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Quo vadis NRW?

Die Ampel blinkt offenbar nicht mehr. Sind nun Neuwahlen unausweichlich? Ich sehe fünf weitere Optionen in NRW.

1) Rot-Grün. Rot-Grün? Ja, Rot-Grün. Eine Stimme braucht Rot-Grün, um eine Mehrheit im Parlament zu haben. Also muss die SPD an einem möglichen Überläufer der Linken zur SPD arbeiten, um sich eine Mehrheit im Landtag zu sichern. Solch ein parlamentarischer Überläufer würde wohl am ehesten aus dem gewerkschaftlichen Lager der Linken kommen und müsste wohl auch zukünftig mit einem sicheren Landtagsmandat versorgt werden.

2) CDU-FDP Minderheitsregierung: Die NRW-Landesverfassung stellt klar, dass bis zur Amtsübernahme der Nachfolgerregierung die bisherige CDU-FDP-Landesregierung geschäftsführend im Amt bleibt (Art. 61 Abs. 2). Hessische Verhältnisse also. Ohne SPD-Unterstützung kann kein CDU-Parlamentarier zum Ministerpräsidenten gewählt werden. So könnte Rüttgers höchstens für den Moment durchschnaufen und auf bessere Stimmung nach der Fußballweltmeisterschaft und dem Sommerurlaub hoffen, um bei möglichen Neuwahlen im Herbst bessere Chancen zu haben.

3) Rot-Grüne Minderheitsregierung: Hannelore Kraft hätte, solange die SPD nicht doch noch einen CDU Kandidaten unterstützt, zumindest in einer Stichwahl (Art. 52 Abs. 2) die größten Chancen zur Ministerpräsidentin gewählt zu werden. Über Minderheitsregierungen habe ich bereits hier gebloggt. Obwohl auf den ersten Blick stabile Verhältnisse anders aussehen, würde eine Rot-Grüne Minderheitsregierung sicherlich effizienter regieren können als eine CDU-FDP-Minderheitsregierung. Denn die Wahrscheinlichkeit, Gesetzesvorlagen mit Hilfe der Linken durchs Parlament zu bringen, ist höher als die, dass Vorlagen einer geschäftsführenden CDU-FDP-Landesregierung eine Mehrheit erhalten. Diese Option ist sicher nicht nur „rein theoretisch“ möglich.

4) Große Koalition unter SPD-Führung. Es steht nirgendwo geschrieben, daß die größte Partei den Ministerpräsidenten stellen muss? Darauf hatte ich auch schon vor den ersten Sondierungsgesprächen von CDU und SPD in einem anderen Blog-Beitrag hingewiesen.

5) Große Koalition unter CDU-Führung: Diese Option schien ja bereits vom Tisch. Gemäß der NRW-Landesverfassung (Art. 52 Abs. 1) kann nur ein Mitglied des Landtags zum Ministerpräsidenten gewählt werden. Statt Rüttgers wären daher als Kompromisskandidaten Landespolitiker wie Krautscheid, Laschet oder Laumann denkbar, aber eben keine Bundespolitiker (wie etwa NRW CDU-Granden Pofalla, Röttgen oder gar Lammert).

Habe ich etwas vergessen? Hat jemand ein Vorhersagemodell bzw. kann man die Bräuninger-Debus-Modelle kalibrieren? Spannende Tage – nicht nur wegen der WM…

 

Verschärft das Sparpaket die Energiearmut?

StruenckNoch ist nichts vom Bundestag beschlossen, noch sind die Details der Sparvorschläge gut getarnt. Dennoch wird es die Bezieher von Arbeitslosengeld II besonders treffen, so viel ist klar. Einer der Vorschläge richtet sich auf Heizkostenzuschüsse, die von Bund und Ländern gemeinsam finanziert werden. Die Bundesregierung will ihren Anteil nun ganz streichen. Doch das Problem würde damit nur in die Länder und Kommunen verschoben. Denn die Heizkostenzuschüsse für Langzeitarbeitslose wurden eingeführt, um die überproportional hohen Energiekosten armer Haushalte zu reduzieren. Nach Berechnungen der Verbraucherzentrale NRW müssen rund 20 Prozent der Bevölkerung mehr als 13 Prozent ihres Einkommens für Strom und Heizung ausgeben. Darunter fallen nicht nur die Bezieher von Arbeitslosengeld II. International spricht man vom Phänomen der „Energiearmut“, das hierzulande nur in Expertenkreisen diskutiert wird. In Großbritannien und anderen europäischen Ländern hingegen gibt es politische Programme, die sich diesem Problem widmen. Die Europäische Union hat ihre Mitgliedsstaaten aufgefordert, Lösungen zu entwickeln. In Deutschland verhallt der Aufruf bislang.

Können Haushalte ihre Rechnungen für Energie nicht bezahlen, wird ihnen häufig von den Energieversorgern der Strom gesperrt. Mit dieser Lösung sind allerdings auch die Unternehmen nicht glücklich, denn das Forderungsmanagement ist aufwändig und kostenintensiv. Bei den betroffenen Menschen wiederum häufen sich Schulden an. Oder die Wohnungen werden nicht richtig geheizt, was die Gesundheit der Menschen gefährdet und auch den Wohnungsbesitzern schadet. Heizkostenzuschüsse sind kein Allheilmittel gegen diese Entwicklung. Doch gut gedämmte Wohnungen stehen gerade armen Haushalten häufig nicht zur Verfügung. Solange in Deutschland keine breiten Strategien entwickelt werden, können Heizkostenzuschüsse die Situation bei Langzeitarbeitslosen vorübergehend lindern und Verschuldungsspiralen stoppen. Das Vorhaben der Bundesregierung zeigt: Die Herausforderung der Energiearmut wird ignoriert. Das ist kein gutes Zeichen für eine intelligente, nachhaltige Sozialpolitik.

 

Ampel alternativlos? Zum Machtpoker in NRW

Die Ampel-Koalitionäre sondieren. Am Donnerstag geht es in die nächste Runde. Überraschend ist nach den Koalitionssignalen im NRW-Wahlkampf ja bereits, dass sich die FDP überhaupt mit Rot-Grün an einen Tisch setzt. Wurde doch eine Zusammenarbeit mit den Grünen im Wahlkampf ausgeschlossen.

Strategisch etwas unklug feuerte nun der Fraktionsvorsitzende der Linken im Düsseldorfer Landtag, Wolfgang Zimmermann, am Montag die Diskussion über den nächsten möglichen Schritt im NRW-Machtpoker an – die Tolerierung einer möglichen rot-grünen Minderheitsregierung unter einer möglichen Ministerpräsidentin Hannelore Kraft. Für die Linken ist das unklug, weil es den Beteiligten an den Ampel-Sondiergesprächen eine weitere Machtoption für Rot-Grün vorführt und so gerade für die FDP-Unterhändler zusätzliche Argumente liefert, im Zweifel dicke Kröten zu schlucken.

Der FDP könnten harte Konzessionen in den Verhandlungen abgerungen werden, weil SPD und Grüne jederzeit nun auch glaubhaft drohen könnten, erforderliche Mehrheiten im Parlament für Initiativen einer möglichen rot-grünen Minderheitenregierung mithilfe einzelner Abgeordneter der Fraktion der Linken zu sichern. Es wird ja immer nur eine weitere Stimme für das rot-grüne Lager gebraucht, um eine Mehrheit im Parlament zu sichern. Nach Angaben der linken Fraktionschefin Bärbel Beuermann könnten in der kommenden Legislaturperiode zahlreiche Anträge gemeinsam mit der SPD und den Grünen eingebracht werden.

Was wissen wir eigentlich über Minderheitsregierungen? In Deutschland gehen die Meinungen über Minderheitsregierungen weit auseinander. In den Medien werden Minderheitsregierungen recht negativ beschrieben – ja oft sogar als instabil und ineffizient verteufelt. Die politikwissenschaftliche Sicht, basierend auf Zahlen statt auf Meinungen, ist eine andere. Von Verteufelung keine Spur. Minderheitsregierungen, bei der die Regierung sich von Fall zu Fall neue Mehrheiten schaffen muss, sind insbesondere in skandinavischen Ländern bekannt – aber ganz und gar nicht berüchtigt, wie Kare Strom (1990) in seiner wegweisenden Arbeit zeigt. Eine neuere und umfangreiche Studie (Cheibub et al. 2004) über nationale Regierungen praktisch aller Demokratien weltweit zwischen 1946 und 1999 zeigt zwei Dinge ganz eindeutig. Erstens, der Typ „Minderheitsregierung“ stellt im internationalen Vergleich keine wirkliche Minderheit als Regierungstyp dar. Zweitens regieren Minderheitsregierungen mindestens so erfolgreich und effizient (gemessen an der Anzahl von Gesetzesinitiativen der Regierung, die im Parlament verabschiedet werden) wie „normale“ Koalitionsregierungen, die eine Mehrheit in Parlament besitzen.

Wie denken aber die Bürger in Nordrhein-Westfalen darüber? Aktuelle Zahlen haben wir nicht. Im Sommer 2009 jedoch hat die akademische Wahlstudie zur Bundestagswahl, die German Longitudinal Election Study, ein spezielles Fragemodul zu Koalitionen in ihren umfangreichen Fragekatalog integriert. Dort wurde unter anderem nach einer möglichen Regierung gefragt, wenn es für keines der traditionellen Lager – Schwarz-Gelb bzw. Rot-Grün – zu einer Mehrheit im Parlament reicht. Eine Situation, die wir nun auch in Nordrhein-Westfalen vorfinden:

„Stellen Sie sich nun bitte vor, dass nach der Bundestagswahl die Situation entsteht, dass die einzige Zwei-Parteien-Koalition, die eine Mehrheit hat, die Große Koalition aus CDU/CSU und SPD ist. Welche Regierung würden Sie dann bevorzugen? Die Union – CDU und CSU – zählt als eine Partei.“

Die Antwortvorgaben waren die folgenden:

– Große Koalition mit Mehrheit im Bundestag
– Drei-Parteien-Koalition mit Mehrheit im Bundestag
– Minderheitsregierung ohne Mehrheit im Bundestag

Betrachtet man nur einmal die Befragten aus Nordrhein-Westfalen, so ergibt sich folgendes Bild hinsichtlich der Einstellung zu einer Minderheitsregierung.

Erstaunlich ist nicht, dass sich unter solchen Umständen 57% sich für die Große Koalition aussprechen. Das ist zu erwarten. Nein, erstaunlich finde ich, dass allen Unkenrufen in den Medien zum Trotz immerhin 14% eine Minderheitsregierung in dieser Situation bevorzugen würden. Zudem hat diese Antwortoption als einzige das eindeutig negativ konnotierte Attribut „ohne Mehrheit“ in der Formulierung. Mit etwas Werbung, so vermute ich, würde die Option einer Minderheitsregierung noch populärer in der Bevölkerung werden, so dass sie tatsächlich als Drohpotential genutzt werden kann, um die Ampel letztlich zu ermöglichen. „Schaun mer mal“, wie Kaiser Franz zu sagen pflegt.

Literaturhinweise:

• Jose Antonio Cheibub, Adam Przeworski, und Sebastian Saiegh. 2004. „Government Coalitions and Legislative Success Under Presidentialism and Parliamentarism“ British Journal of Political Science 34, 565–587.

• Kaare Strom. 1990. Minority Governments and Majority Rule. Cambridge: Cambridge University Press.

 

Deutschlands oberste Tigerente, oder: Zur (Aus-)Wahl des Bundespräsidenten

AndreaChristian Wulff wird – aller Voraussicht nach – der zehnte Bundespräsident Deutschlands. Das scheint eine gute Wahl zu sein, der Kandidat ist über die Parteigrenzen hinweg beliebt. Darüber hinaus gilt er als überaus kompetent und seriös, kurzum: Man traut ihm zu, ein guter Präsident zu sein. Und auch parteipolitisch hat er Rückenwind: Als Ministerpräsident in Niedersachen führt er seit sieben Jahren eine erfolgreiches schwarz-gelbes Bündnis, das der angeschlagenen „Tigerenten-Koalition“ (Maybritt Illner) auf Bundesebene als Vorbild dienen kann. Soweit die gute Nachricht.

Die schlechte Nachricht aber ist, dass die Kandidatensuche das eklatante Nachwuchs- und Rekrutierungsproblem der deutschen Politik sehr deutlich gemacht hat. Nach dem kurzen Experiment, mit Horst Köhler einen Kandidaten abseits der Parteipolitik zu wählen, kommt nun wieder ein Parteisoldat zum Zuge. Solche Erfahrung sei wichtig in diesem Amt, heißt es allerorten. Es lässt sich also festhalten, dass auch der Karriereweg des Staatsoberhauptes unweigerlich über die Partei führt.

Warum das problematisch ist, zeigt ein Blick auf den „Ausbildungsgang Berufspolitiker“: In den Parteien lernen angehende Politiker das Handwerkszeug, durch die zu absolvierende „Ochsentour“ entwickeln sie entscheidende Qualitäten wie Durchsetzungskraft und Durchhaltevermögen. Mittlerweile haben über 40% der Parlamentarier keinen anderen Beruf erlernt als den des Politikers. Während man früher nach einer Tätigkeit jenseits der Politik quasi als zweite Karriere in die Politik ging, führt jetzt mehr und mehr der Weg direkt dorthin.

Mediale oder integrative Kompetenzen sind für das Hocharbeiten innerhalb einer Partei nicht erforderlich; für das Amt des Bundespräsidenten sind sie gleichwohl zentral. Er muss die Medien bedienen können und seine Popularität in der Bevölkerung wird zum entscheidenden Maßstab für Erfolg oder Misserfolg. Dafür muss er einen Stil entwickeln, der das beinhaltet, was Max Weber in seinen Ausführungen als Charisma bezeichnet hat. Denn in den Worten Webers qualifiziert sich ein Politiker in erster Linie durch Leidenschaft, Verantwortungsgefühl und Augenmaß. Dies sind allerdings Qualitäten, die man sich nicht in einem Crash-Kurs antrainieren kann und die eine moderne Parteikarriere auch nicht unbedingt fördern.

Christian Wulff hat die persönliche Ausstrahlung und das Charisma, das ein Bundespräsident braucht, um sich Gehör zu verschaffen. Dennoch muss seine Nominierung als vertane Chance gesehen werden. Nicht nur wird somit abermals ein männlicher Kandidat aus einem westdeutschen Bundesland ins Rennen geschickt; es ist insbesondere schade, dass der enge Karrierepfad zum Bundespräsidialamt, der mit der Wahl Horst Köhlers ein Stück weit aufgebrochen wurde, nun wieder zuzementiert wird. Die erste Reaktion von Angela Merkel nach dem Rücktritt Horst Köhlers war viel versprechend: Sie wolle einen Kandidaten suchen, der von allen Parteien getragen werden könne. Die Entscheidung für Wulff ist jedoch eindeutig parteipolitisch motiviert und so wird ihm nun das Image des schwarz-gelben Präsidenten anheften. Damit könnte die Wahl zugleich Signalwirkung für die kommenden Jahre haben: Das Staatsoberhaupt könnte zunehmend parteipolitisch vereinnahmt werden. Dadurch könnte es auch Amtsträgern, die über die nötigen Qualitäten verfügen, zukünftig schwerer fallen, über der Parteipolitik zu stehen.

Literaturhinweise:

Max Weber: Politik als Beruf. München, 1919.

Thomas Leif: Angepasst und ausgebrannt. Die Parteien in der Nachwuchsfalle. Gütersloh, 2009.

Andrea Römmele: Elitenrekrutierung und die Qualität politischer Führung. Zeitschrift für Politik (3), 2004, S.

 

Die Desintegration der CDU, oder: there are no leaders without followers!

AndreaDie Union hat den zweiten Rücktritt innerhalb einer Woche zu verkraften: Nach der Ankündigung des hessischen Ministerpräsidenten und CDU-Vize Roland Koch, sich aus seinen politischen Ämtern zurückzuziehen, ist nun Bundespräsident Horst Köhler von seinem Amt zurückgetreten. Dies wird ohne Zweifel die bisher härteste Probe für Angela Merkel, die nun mit Blick auf das Bundespräsidialamt Entscheidungen zu fällen hat, die auch das von ihr geführte Kabinett betreffen könnten. Und abgesehen von personellen Fragen kommt eine weitere, noch größere Herausforderung auf die Parteichefin zu. Denn wir beobachten bei der CDU strukturell gesehen nun Tendenzen, wie sie sich auch bei der SPD der späten Schröder-Jahre gezeigt haben: Wenn nicht alle parteiinternen Strömungen angemessen abgebildet werden können, verliert die Partei ihre Integrationskraft und dadurch nicht zuletzt auch ihren Markenkern.

Dabei gibt es zwischen den beiden Volksparteien jedoch mindestens einen wichtigen Unterschied: Während die Zersetzung der SPD mit der massiven Abwanderung der Wähler (und mancher Politiker) zur Linken zu einer massiven Verschiebung innerhalb des Parteiensystems geführt hat, ist nicht abzusehen, ob die enttäuschten Köpfe und Anhänger der Union ebenfalls in anderen parteilichen Gruppierungen des Systems aufgefangen werden können oder aber nach außen abwandern werden – die Politiker beispielsweise in die Wirtschaft, die Parteianhänger zur großen Gruppe der Nichtwähler. Die Worte von Roland Koch, er sehe für sich keinen ausreichenden politischen Gestaltungsspielraum, müssen so gesehen in der gesamten Union und auch darüber hinaus als Warnsignal verstanden werden. Denn die Alternative zur Repräsentation solcher Strömungen in Parlamenten und Regierungen ist, dass sie nicht repräsentiert sind.

Horst Köhler hätte gerade in Zeiten der Finanzkrise mit all seiner national und international gesammelten Expertise durchaus wichtige Akzente setzen können. Er hat es jedoch nicht getan und hinterlässt daher auch keine große Lücke. Allerdings macht er das große politische Problem der CDU deutlich, das zwangsläufig zur großen politischen Herausforderung Angela Merkels werden wird: Gelingt es ihr, personell wie strukturell alle Positionen ihrer Partei aufzunehmen? Oder hält der aktuelle Trend der Desintegration in der Union an?

 

Hannelore Rüttgers – oder was?

Nach der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen sind als Folge der schnellen Absage von Gesprächen mit der Linkspartei die Weichen nun erst einmal auf „Große Koalition“ gestellt. Die Frage, wer denn in einer solchen Regierungskonstellation den Ministerpräsidenten zu stellen hat, scheint offenbar ganz klar zu sein. Die CDU „natürlich“, wie immer wieder argumentiert wird. Zur Begründung wird das Kriterium der Stimmenanzahl bemüht. Weil die CDU laut amtlichem Endergebnis exakt 5982 Stimmen mehr erhalten hat als die SPD, sei es doch wohl klar, dass sie den Ministerpräsidenten auch stellen müsse – so oder so ähnlich war es dieser Tage der Presse zu entnehmen.

Mal ganz abgesehen von der Frage, ob ein solches Kriterium in einem parlamentarischen System auch tatsächlich viel Sinn ergibt, zeigt die Empirie jedenfalls keine reflexartige Beziehung in Koalitionsregierungen, der zu Folge immer die nach Stimmen stärkste Partei den Regierungschef stellen muss.

Ein paar Beispiele gefällig? Unser Nachbarland Österreich hat das auf der Bundesebene schon drei Mal erlebt. Zuletzt nach der Nationalratswahl 1999. Die konservative Österreichische Volkspartei (ÖVP) unter der Führung von Wolfgang Schüssel ist nach Stimmen nur drittstärkste Kraft geworden, nach der sozialdemokratischen SPÖ und der FPÖ von Jörg Haider. Nach dem Scheitern von Koalitionsverhandlungen mit der SPÖ führte Wolfgang Schüssel als Bundeskanzler ab dem 4. Februar 2000 eine ÖVP-FPÖ-Koalition an, obwohl wohlgemerkt die FPÖ nach der Wahl die „stärkere“ Partei war. 1953 und 1959 ist der ÖVP Kandidat ebenfalls Bundeskanzler geworden, obwohl die mitregierenden Sozialdemokraten mehr Stimmen bei der Wahl bekommen hatten.

Aber auch in anderen Ländern, die an Koalitionsregierungen gewöhnt sind, finden sich solche Beispiele. Der schwedische Zentrumspolitiker Fälldin etwa wurde nach der Wahl 1979 zum Ministerpräsidenten gewählt, obwohl damals die bürgerlich-konservative Moderata samlingspartiet und nicht mehr die Zentrumspartei die nach Stimmen größte bürgerliche Partei wurde. Ähnlich gelagerte Fälle finden sich auch in Dänemark in der Koalition zwischen Liberalen und Konservativen in den 80er Jahren. Wenn man systematisch sucht, findet man wahrscheinlich noch mehr. Hat jemand noch weitere Beispiele parat?

Langer Rede kurzer Sinn: Es ist mitnichten in Stein gemeißelt, dass die stärkste Partei auch den Ministerpräsidenten stellen muss. Die Beispiele zeigen, dass von einem derartigen Automatismus keine Rede sein kann. Welche Partei den Regierungschef stellt, liegt genauso auf dem Verhandlungstisch und ist daher Bestandteil von Koalitionsverhandlungen, wie viele andere Dinge auch.

 

Der Teufel steckt im (Wahlrechts-)Detail

Zur Mehrheit fehlt Rot-Grün in NRW ein einziger Sitz. Rot-Grün-Rot wird es nicht geben. Also bleibt den Sozialdemokratinnen dort wohl nur der (schwere) Gang in die Große Koalition. Wie die Kollegen von wahlrecht.de zeigen, hängt die Sitzverteilung dabei nicht vom gewählten Zuteilungsverfahren ab. Ob Sainte-Laguë, Hare/Niemeyer oder D’Hondt – das Ergebnis ist identisch. Zumindest solange man die Sitzzahl bei 181 belässt.
Gleichwohl könnte man sich bei Rot und Grün mit Blick auf das Wahlsystem die Haare raufen – kleine Veränderungen der Regeln hätten mitunter große Wirkung gehabt: So hätte es für Rot-Grün etwa gereicht, wenn der nordrhein-westfälische Landtag nur aus 159 Sitzen bestehen würde (und die Sitze nach Hare/Niemeyer zugeteilt worden wären): Die SPD hätte dann nämlich 59 Sitze erhalten (wie die Union auch), die Grünen 21 – und 80 rot-grüne Sitze wären eine Mehrheit gewesen. Analog wäre es bei Sitzzahlen von 3, 5, 7, 19, 21, 35, 59, 73, 75, 87, 89, 91 und 105 gewesen… aber bei 181 eben nicht.

 

Nach der Wahl: Große Koalition oder Rot-Rot-Grün in NRW?

Das Ergebnis der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen stellt die Parteien – insbesondere SPD, FDP und Grüne – vor schwierige Entscheidungen. Dies rührt daher, dass – wie in Hessen nach der Landtagswahl 2008 – nur solche Koalitionen über eine Mehrheit im Parlament verfügen, die von mindestens einer beteiligten Partei entweder vorab ausgeschlossen wurden oder nicht besonders gewünscht werden. Ersteres trifft auf die Ampelkoalition und ein Jamaika-Bündnis zu, die beide in einem Parteitagsbeschluss der Liberalen kurz vor der Landtagswahl abgelehnt wurden. Eine Koalition der beiden großen Parteien CDU und SPD sowie eine Linkskoalition aus Sozialdemokraten, Grünen und der ‚Linken’ entspricht wiederum nicht den Wunschvorstellungen der jeweiligen Parteien.

Kurz vor der Wahl sind wir bei der Berechnung der Wahrscheinlichkeiten für die verschiedenen Koalitionen aufgrund der Umfrageergebnisse von zwei Szenarien ausgegangen, bei denen jeweils – im Gegensatz zum Ergebnis der Landtagswahl – von der CDU als der stärksten Partei im Düsseldorfer Landtag ausgegangen wurde. Im ersten Szenario hatte eine Koalition aus CDU und Grünen, nicht jedoch ein rot-grünes Bündnis eine Mehrheit im Parlament. Den Ergebnissen zufolge wäre die Bildung einer ‚schwarz-grünen’ Koalition das wahrscheinlichste Ergebnis des Regierungsbildungsprozesses gewesen. In Szenario 2 verfügten CDU und Grüne hingegen über keine Mehrheit im Parlament. Auf Basis dieser Sitzverteilung sowie aufgrund der programmatischen Positionen der Parteien und der Koalitionsaussagen ergab sich die höchste Wahrscheinlichkeit für eine große Koalition aus Christ- und Sozialdemokraten.

Was ist unter den gegebenen Bedingungen nun das wahrscheinlichste Ergebnis des Regierungsbildungsprozesses in Nordrhein-Westfalen? Offenbar bleibt es dabei, dass SPD und Grüne eine Koalition mit der ‚Linken’ nicht ausschließen und damit die FDP ihre Absage an ein Bündnis, dass SPD und/oder Grüne mit einschließt, aufrechterhält. In diesem Fall ist ein Bündnis der beiden großen Parteien wahrscheinlicher als eine rot-rot-grüne Koalition. Jedoch ist der Unterschied zwischen den ermittelten Wahrscheinlichkeiten für beide Koalitionen nicht allzu groß: während die Bildung einer CDU/SPD-Koalition eine Chance von 54% erhält, so liegt die Wahrscheinlichkeit für die Formierung einer Linkskoalition bei knapp 40%. Hätten SPD und Grüne doch ein Bündnis mit der ‚Linken’ ausgeschlossen und damit Verhandlungen über eine Ampelkoalition den Weg geebnet, dann wäre die Situation zwar deutlich offener, jedoch wäre noch immer eine große Koalition das wahrscheinlichste Ergebnis des Regierungsbildungsprozesses mit einer Chance von gut 47%. An zweiter Stelle würde mit einer Wahrscheinlichkeit von rund einem Drittel die ‚Jamaika’-Koalition aus CDU, Liberalen und Grünen anstelle einer ‚Ampel’ landen. Ein rot-gelb-grünes Bündnis folgt erst auf Platz 3 mit einer Wahrscheinlichkeit von 15,6%.

Tabelle 1: Wahrscheinlichkeiten ausgewählter Koalitionsoptionen in Nordrhein-Westfalen auf Grundlage der endgültigen Sitzverteilung

Koalitionsoption Absage einer Ampel- und Jamaika-Koalition der FDP wird aufrechterhalten Absage einer Ampel- und Jamaika-Koalition der FDP wird aufgehoben; SPD und Grüne schließen Bündnis mit der ‚Linken’ aus
CDU und SPD 53,8% 47,1%
SPD, Grüne und Linke 39,9% 0%
SPD, Grüne und FDP 0% 15,6%
CDU, Grüne und FDP 0% 31,9%

Die schlechten Chancen für die Bildung einer Ampelkoalition resultieren vor allem aus den großen inhaltlichen Differenzen in der Wirtschafts- und Sozialpolitik zwischen der FDP auf der einen und SPD und Grünen auf der anderen Seite. Insofern wäre ohnehin fraglich gewesen, ob Verhandlungen von SPD, FDP und Grünen von Erfolg gekrönt gewesen wären. Die Modellberechnungen können allerdings nicht mit einbeziehen, dass es in einem Bündnis zweier beinahe gleich starker Parteien Konflikte um die Besetzung des Ministerpräsidentenamts geben wird. Ebenso werden innerparteiliche Konflikte zu den verschiedenen Koalitionsoptionen nicht berücksichtigt. Von daher sind die Chancen für eine große Koalition zwar besser als die eines rot-rot-grünen Bündnisses, allerdings spielen eine Reihe von Unwägbarkeiten eine Rolle, die die Bildung beider Koalitionsoptionen erschweren können. Von daher: alles offen in NRW.

 

Punktlandung?

AndreaNordrhein-Westfalen hat gewählt, eine klare Aussage getroffen hat es aber nicht. Mit Ausnahme einer großen Koalition ist kein Zwei-Parteien-Bündnis möglich und sämtliche Dreierkonstellationen wurden vor der Wahl entweder als nicht realisierbar befunden (Rot-Rot-Grün) oder definitiv ausgeschlossen (Ampel und Jamaika). Dies lässt die Parteien in einer Patt-Situation zurück und es scheint, als ob diejenige, die den ersten Zug wagt, das Spiel verlieren würde.

Doch was landespolitisch sehr kompliziert und nicht minder heikel daherkommt, könnte für Frau Merkel aus bundespolitischer Sicht ein Optimalzustand sein. Natürlich hat sie sich in den Wahlkampf einbringen müssen und natürlich wollte sie einen Absturz ihrer Partei in die Opposition verhindern. Eine Fortführung des schwarz-gelben Bündnisses jedoch hätte sie andererseits unter erheblichen Zugzwang gesetzt. Derzeit jedoch stehen viele Zeichen auf große Koalition, sodass sich der Erhalt der Regierungsverantwortung in NRW mit der stärkeren Einbindung der SPD in der Bundespolitik paaren könnte, womit die Grundlage für breite Konsense in unpopulären Fragen geschaffen wäre. Zudem legt das Wahlergebnis auch noch nahe, dass die CDU durch ihren denkbar knappen Vorsprung vor der SPD in einer solchen Koalition weiterhin den Ministerpräsidenten stellen würde, dieser aber wohl nicht mehr Jürgen Rüttgers heißen würde, da sich die herben Verluste der Union auch mit seiner Person verbinden. Dem innerparteilichen Kontrahenten wäre somit der Boden für bundespolitische Ansprüche entzogen, zugleich könnte sich aber auch mit Hannelore Kraft keine Persönlichkeit der SPD als starke Ministerpräsidentin etablieren und ihrer Partei inmitten der schwierigen Identitätssuche ein prägendes Gesicht geben.

Eine große Koalition in NRW würde Deutschland bereits ein gutes halbes Jahr nach Antritt der schwarz-gelben Bundesregierung wieder zu dem machen, was es nach Ansicht der Wissenschaft schon immer war: ein Staat der großen Koalitionen. Nur selten konnten Regierungen auf Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat bauen, zumeist waren also Kompromisslösungen und Abstimmungen über die Parteigrenzen hinweg sowie zwischen Bundes- und Länderebene nötig. Gerade in Krisenzeiten könnte dies nicht nur gut für die Bundeskanzlerin sein, der die moderierende Rolle liegt und die dafür zu Zeiten der Großen Koalition im Bund auch sehr geschätzt wurde. Sondern auch gut für Deutschland, das auf diese Weise Parteienstreits, symbolischer Politik etc. entgehen könnte. So gesehen hätte das Wählervotum in NRW in all seiner Unklarheit doch den politischen Willen vieler auf den Punkt gebracht.

 

Noch eine Zahl…

Viele Zahlen standen gestern und heute in Nordrhein-Westfalen im Raum – aber eine habe zumindest ich nicht gehört. Und dass, obwohl sie wiederum etwas zum Ausdruck bringt, was wir bei fast allen Wahlen der jüngeren Vergangenheit haben beobachten können und was meines Earchtens sehr bemerkenswert (vulgo: merkwürdig) ist. Es ist der gemeinsame Stimmenanteil von Union und SPD. Die folgende Abbildung zeigt, wie dieser Anteil sich über alle NRW-Wahlen hinweg entwickelt hat.

Mit 69,1 Prozent hat dieser Anteil – wieder einmal – ein historisches Tief erreicht. Selbst bei der ersten nordrhein-westfälischen Landtagswahl 1950 (in der Phase der Konsolidierung des deutschen Parteiensystems) lag er minimal höher.

Die Gründe für diese Entwicklung sind sicherlich vielfältiger Natur (man könnte das gestern so oft zitierte „Ursachenbündel“ heranziehen), Fakt aber ist: Zumindest aktuell ist es um die Integrationskraft der beiden „Volksparteien“ nicht gut bestellt.