzeitig durch Koalitionen abgelöst, die über eine Mehrheit im entsprechenden Landtag verfügt hätten.

Minderheitsregierungen benötigen aber nichtsdestotrotz die Unterstützung von Abgeordneten der Opposition, so dass die inhaltlichen Vorschläge der Regierung von einer Mehrheit im Parlament verabschiedet werden können. Um dieses Ziel zu erlangen kann eine Minderheitsregierung sich entweder von Gesetzesinitiative zu Gesetzesinitiative wechselnde Partner im Parlament suchen, die das jeweilige Vorhaben unterstützen. Oder die entsprechende Minderheitsregierung konzentriert sich auf eine bestimmte Oppositionspartei und vereinbart eine fixe Unterstützung für die gesamte Legislaturperiode.

Die neu gewählte nordrhein-westfälische Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD) scheint die erstgenannte Strategie vorzuziehen und nicht nur auf die Stimmen der Linken, sondern auch auf partielle Unterstützung von CDU und FDP im Landtag von NRW zu setzen. Ist diese Hoffnung von Frau Kraft begründet? Eine Möglichkeit, diese Frage zu beantworten, liegt in der Analyse der im Koalitionsabkommen von Rot-Grün festgelegten inhaltlichen Ziele, die in der kommenden Legislaturperiode umgesetzt werden sollen. Mit Hilfe inhaltsanalytischer Verfahren lassen sich die Positionen der Parteien in Nordrhein-Westfalen auf Grundlage der Wahlprogramme sowie der Landesregierung auf Basis des Koalitionsabkommens für die Politikbereiche Wirtschaft und Soziales einerseits sowie Gesellschaft andererseits bestimmen. Die folgende Abbildung zeigt die Positionen der nordrhein-westfälischen Parteien zur Wahl 2010 sowie der Landesregierungen 2005 und 2010 (die Balken um die ermittelten Positionen geben den statistischen Schwankungsbereich an).

Es wird zum einen deutlich, dass sich – wie erwartet – die in den Koalitionsabkommen von Schwarz-Gelb und Rot-Grün formulierten Politikziele deutlich unterscheiden: so umfasste das Koalitionsabkommen von CDU und FDP aus dem Jahr 2005 wirtschaftsliberalere und gesellschaftspolitisch konservativere Positionen als das Regierungsprogramm von SPD und Bündnisgrünen vom Juli 2010. Dieser von Rot-Grün beabsichtigte Politikwandel in Richtung einer stärker auf sozialen Ausgleich setzenden Wirtschaftspolitik sowie einer progressiveren Gesellschaftspolitik – sichtbar etwa an den schulpolitischen Vorhaben der Regierung Kraft/Löhrmann – sollte der Fraktion der Linken deutlich lieber sein als die vom Kabinett Rüttgers/Pinkwart betriebenen Politik.

Dennoch ist die Distanz zwischen der ermittelten Position des Wahlprogramms der Linken und dem rot-grünen Koalitionsabkommen nicht unbeträchtlich. Dies gilt insbesondere für wirtschafts- und sozialpolitische Fragen. Vielmehr kann die rot-grüne Regierung in NRW auf die Unterstützung der CDU im letztgenannten Politikbereich hoffen, da sich das Wahlprogramm der Christdemokraten kaum von der wirtschaftspolitischen Position des Koalitionsabkommens unterscheidet. In gesellschaftspolitischen Fragen könnte Rot-Grün auf die Unterstützung der FDP hoffen, da es hier deutliche Schnittmengen zwischen Liberalen und dem Programm der neuen Landesregierung gibt. Sollten sich also CDU und FDP von Inhalten und weniger von Parteipolitik in ihrem Verhalten im Landtag leiten lassen, dann kann die Regierung Kraft/Löhrmann in der Tat darauf hoffen, von Fall zu Fall Mehrheiten für Gesetzesvorlagen zustande zu bekommen. Dabei wäre nicht unbedingt die Linke die Fraktion, auf die Rot-Grün Rücksicht nehmen sollte, sondern vielmehr Christ- und Freidemokraten aufgrund der – sich nach Politikfeld unterscheidenden – vorhandenen inhaltlichen Schnittmengen. Von daher gibt es große Chancen, dass die rot-grüne Minderheitsregierung die komplette Legislaturperiode überdauert, wenn Frau Kraft geschickt agiert und alle Oppositionsfraktionen in den Prozess der Politikgestaltung mit einbezieht.

 

Das Kopf-an-Kopf-Rennen, das nie eines war

Als die Massenmedien den Volksentscheid in Bayern wenige Tage vor der Abstimmung für sich entdeckten, fehlte in kaum einem Bericht der Hinweis darauf, dass die Ja- und die Nein-Seite Kopf an Kopf lägen. Womöglich haben diese Berichte die beiden Kampagnenseiten zusätzlich angestachelt, womöglich auch die Beteiligung am 4. Juli ein wenig gesteigert. Ob solche Wirkungen aufgetreten sind, wissen wir (noch) nicht. Bemerkenswert sind die Berichte in jedem Fall, und zwar aus zwei Gründen.
Als Grundlage für die Kopf-an-Kopf-Diagnose diente eine Telefonumfrage, die TNS Infratest im Auftrag von „Bayern sagt Nein!“ durchgeführt hatte, und zwar in der Zeit vom 8. bis zum 23. Juni. Merkwürdigerweise wurden Ergebnisse dieser Mitte Juni geführten Interviews noch Anfang Juli als aktueller Stand dargestellt. Dies legt den Eindruck nahe, dass die geradezu gebetsmühlenhaften Hinweise, dass es sich bei Umfrageergebnissen um Momentaufnahmen handele, in der öffentlichen Kommunikation weitgehend ungehört verhallen.
Es kommt hinzu, dass die Kopf-an-Kopf-Diagnose die Realität offenbar nicht zutreffend beschrieb. Diese Einsicht verdanken wir einem – unkoordinierten – Methodenexperiment. Denn zwischen 8. und 23. Juni fand nicht nur eine Befragung im Auftrag der Nein-Seite statt, sondern auch im Rahmen des Forschungsprojekts zum Volksentscheid an der Universität Bamberg. Beide Erhebungen verwendeten die gleiche Befragungsmethode im gleichen Zeitraum – gelangten aber zu unterschiedlichen Ergebnissen. Wie Tabelle 1 zeigt, zeichnete sich in der Umfrage im Auftrag der Nein-Seite ein Kopf-an-Kopf-Rennen ab. In der Bamberger Untersuchung war dagegen eine deutliche Mehrheit für ein Ja zu erkennen, wie im gesamten Erhebungszeitraum vom 25. Mai bis zum 3. Juli. Ein Kopf-an-Kopf-Rennen gab es demnach nicht – wie auch nicht bei der Abstimmung am 4. Juli.

Tabelle 1: Angaben zum Stimmverhalten am 4. Juli in den beiden Befragungen

  „Bayern sagt Nein!“ Uni Bamberg
Dafür 48 62
Dagegen 49 29
Ungültig 0
Weiß nicht 2 6
Keine Angabe 1 3
N 740 1327

Quelle: „Volksentscheid Bayern – Nichtraucherschutz-Gesetz Juni 2010“ Ergebnisse einer repräsentativen Erhebung und eigene Analysen der Daten aus dem Bamberger Projekt zum Volksentscheid. Aus Vergleichsgründen werden nur Personen betrachtet, die „bestimmt“, „wahrscheinlich“ oder „vielleicht“ am Volksentscheid teilnehmen wollten.

Wie ist dieser Unterschied zu erklären? Der Schlüssel dürfte in den Frageformulierungen liegen. In der Bamberger Untersuchung wurde gefragt: „Beim Volksentscheid am 4. Juli können Sie für oder gegen den Gesetzentwurf ‚Für echten Nichtraucherschutz!‘ stimmen. Wie werden Sie stimmen: für oder gegen den Gesetzentwurf?“ Das Aktionsbündnis der Nein-Seite ließ fragen: „Die Befürworter des Volksentscheids wollen ein komplettes Rauchverbot durchsetzen, die Gegner wollen, dass das geltende Nichtraucherschutzgesetz Bestand hat, dass also auch weiterhin in abgetrennten Räumen oder in Festzelten geraucht werden darf. Wie würden Sie beim Volksentscheid am 4. Juli abstimmen: für den Gesetzentwurf oder dagegen?“ Diese Formulierung bietet den Befragten wesentlich mehr Informationen als das Bamberger Instrument – und vermutlich mehr Informationen, als viele der eher wenig informierten Befragten vor dem Interview besaßen. Zudem scheinen die Hinweise auf das „komplette Rauchverbot“, auf den „Bestand des geltenden Nichtraucherschutzgesetzes“ und auf die Möglichkeit, „weiterhin in abgetrennten Räumen oder in Festzelten“ zu rauchen, manche Befragte zu einem Nein veranlasst zu haben. Im Ergebnis bildete das Interview offenbar die Meinungsbildung einiger Bürger nicht zutreffend ab, so dass die Umfrage einen falschen Eindruck von der Stimmungslage in Bayern vermittelte.
Man könnte versucht sein, dieses Beispiel zum Anlass zu nehmen, die Umfrageforschung und ihre Ergebnisse zu verwerfen. Das hieße jedoch, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Denn Umfragen können wichtige Erkenntnisse über die Gesellschaft an den Tag bringen, wenn sie sorgfältig und sachkundig konzipiert, durchgeführt und interpretiert werden – und dabei kann es gelegentlich auf vermeintlich vernachlässigbare Details ankommen.

 

Ein klares Ja für strikteren Nichtraucherschutz in Bayern – eine erste Analyse

Am Sonntag waren Bayerns Bürger aufgerufen, in einem Volksentscheid über den Nichtraucherschutz abzustimmen. Das Ergebnis fiel deutlich aus. Über 60 Prozent der Stimmen wurden für die Ja-Seite abgegeben, knapp 40 Prozent für die Nein-Seite. Solch klare Kräfteverhältnisse zeichneten sich bereits seit Ende Mai, als die Befragung der Universität Bamberg zum Volksentscheid begann. Die Kampagnen der Ja- und der Nein-Seite konnten an dieser Kräfteverteilung in der Zwischenzeit wenig ändern.

Das Thema Nichtraucherschutz, obgleich als emotional geltend, scheint bei vielen Bürgern nicht gezündet zu haben. Ablesen lässt sich das etwa daran, dass bis in die vergangene Woche hinein weniger als zehn Prozent der Befragten wussten, dass Sebastian Frankenberger, der führende Kopf der Ja-Seite, für den Gesetzesentwurf „Für echten Nichtraucherschutz!“ eintritt. Kaum besser war es um das Wissen der Bayern über die Position des „Aktionsbündnis Freiheit und Toleranz“ bestellt. Ein Wahlkampf, der viele Stimmberechtigte nicht erreicht, geschweige denn fesselt, kann kaum große Verschiebungen auslösen.
Insbesondere konnte die „Bayern sagt nein“-Kampagne nicht das Ziel erreichen, im Laufe des Wahlkampfes immer mehr Nichtraucher auf ihre Seite zu ziehen. Sie machen etwa 70 Prozent der bayerischen Bevölkerung aus, während rund 30 Prozent der Bürger zu den Rauchern zählen. Der Nein-Kampagne gelang es, im Laufe der Zeit die Bereitschaft der Raucher zu steigern, am 4. Juli mit Nein zu votieren. Das konnte allerdings nur ein Teil einer erfolgreichen Strategie sein. Darüber hinaus hätte die Nein-Seite auch immer mehr Nichtraucher für sich gewinnen müssen. Aber das gelang ihr nicht. Eher stieg der Anteil der Nichtraucher, die sich für ein Ja entscheiden wollten. Strategisch geschickt hatte sich die Nein-Seite als ein „Aktionsbündnis Freiheit und Toleranz“ organisiert, suchte sich also zum Anwalt nicht nur der Raucher, sondern des bayerischen „Leben und leben lassen“ zu machen. Allerdings vermochte sie diesen Anspruch kaum einzulösen, wie die Analyse des Stimmverhaltens zeigt.

Die Klarheit des Ergebnisses und die Schwierigkeiten, auch einen beträchtlichen Teil der Nichtraucher gegen einen strikten Nichtraucherschutz zu mobilisieren, sprechen dagegen, dass wir in Bayern bald ein Volksbegehren gegen den strikten Nichtraucherschutz erleben werden. Allerdings könnte das bayerische Vorbild andernorts Schule machen. Auch in anderen Bundesländern könnten Bürger versuchen, auf dem Wege der Volksgesetzgebung striktere Regeln für den Nichtraucherschutz durchzusetzen. Der bayerische Volksentscheid könnte somit ein Kapitel in einer längeren Geschichte zu direktdemokratischen Verfahren und dem Nichtraucherschutz in Deutschland bilden.

 

Regierung wankt, Opposition zerfällt – die Bundespräsidentenwahl im Lichte der Tagespolitik

AndreaDer lange Wahltag hat uns nicht nur einen neuen Bundespräsidenten beschert, sondern erwartungsgemäß auch Einblicke ins Innenleben der Bundesregierung gewährt. Insbesondere die beiden politisch-strategischen Großbaustellen der Regierung wurden sichtbar, die Inhalte und das Personal. Da trifft es sich für die Kanzlerin gut, dass auch die Opposition eine große Chance vertan hat. Dennoch muss sie die sich stellenden Probleme aktiv angehen:

Das Inhaltsproblem: Die schwarz-gelbe Regierung hat derzeit kein inhaltliches Projekt, auf das sie gemeinsam und mit aller Kraft hinarbeiten könnte. Eine solche Vision hätte auch die Gauck-Unterstützer in Union und FDP davon überzeugen können, der Regierung durch die Wahl von Christian Wulff im ersten Wahlgang neue Stärke zu verleihen. Die Wahl des Bundespräsidenten wäre dann einer klaren inhaltlichen Pfadabhängigkeit gefolgt und der neue Präsident hätte daraus einen Anschub und eine Inspiration für seine Amtszeit gewinnen können. So aber scheint es, dass sich einige Wahlfrauen und -männer eher von ihrer Unzufriedenheit mit der Regierung als von der Hoffnung auf einen politischen Aufschwung haben leiten lassen.

Wenn aber die große inhaltliche Vision fehlt und einzig die Machtperspektive als Koalitionskitt wirkt, wird sich die Arbeit der Koalition auch weiterhin an Detailfragen aufhalten und die dringed nötigen großen Würfe nicht leisten können. Solange die Verbindung zwischen Schwarz und Gelb eine reine Vernunftsehe ist, liegt das Augenmerk aller auf schnellem, konkretem Zugewinn in einzelnen Sachfragen. Wenn dieser Zugewinn aber ausbleibt, kommt es über kurz oder lang zur Scheidung. Ein umfassendes Credo, das aus Schwarz-Gelb ein echtes Projekt macht, ist somit nötiger denn je.

Das Personalproblem: Christian Wulff ist ein ausnehmend junger Bundespräsident. Dies kann sich gesellschaftspolitisch sehr positiv auswirken, aus Sicht der Regierung jedoch wirft dieser Umstand Fragen auf: Ist es klug, im politischen Alltagsgeschäft auf einen solchen erfolgreichen Politiker zu verzichten? Und könnte sich der Schritt, diesen Kandidaten zu nominieren, als Bumerang entpuppen, der die dünne Personaldecke offen legt? Angela Merkel hätte die Bundespräsidentenwahl zum Anlass nehmen können, ihre Regierung umzubilden. Man kann nur darüber spekulieren, ob sie dies bewusst nicht getan hat oder schlichtweg keine personellen Alternativen gesehen hat. Ein ernstzunehmender inhaltlicher Neustart wird jedenfalls ohne die dazu passenden Personen nicht funktionieren.

Und was wird eigentlich ein Ex-Bundespräsident Christian Wulff eigentlich seiner Amtszeit machen? Er wäre dann 56 respektive 61 Jahre alt; andere wollten in diesem Alter Kanzler werden… Niemand unterstellt ihm derartige Ambitionen, es ist allerdings auch nicht damit zu rechnen, dass er sich nach Ablauf seiner Amtszeit in den Vorruhestand begibt. Wenn er seine Karriere fortsetzen würde, müsste er sich fragen lassen, ob er sein jetziges Amt wirklich vollkommen überparteilich und ohne jegliches Karrierekalkül ausführen kann. Auch Angela Merkel wird ihm diese Frage beizeiten stellen…

Bei alledem kann aus Sicht von Schwarz-Gelb zumindest das Verhalten der Linken beruhigend wirken. Sie haben die Chance vertan, durch eine Unterstützung von Joachim Gauck einen Teil ihrer Geschichte aufzuarbeiten und zugleich ein koalitionspolitisches Signal zu setzen, das SPD und Grüne nicht hätten übersehen können. So aber scheint diese Option wieder einmal vom Tisch zu sein. Das Spektrum möglicher Koalitionen nach der nächsten Bundestagswahl hat sich verkleinert und ohne eine koalitionsfähige Linke wandert die politische Mitte wieder ein Stück nach rechts. Angela Merkel mag große und schwierige Aufgaben vor sich haben – ihre Chancen, noch einmal Kanzlerin in einer großen Koalition zu werden, sind aber am gestrigen Tag gestiegen…

 

Bayerns Volksentscheid über den Nichtraucherschutz: erreicht und informiert die Kampagne die Bürger?

Am kommenden Sonntag, dem 4. Juli, ist es soweit: Bayerns Bürger werden in einem Volksentscheid über den Nichtraucherschutz abstimmen. Damit werden sie dem langwierigen und für einige politische Akteure schmerzhaften Ringen um den Nichtraucherschutz im weiß-blauen Freistaat ein (vorläufiges) Ende setzen. Gerade in Zeiten verbreiteter Kritik an Parteien und Politikern mögen Volksentscheide als Patentrezept erscheinen, um solche Fragen verbindlich zu entscheiden. Gleichwohl wenden Skeptiker ein, viele Bürger seien zu wenig interessiert und zu schlecht informiert, als dass sie verantwortungsvolle Entscheidungen treffen könnten. Befürworter direktdemokratischer Verfahren führen dagegen ins Feld, auch Politiker träfen nicht immer wohlinformierte Entscheidungen – und die Kampagne vor Volksentscheiden böte so viele Informationen, dass Bürger in die Lage versetzt würden, wohlinformiert zu entscheiden.
Lässt sich eine solche Entwicklung beim Volksentscheid über den Nichtraucherschutz in Bayern erkennen? Daten aus einer telefonischen Befragung, die seit dem 25. Mai läuft, deuten darauf hin, dass die Kampagne bis etwa zwei Wochen vor dem Abstimmungstag die Bürger selektiv erreicht hat. Gaben Ende Mai rund zehn Prozent der Befragten an, in verschiedenen Medien Werbung zum Volksentscheid gesehen zu haben, so waren es zwei Wochen vor der Abstimmung rund doppelt so viele. Der Anteil derjenigen, die Flugblätter oder ähnliches Material gelesen haben, stieg von rund fünf auf etwa zehn Prozent. Plakate der Pro- und Contra-Seite hatte zwei Wochen vor der Abstimmung gut ein Drittel der Befragten gesehen. Die Kampagne entwickelt sich also durchaus dynamisch, hat aber beileibe noch nicht alle Bürger erreicht.
Dieses Ergebnis findet seine Entsprechung in der Informiertheit der Bürger. Ende Mai hielt sich jeder fünfte Befragte für (sehr) gut informiert über den Volksentscheid, rund zwei Wochen vor der Abstimmung war es jeder dritte. Gleichzeitig hat das Wissen über den Volksentscheid selektiv zugenommen. Hatte anfangs nur jeder zehnte Befragte gewusst, wann der Volksentscheid stattfinden wird, kannte zwei Wochen vor der Abstimmung jeder zweite den Termin. Der Anteil derjenigen, die wissen, dass Stimmenthaltung nicht als Neinstimme wirkt, stieg von knapp einem Viertel auf rund ein Drittel. In Bezug auf Inhalte des Gesetzentwurfes lassen die Umfrageergebnisse hingegen keine Hinweise auf Lernen der Stimmberechtigten erkennen.
Damit ergibt sich eine ambivalente Bilanz. Die Aktivitäten der Befürworter und Gegner des Gesetzentwurfes „Für echten Nichtraucherschutz!“ haben bisher durchaus Aufmerksamkeit erregt, aber gewiss keinen durchschlagenden Erfolg erzielt. Es bleibt abzuwarten, wie sich die Kampagne und ihre Resonanz auf der Zielgeraden entwickeln werden. Einfach wird es für den Volksentscheid nicht werden, da die Fußballweltmeisterschaft und die Wahl des Bundespräsidenten mit ihm um die öffentliche Aufmerksamkeit konkurrieren und sich die CSU aus dem Volksentscheid weitgehend heraushält. Umso interessanter wird es sein zu beobachten, was sich die Wahlkämpfer mit ihren begrenzten Ressourcen bis zum 4. Juli einfallen lassen werden, um Stimmberechtigte zu mobilisieren und auf ihre Seite zu ziehen.

 

Patchwork-Koalitionen – ein Zukunftsmodell "made in NRW"?

von Andrea Römmele und Henrik Schober

Andrea„Entdecke die Möglichkeiten“ – mit diesem Slogan wirbt eine allseits bekannte schwedische Möbelhauskette für ihre Produkte, die in schier unendlich vielen verschiedenen Kombinationen angeordnet werden können. Dieser Abschied von festgelegten Mustern hat sich mittlerweile in vielen Bereichen des täglichen Lebens niedergeschlagen. Egal ob Essen oder Kleidung, Autos oder eben Möbel: Überall wird munter individuell drauflos kombiniert. Wird es also nicht Zeit, dass sich auch die Politik diesem Trend öffnet?

„Entdecke die Möglichkeiten“ könnte auch zum Credo der Minderheitsregierung um Hannelore Kraft werden. Sie muss wechselnde Partner aus der Opposition für Ihre Vorhaben gewinnen und könnte in dieser auf den ersten Blick äußerst unbequemen Situation schon bald Vorteile erkennen. Denn diese Art des Regierens in wechselnden, themenspezifischen „Patchwork-Koalitionen“ mag in Deutschland ungewöhnlich sein, sie trifft aber den politischen Zeitgeist. Wir sind auf dem Weg zu einem Vielparteiensystem (die Linke muss nicht die letzte Neugründung bleiben) und die altbekannten Lager brechen zusehends auf. So gilt mehr denn je die Forderung, dass alle demokratischen Parteien in der Lage sein müssen, miteinander zu kooperieren – und zwar auch und gerade außerhalb formeller Koalitionsvereinbarungen.

Ist die Minderheitsregierung also ein Zukunftsmodell? Die spezifischen Anforderungen, die das Regieren aus einer Minderheitsposition mit sich bringt, geben zumindest Anlass für Optimismus:

• Die führenden Politiker sind darauf angewiesen, integrativ und überparteilich zu wirken. Der zentrale Mechanismus des Regierens kann nicht pure, an den Parteiinteressen ausgerichtete Machtausübung sein, sondern muss argumentatives Überzeugen im Sinne aller Beteiligten beinhalten.

• Für die Bürger kommt hinzu, dass die Öffentlichkeit an Bedeutung gewinnt. Gerade bei kontroversen Themen kann die Unterstützung durch die Medien und die Bevölkerung ein wichtiger strategischer Faktor sein. Die Parteien müssen die Bürger somit für konkrete Projekte gewinnen und können sich nicht darauf beschränken, sie alle fünf Jahre um ihre Stimmen zu bitten.

Für NRW hat die Entscheidung für eine Minderheitsregierung zunächst einen ganz konkreten positiven Effekt: Neuwahlen bleiben uns vorerst erspart. Wenn man das allgegenwärtige Wort vom „Wählerwillen“ ernst nimmt, ist nicht zu bestreiten, dass dies tatsächlich nicht im Sinne derer wäre, die im Mai ihre Stimme abgegeben haben.

Dennoch ist natürlich auch Kritik berechtigt: Niemand weiß, ob Rot-Grün in NRW die Hoffnungen, die hier generell an das Modell Minderheitsregierung geknüpft werden, erfüllen wird – ebenso gut kann eine Phase unerträglicher taktischer Spielchen auf uns zukommen. Und natürlich hat sich Hannelore Kraft durch ihren abrupten Umschwung gewissermaßen selbst überholt und steht nun unter Erklärungsdruck. All das ist aber Teil eines Lernprozesses, den die deutsche Politik durchlaufen muss. Denn mittelfristig gibt es nur eine Alternative zu immer größeren Koalitionen unter Beteiligung von immer mehr Parteien, die sich gegenseitig blockieren: eine an Inhalten orientierte Minderheitsregierung. In Schweden hat man diese Möglichkeit übrigens schon längst entdeckt…