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Christian Wulff und die Wahlforschung

Die Rolle und das Amt des Bundespräsidenten werden in der empirischen Sozialforschung kaum beachtet; zu gering ist sein Einfluss, auch wird er nicht direkt gewählt. Dementsprechend wird das Amt auch in der Diskussion um die Personalisierung von Politik nicht beachtet. Dennoch sollen hier einige der wesentlichen und empirisch fundierten Erkenntnisse der empirischen Wahlforschung präsentiert werden, die sich auf die momentane Debatte um Christian Wulff übertragen lassen.

Die Personalisierung der Politik bzw. des Politischen wird in der Politischen Kommunikationsforschung und in der Wahlforschung schon seit geraumer Zeit erforscht. In anderen Worten: Man stellt sich der Frage, wie sehr politische Richtungsentscheidungen mit den Personen verbunden sind, welche sie vertreten. Unterscheiden lassen sich drei Dimensionen: a) die Personalisierung der Wahlkampfführung, b) die Personalisierung der Medienberichterstattung und c) die Personalisierung der Wahlentscheidung.

Wenn wir uns die Entwicklung der drei Dimensionen im internationalen Vergleich anschauen, lässt sich feststellen, dass die Personalisierung der Wahlkampfführung kein neues Phänomen ist, im Gegenteil: Parteien haben ihren Wahlkampf schon immer auf den Spitzenkandidaten ausgerichtet, die Dramaturgie der Wahlkämpfe, die „Drehbücher“, hatten schon immer einen Hauptdarsteller. Anders gelagert ist die Personalisierung der Medienberichterstattung. Hier lassen sich klare Veränderungen im Zeitverlauf festmachen: Mit dem Einzug des Fernsehens hielten nicht nur neue Formate wie z.B. TV-Duelle, Talkrunden etc. Einzug in das Politische – auch die Konzentration der Medien auf Personen nahm zu. Zwar sind nicht immer ausschließlich die Spitzenkandidaten im Fokus, aber Politiker per se stehen mehr und mehr im Rampenlicht.

Und nun kommen wir zur dritten Dimension, der Personalisierung des Wählerverhaltens. Diese lässt sich wiederum differenzieren in politische und unpolitische Eigenschaften – oder auch: rollennahe und rollenferne Eigenschaften – eines Kandidaten. Mit letzteren sind persönliche Integrität, physische Attraktivität und das Privatleben gemeint. Grundsätzlich festzuhalten ist, dass diese Eigenschaften eine immer wichtigere Rolle spielen: Bürgerinnen und Bürger richten ihre Wahlentscheidung mehr und mehr an den Kandidaten als an Parteien aus. Das Phänomen des personalisierten Wählerverhaltens ist uns aus präsidentiellen Systemen wohlbekannt, im US-amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf etwa ist der Faktor Persönlichkeit schon lange ein Kernelement, dass strategisch genutzt wird: Die Frage, ob ein Kandidat „präsidiabel“ ist, ist für die Wähler zentral, und Wahlkampfstrategen setzen scheinbar unpolitische Eigenschaften aus dem Privatleben der Kandidaten ebenso in Szene, wie ihre Familienmitglieder oder persönlichen Freunde. Vergleichsweise neu ist, dass solche Entwicklungen auch in der Parteiendemokratie erkennbar sind. Allerdings zeigt die empirische Forschung deutlich, dass auch dort, wo Parteien und nicht Personen gewählt werden, Wahlentscheidungen vermehrt an der Person des Spitzenkandidaten ausgerichtet werden.

Und es sind vor allem die unpolitischen, rollenfernen Eigenschaften, die dabei ins Gewicht fallen. Die Logik, der dieses Phänomen zugeschrieben wird, überzeugt: Politische Inhalte werden immer komplexer und Bürger haben immer weniger Zeit, sich mit diesen auseinanderzusetzen. Daher wählen sie sogenannte „kognitive Abkürzungen“. Sie leiten aus den unpolitischen Eigenschaften, über die sie sich schnell ein Urteil bilden können, ihre Einschätzung über die Kandidaten ab. Hier weist sich vor allem die Integrität der Kandidaten als wichtiger gegenüber den anderen unpolitischen Eigenschaften aus.

Was bedeutet dies nun für unsere Debatte um den Bundespräsidenten? Natürlich, er wird nicht direkt gewählt – dennoch wird er aber als prominenter Vertreter des Volkes wahrgenommen. Seine Autorität und seine Daseinsberechtigung in unserem politischen System sind in erster Linie darauf begründet, dass hier jemand jenseits der Grenzen der Parteienpolitik mit Vernunft, Moral und Augenmaß auf die politischen Entwicklungen im Land blickt, positive Entwicklungen fördert und negative offen anspricht. Dadurch wird dieses Amt zu demjenigen, welches am allerstärksten auf unpolitischen Eigenschaften beruht. Wenn diese nun aber schwinden, da die Integrität des Bundespräsidenten in Frage steht, liegt gemäß den Ergebnissen der Sozialforschung nahe, dass der Rückhalt in der Bevölkerung rapide sinken wird. Viel mehr noch, als wenn es sich um einen Minister oder Parteivorsitzenden handeln würde, für den sich eine gewisse durch Tricks und Kniffe unter Beweis gestellte Cleverness sogar positiv auswirken könnte. Man könnte auch sagen: Auf kein Amt wirkt sich ein Skandal potenziell so schädigend aus, wie auf das des Bundespräsidenten.

Literaturhinweise:

Aarts, Cees/Blais, André/Schmitt, Hermann (Hrsg.) ( 2011): Political Leaders and Democratic Elections. Oxford: OUP.

Klein, Markus/Ohr, Dieter (2000): Gerhard oder Helmut? Unpolitische Kandidateneigenschaften und ihr Einfluss auf die Wahlentscheidung bei der Bundestagswahl 1998, in: PVS 41, 2, 199-224.

 

Google Insights „Interesse Index“ sagt Abstimmungsbeteiligung korrekt voraus

Die Volksabstimmung zu „Stuttgart 21“ ist gelaufen. Die Nein-Sager haben gewonnen – mit oder ohne Quorum. Während die Nein-Sager feiern, lecken die unterlegenen Ja-Sager ihre Wunden.
Die Abstimmungsbeteiligung bei der Volksabstimmung lag landesweit bei 48,3 Prozent. Das Statistische Landesamt Baden-Württemberg bietet eine schöne Karte der Beteiligungsergebnisse der Volksabstimmung vom 27. November 2011 an. Unmittelbar ersichtlich ist in der Tat, dass die Beteiligung an der Volksabstimmung in Württemberg höher ist als in Baden.
Im Nachhinein sind viele Sachen ja nicht mehr ganz so überraschend. Allerdings bin ich schon überrascht, wie gut sich die Prognose, die gestern auf diesem Blog veröffentlicht wurde, tatsächlich bewährt hat.

Mithilfe des „Interesse-Index“ von Google Insights hinsichtlich Suchanfragen, die den Begriff „Stuttgart 21“ beinhalten, konnten regionale Unterschiede im Interesse gemessen werden, die sich später tatsächlich in unterschiedlich hohen Beteiligungsraten auswirkten. Zumindest für 16 Orte in Baden-Württemberg kann man Werte für diesen „Interesse-Index“ von Google Insights herunterladen. Die offiziellen Beteiligungsraten sind auf der Vertikalen abgetragen.

Der Zusammenhang zwischen dem Index aus den Suchanfragen und den tatsächlichen Beteiligungsraten beim Volksentscheid ist sehr stark. Die 16 Punkte weichen in der obigen Graphik nicht auffällig weit von der Vorhersage ab, die durch die rote Linie gekennzeichnet ist. Für jeden um 10 erhöhten Wert des „Interesse-Index“ erhöht sich die erwartete Beteiligungrate um 3,7 Prozentpunkte.
Ich würde nicht so weit gehen wollen, diese Methode in den Himmel zu loben, da sie u.a. nur relative Vorhersagen ermöglicht hat („Mehr Württemberger als Badener werden teilnehmen“) statt einer präzisen Punktschätzung. Allerdings erlauben die einsehbaren Suchstatistiken via Google Insights zumindest für jede und jeden jederzeit eine erste Einschätzung – und das ganz ohne den Geldbeutel zu strapazieren. Wenn das nicht was für Schwaben ist…..

 

Insights aus Google Insights: Mehr Württemberger als Badener werden am Volksentscheid teilnehmen

Am 27. November kommt es zum Volksentscheid über „Stuttgart 21“. Wäre Stuttgart in Bayern, Hessen oder Sachsen würde eine einfache Mehrheit der Ja-Stimmen am Sonntag genügen, um das sogenannte „S 21-Kündigungsgesetz“ in Kraft treten zu lassen. Nun ist Stuttgart aber in Baden-Württemberg. Im Artikel 60 Absatz 5 der entsprechenden Landesverfassung heißt es aber:

„Bei der Volksabstimmung entscheidet die Mehrheit der abgegebenen gültigen Stimmen. Das Gesetz ist beschlossen, wenn mindestens ein Drittel der Stimmberechtigten zustimmt.“

Eine einfache Mehrheit der Ja-Stimmen reicht demnach noch nicht aus. Unabhängig davon wie viele sich den an dem Volksentscheid beteiligen, die Mehrheit der Ja-Stimmen muss mindestens ein Drittel aller Stimmberechtigten sein. Andernfalls ist das Gesetz gescheitert – Mehrheit hin oder her. Obwohl es bei normalen Landtags- und Bundestagswahlen in Deutschland keine solche Quoren gibt, hätte die derzeitige Landesregierung in Baden-Württemberg ein solches Quorum bei der Wahl 2011 selbst nicht erreicht, wenn der Regierungsauftrag der Volksgesetzgebung unterliegen würde. Das Beispiel zeigt, dass es am 27. November nicht nur um die Frage nach der Mehrheit sondern auch um die Beteiligungsrate geht.
Absolute Zahlen bzw. neuere Umfragen zur Beteiligung an diesem Volksentscheid liegen mir nicht vor. Aber ein Blick auf Google Insights gibt zumindest Aufschluss darüber, wie sich die zu erwartenden Beteiligungsraten im Ländle sein könnten.
Der Begriff „Stuttgart 21“ wird kurz vor dem Abstimmungstermin in Baden-Württemberg weniger oft gesucht – etwa im Verhältnis 3:5 – wie zum Ende der Schlichtung vor etwa einem Jahr. Allerdings wird dieser Suchbegriff in den letzten Tagen vermehrt nachgefragt. Die Mobilisierung scheint generell zu greifen.

Die Prognose von absoluten Beteiligungsraten für den morgigen Tag erlauben diese Statistiken natürlich nicht. Interessant wäre aber zu sehen, ob sich die messbaren regionale Unterschiede in der Häufigkeit von Suchanfragen, die „Stuttgart 21“ beinhalten, tatsächlich auch in unterschiedliche Beteiligungsraten auswirken.
Die top-10 Orte sind fast ausschließlich in Württemberg zu finden:

In Baden sind die vergleichbaren Werte viel geringer. Karlsruhe kommt zwar noch auf einen Wert von 34, Freiburg aber nur noch auf 26 und Mannheim sogar nur auf 22. Wenn solche Suchabfragen tatsächliches aussagekräftig sind, dann sollten man auch eine erheblich niedrige Beteiligungsraten in den Kommunen an der an der Rheinschiene erwarten.
Wenn Sie heute abstimmungsberechtigt sind, achten sie darauf, dass es ihnen vor lauter „Google Insight“ insights nicht so geht wie dem Mann in diesem Clip der Ja-Sager Kampagne

 

Ja oder Nein? Das ist hier die Frage – Die Plakate zur S21-Volksabstimmung im Vergleichstest

Am kommenden Sonntag sind die Bürger in Baden-Württemberg dazu aufgerufen, über die Finanzierung des Bahnprojekts „Stuttgart 21“ abzustimmen. Soll das Land seine Finanzierungsanteile zu „Stuttgart 21“ kündigen oder nicht? Ja oder nein? Das ist hier die Frage. Leider ist diese Frage im Stimmzettel zur Volksabstimmung nicht ganz so klar formuliert. Dort steht: „Stimmen Sie der Gesetzesvorlage ‚Gesetz über die Ausübung von Kündigungsrechten bei den vertraglichen Vereinbarungen für das Bahnprojekt Stuttgart 21‘ (S21-Kündigungsgesetz) zu?“ Ein zentrales Ziel der Plakat-Kampagnen beider Seiten zur Volksabstimmung war und ist es deshalb, den eigenen Anhängern zu erklären, ob sie nun mit „Ja“ oder mit „Nein“ stimmen müssen, um alles richtig zu machen. Nebenbei sollen die Kampagnen natürlich auch das eigene Lager mobilisieren und den ein oder anderen noch immer Unentschiedenen auf die eigene Seite ziehen. Doch: Wie gut können die Plakate diese Ziele umsetzen? Das hat nun eine Studie der Universität Hohenheim untersucht.
Für ihre Studie haben die Hohenheimer Forscher insgesamt 348 Stuttgarter Bürgerinnen und Bürger aus einem Online Access Panel zu ihren Einstellungen zu Stuttgart 21 und ihrer Bewertung und Erinnerung der Plakate zur Volksabstimmung befragt. Ihre Bewertung von „Stuttgart 21“ und ihre Abstimmungspräferenz mussten die Teilnehmer zweimal angeben: Das erste Mal vor Studienbeginn. Das zweite Mal, nachdem sie die Plakate betrachtet und bewertet hatten. Aufgrund der Art der Stichprobenziehung ist die Untersuchung nicht repräsentativ, absolute Aussagen oder Vorhersagen über Einflüsse der Plakat-Kampagnen in der Gesamtbevölkerung sind deshalb nicht möglich. Allerdings ist dies bei Experimentaluntersuchungen auch nicht das Ziel. Hier geht es um relative Aussagen und den Einfluss bestimmter Merkmale (z.B. Einstellungen zu „Stuttgart 21“) auf das Verhalten der Befragten. Solche relativen Aussagen über das Verhalten von S21-Gegnern, -Befürwortern und Neutralen können durchaus getroffen werden. Denn alle drei Gruppen waren ausreichend und zu etwa gleichen Teilen in der Stichprobe vertreten.
Wie sich anhand der Ergebnisse leicht zeigen lässt, kommt es bei der Bewertung der Plakate – kaum überraschend – zu großen Unterschieden zwischen Befürwortern und Gegnern des Bahnprojekts. Beide Seiten bewerten jeweils „ihre“ Plakate besonders positiv und die Plakate der gegnerischen Seite besonders negativ. Interessanter sind deshalb die Bewertungen der neutralen und unentschiedenen Probanden. Hier zeigte sich ein deutliches Ergebnis: Die drei untersuchten Plakate der bunten Ja-Kampagne des Gegner-Bündnisses „Ja zum Ausstieg“ belegten die ersten drei Plätze. Die roten Nein-Plakate der Befürworter-Initiative „IG Bürger für Baden-Württemberg“ hingegen die letzten drei Plätze. Die Erklärung hierfür dürfte zum einen im aggressiven Slogan der Befürworter-Plakate („Wir sind doch nicht blöd!“), zum anderen in der sehr unterschiedlichen Plakatgestaltung liegen. Trotz oder gerade wegen dieser Störfaktoren wurden die Plakate der „Wir sind doch nicht blöd!“-Kampagne jedoch mit am besten erinnert.
Noch interessanter als diese deskriptiven Befunde der Studie sind jedoch die Ergebnisse zum Einfluss der Plakatbetrachtung auf die Einstellungen der Probanden. Denn hier zeigte sich, dass – anders als vielleicht von Vielen vermutet – durchaus noch ein gewisses Beeinflussungspotenzial vorhanden ist. Trotz des nun schon jahrelang andauernden Bahnhof-Streits und der mittlerweile – auch nach dem Schlichterspruch von Heiner Geißler – eisern verhärteten Fronten. So änderten immerhin 55 der 348 Befragten (15,8 Prozent) ihre Meinung über „Stuttgart 21“ (auf einer 7er-Skala von „sehr positiv“ bis „sehr negativ“). Bei etwa einem Drittel dieser Probanden (18 Personen), fielen diese Änderungen auch recht deutlich aus (mindestens zwei Skalenpunkte). Eine weitere Folge der Plakatbetrachtung: Auch das geplante Abstimmungsverhalten änderte sich bei 23 Befragten (6,7 Prozent). Hierbei kam es nicht nur zu Verschiebungen zwischen dem Lager der ursprünglich noch Unentschiedenen und dem Ja- und Nein-Lager, sondern durchaus auch zu Verschiebungen zwischen dem Ja- und dem Nein-Lager. Angesichts der intensiven Berichterstattung zu „Stuttgart 21“ und dem überdurchschnittlichen politischen Interesse der Befragten liegt es nahe, diese Verschiebungen insbesondere als eine Folge des „Erklär-Effektes“ der Plakate zu interpretieren. Offensichtlich wurde einem beträchtlichen Teil der Befragten erst durch die Plakat-Betrachtung klar, wie sie abstimmen mussten, um ihrer jeweiligen Einstellung zu „Stuttgart 21“ Ausdruck zu verleihen. Offen bleibt allerdings die Frage, bei wie vielen Bürgerinnen und Bürger in Baden-Württemberg dieser „Erklär-Effekt“ der Kampagnen noch rechtzeitig vor dem 27. November eintritt.

 

Aus der Kategorie „Immer Ärger mit diesem Wahlrecht“, heute: Berlin

Als Wahlrecht hat man es in diesen Tagen nicht leicht… Auf Bundesebene gibt es derzeit kein verfassungsgemäßes Wahlrecht. Auch in Schleswig-Holstein war das Wahlrecht, das bei der jüngsten Landtagswahl zur Anwendung kam, nicht verfassungskonform, weswegen im kommenden Jahr eine vorgezogene Wahl stattfinden muss.

Nun wählt am Sonntag Berlin – und wieder könnte ein Wahlrechtsdetail für großen Aufruhr sorgen. Es geht um §18 des Berliner Wahlgesetzes, betitelt „Sperrklausel“. Dort heißt es:

Parteien, die im Wahlgebiet weniger als fünf vom Hundert der abgegebenen Zweitstimmen erhalten haben, werden bei Berechnung und Zuteilung der Sitze nach § 17 nicht berücksichtigt; dies gilt nicht, sofern mindestens ein Bewerber oder eine Bewerberin der Partei nach § 16 einen Sitz im Wahlkreis errungen hat.

Klingt nach einer ganz „gewöhnlichen“ 5%-Klausel, wie wir sie auch bei Bundes- und sonstigen Landtagswahlen kennen. Ist es aber nicht (ganz). Im Bundeswahlgesetz lautet die analoge Bestimmung nämlich: „Bei Verteilung der Sitze auf die Landeslisten werden nur Parteien berücksichtigt, die mindestens 5 vom Hundert der im Wahlgebiet abgegebenen gültigen Zweitstimmen erhalten … haben“.

Worin liegt der Unterschied? In Berlin müssen 5% der abgegebenen Stimmen erreicht werden, im Bundesgebiet (und auch in allen anderen Ländern) 5% der gültigen Stimmen. In einem Fall zählen die ungültigen Stimmen also mit, im anderen Fall nicht. Es könnte daher die paradoxe Situation aufkommen, dass die Balken, die wir ab 18 Uhr in den Prognosen und Hochrechnungen sehen werden, zwar über die 5%-Marke hinausragen (denn die Basis der Balken sind die gültigen Stimmen), eine Partei aber trotzdem NICHT ins Abgeordnetenhaus einzieht. Hoffentlich bringt das den Touchscreen nicht aus der Ruhe…

Ein Beispiel: Am Sonntag werden 2,47 Millionen Bürgerinnern und Bürger wahlberechtigt sein. Nehmen wir an, 58% von ihnen machen von ihrem Wahlrecht Gebrauch (das entspricht der Wahlbeteiligung der Wahl 2006). Demnach gäbe es 1.432.600 abgegebene Stimmen. Nehmen wir weiterhin an, dass 2% dieser abgegebenen Stimmen (bezogen auf die Zweitstimme) ungültig sind, das wären 28.652 ungültige Stimmen; somit gäbe es 1.403.948 gültige Stimmen.

Um in das Abgeordnetenhaus in Berlin einzuziehen, braucht eine Partei 5% der abgegebenen Stimmen, das wären 71.630 Stimmen. Würde dagegen eine Regel analog zum Bundeswahlgesetz gelten, dann würden 5% der gültigen Stimmen ausreichen, das wären 70.197,4 (also 70198) Stimmen – ein Unterschied von immerhin 1.432 Stimmen!

Wären sogar 4% der abgegebenen Stimmen ungültig (wie jüngst in Mecklenburg-Vorpommern), dann gäbe es „nur“ 1.375.296 gültige Stimmen und dann würden „normalerweise“ sogar 68.765 Stimmen reichen, um in einen Landtag einzuziehen – außer eben in Berlin; dort bräuchte man 2.865 mehr (nämlich weiterhin besagte 71.630).

Heißt also ganz konkret: Würde eine Partei – nennen wir sie zum Beispiel „Die Seefahrer“ oder „GDP“ – in ersten Szenario (mit 2% ungültigen Stimmen) 71.629 Stimmen erhalten, dann würde der Balken in ARD und ZDF 5,1% anzeigen – und trotzdem wäre die Partei draußen, denn bezogen auf die abgegebenen Stimmen wären es nur 4,9999 Prozent. Im zweiten Fall (mit 4% ungültigen Stimmen) würden der Balken sogar 5,2% anzeigen, reichen würde es trotzdem nicht.

Für Spannung ist also gesorgt am Sonntag, auch aus dieser Warte!

Übrigens: Keine der beiden Lösungen ist zwangsläufig besser, vielmehr ist die eine so arbiträr wie die andere. Die Berliner Lösung ist lediglich ungewöhnlich. Man könnte sogar argumentieren, dass eigentlich die Zahl der Wahlberechtigten eine sinnvolle Bezugsgröße für eine Sperrklausel wäre. Dann hätten nämlich Parteien einen Anreiz, auch die Wahlbeteiligung im Auge zu behalten, die leider allzu oft an den Diskussionen an Wahlabenden untergeht.

 

Klar zum Entern?

Die Piraten stehen möglicherweise vor dem größten Erfolg ihrer kurzen Parteigeschichte. Der Einzug ins Berliner Abgeordnetenhaus liegt im Bereich des Möglichen, wie die aktuellen Umfragen zeigen. Der Sprung über die 5%-Hürde – kleine Fußnote am Rande: in Berlin zählen bei der Feststellung, ob die Hürde übersprungen worden ist, die ungültigen Stimmen mit, was das Überspringen etwas schwieriger macht! – ist im Bereich des Möglichen, was natürlich die Frage aufwirft: Wer sind diese Piraten, die offenkundig klar zum Entern des Abgeordnetenhauses sind? Marc Debus hat sich an dieser Stelle schon einmal dieser Frage angenommen, einmal mit Blick auf die Parteipositionen, einmal mit Blick auf mögliche Koalitionsmodelle. Programmatisch tummeln sich die Piraten in der Nähe von Grünen und Linken und auch eine Koalition von SPD, Linken und Piraten ist nach den Ergebnissen von Marc Debus durchaus wahrscheinlich.

Man kann – wie ich es auch anlässlich von früheren Wahlen hier schon getan habe – den Wahl-o-mat und seine 38 Thesen heranziehen, um sich ein Bild über die Distanz zwischen verschiedenen Parteien zu machen (*). Tut man dies für die Wahl am kommenden Sonntag, dann zeigt sich eindeutig, was sich auch bei Marc Debus schon gezeigt hat: Die Piraten sind eine linke Partei. Die programmatischen Übereinstimmungen zur Linkspartei und den Grünen gehören zu den höchsten Übereinstimmungsraten überhaupt, auch die SPD ist den Piraten nicht allzu fern, wie die folgende Abbildung zeigt:

Dagegen stimmen die Piraten in ihren Aussagen zu den 38 gestellten Thesen in weniger als der Hälfte der Fälle mit der FDP überein; noch geringer ist die Übereinstimmung mit der CDU.

Die linke Seite des politischen Spektrums füllt sich also weiter. Werden die Piraten für die Grünen, was die Grünen für die SPD waren, „Fleisch vom Fleische der Grünen“? Das könnte die gewisse Nervosität, die auch im Wahlkampf auf Seiten der Grünen zu verzeichnen war, erklären.

Auch wenn es schwer bleiben wird für die Piraten, sich programmatisch in diesem dichten Umfeld auf der linken Seite des politischen Lagers zu behaupten, so könnte die Wahl in Berlin doch ein wichtiges Signal aussenden: Die 5%-Hürde ist für die Piraten überwindbar – und Stimmen für die Piraten damit nicht mehr zwangsläufig verschenkt. Amerikanische Kollegen sprechen in solchen Situationen von viability, gerade auch jetzt wieder im Kontext der Vorauswahl des republikanischen Präsidentschaftswahlkampfs: Welcher Kandidat ist überlebensfähig? In wen lohnt es sich zu investieren? Vom Ergebnis am Sonntag könnte ein Signal ausgehen: Die Piraten sind viable, denn darüber entscheidet in unserem Kontext eben die 5%-Hürde. Und damit könnten sie endgültig (aus machtpolitischer Sicht) zu einer ernstzunehmenden Kraft werden – und zwar auf der linken Seite des politischen Spektrums.

(*) Der Index berechnet sich wie folgt: Für jedes Paar von Parteien wird über alle 38 Thesen hinweg gezählt, wie oft die Parteien übereinstimmen. Jede Übereinstimmung gibt einen Punkt, jede Kombination von “stimme zu” oder “stimme nicht zu” mit “neutral” einen halben Punkt. Addiert man diese Punkte zusammen und teilt die Summe durch 38 (die Zahl der Thesen), erhält man den Index. Die Annahme ist dabei natürlich, dass alle Thesen gleich wichtig sind.

 

Die Koalitionsbildung in Berlin nach der Wahl 2011: Vorteil für Rot-Grün

Erst vor wenigen Tagen hat die Spitzenkandidatin der Grünen bei der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus, Renate Künast, die Bildung einer Koalition mit der CDU öffentlich ausgeschlossen. Auch wenn dieses Statement kein offizieller Beschluss ihrer Partei ist, so wirft diese Aussage die Frage auf, welche Parteienkombination das wahrscheinliche Ergebnis des Regierungsbildungsprozesses in Berlin nach den Wahlen am kommenden Sonntag sein wird. Diese Frage gewinnt insbesondere vor dem Hintergrund an Bedeutung, dass jüngste Umfragen der amtieren Koalitionsregierung aus SPD und der Linken keine Mehrheit mehr versprechen. Ein zusätzlicher Überraschungseffekt kann sich zudem daraus ergeben, dass die Piratenpartei den Sprung über die 5-Prozent-Hürde schafft, wohingegen die FDP wohl nicht wieder in das Abgeordnetenhaus zurückkehren wird.

So ergibt sich aus der Vorwahlumfrage der Forschungsgruppe Wahlen ein Fünfparteienparlament, in dem die SPD 47, die CDU 31, die Grünen 28, die Linke 16 und die Piraten 8 Sitze erringen würde. Auf der Grundlage dieser Sitzverteilung, der programmatischen Positionen der Parteien, die sich aus ihren Wahlprogrammen ergeben, der bundespolitischen Kontextfaktoren und der Koalitionsaussagen der Parteien lassen sich die Wahrscheinlichkeiten für die theoretisch möglichen Parteienkombinationen im künftigen Berliner Landesparlament bestimmen. Dies geschieht auf der Grundlage eines Datensatzes, der alle Regierungsbildungsprozesse in den deutschen Bundesländern seit 1990 umfasst (siehe Bräuninger und Debus 2011).

In der unten stehenden Abbildung sind die Wahrscheinlichkeiten für ausgewählte der 31 theoretisch möglichen Koalitionsregierungen in einem aus fünf Parteien zusammengesetzten Landtag aufgeführt. Es wird deutlich, dass eine mögliche Koalition aus SPD und Grünen das Bild deutlich dominiert, selbst wenn die Aussage von Renate Künast hinsichtlich eines potenziellen schwarz-grünen Bündnisses nicht berücksichtigt wird. Die Chance, dass sich eine rot-grüne Koalition bildet, liegt bei 44 bzw. 46 Prozent. Die beiden anderen dominierenden Kombinationen sind neben einer Koalition aus Sozial- und Christdemokraten mit 23 bzw. 24 Prozent ein Bündnis aus SPD, der Linken und der Piratenpartei mit ca. 26 Prozent. Die überraschend hohe Wahrscheinlichkeit für ein solches Dreierbündnis ergibt sich dadurch, dass die programmatische Distanz zwischen den drei Parteien vergleichsweise gering ist und eine solche Option nicht von vornherein ausgeschlossen wurde.

Abbildung 1: Wahrscheinlichkeiten ausgewählter Parteienkombinationen, den nächsten Berliner Senat zu stellen

Für die Bildung einer rot-grünen Koalition spricht neben den errechneten Wahrscheinlichkeiten zudem, dass diese Variante – im Gegensatz zu einer großen Koalition oder einer Fortsetzung der Zusammenarbeit von SPD und der Linken –  den Ergebnissen des ZDF-Politbarometers zufolge auch von einer Mehrheit der Berliner gewünscht wird. Sollten neben SPD, CDU, Grünen und Linken auch die Piraten in das Landesparlament in der vermuteten, oben angegebenen Stärke einziehen, dann stehen die Chancen für eine rot-grüne Neuauflage in Berlin sehr gut.

Literatur:
Bräuninger, Thomas und Marc Debus (2011): Parteienwettbewerb in den deutschen Bundesländern. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

 

Wie sichtbar sind die Webseiten politischer Parteien für Suchmaschinen?

Von Andreas Jungherr, David J. Ludwigs und Harald Schoen
Webseiten sind für politische Parteien die Online-Werkzeuge mit der größten potentiellen Reichweite. Von den Möglichkeiten, die das Internet bietet, ist die Suche nach Inhalten eine der am häufigsten genutzten. Die aktuelle ARD/ZDF-Onlinestudie geht davon aus, dass 83% der 51,7 Millionen deutschen Onlinenutzer ab 14 Jahren regelmäßig Suchmaschinen nutzen, um nach Informationen, Nachrichten oder Waren zu suchen (van Eimeren, Frees 2011). Suchmaschinen sind dabei die Filter, durch die Suchende das Informationsangebot im Internet wahrnehmen. Auf welcher Position eine Webseite nach einer Suchanfrage in der Ergebnisliste einer populären Suchmaschine genannt wird, entscheidet daher wesentlich darüber, ob interessierte Nutzer auf diese Seite stoßen. Dies macht es für Webseitenbetreiber so wichtig, ihre Webseite für Suchmaschinen verständlich aufzubereiten.

Auch für Anbieter politischer Webseiten ist die Positionierung ihrer Seiten in Ergebnislisten von Suchmaschinen zunehmend wichtig. In einer Untersuchung zur politischen Netznutzung in Deutschland fand das Allensbacher Institut heraus, dass 26% der Deutschen über 16 Jahre das Internet mehrmals wöchentlich nutzten, um politische Informationen zu suchen. Weitere 17% gaben an, das Internet einmal oder mehrmals monatlich zu verwenden, um sich über Politik zu informieren (Köcher, Bruttel 2011). Damit wird das Internet für keine politische Aktivität so häufig genutzt wie für die Suche nach politischen Informationen. Menschen suchen also im Internet gezielt nach Informationen zu tagesaktuellen Themen, Kandidaten, Parteien oder Wahlen. Diese Art der Internetnutzung ist für Parteien und Politiker interessant, da sie bei geschickter Gestaltung und redaktioneller Betreuung ihrer Webseiten interessierte Suchende ungefiltert mit ihren Informationen und Botschaften erreichen können. Dazu müssen politische Webseiten aber so konzipiert sein, dass sie von Suchmaschinen als relevante Ergebnisse zu politischen Suchbegriffen angezeigt werden.

Zusammen mit den Firmen Neolox und Searchmetrics gingen wir der Frage nach, wie Parteiseiten von der Suchmaschine Google bewertet werden und zu welchen Suchbegriffen Parteiwebseiten an prominenter Stelle in den Google-Ergebnislisten angezeigt werden. Im Einzelnen untersuchten wir die Webseiten von Parteien im Bund sowie von Parteien in Berlin, Mecklenburg-Vorpommern und Niedersachsen, also in den Bundesländern, in denen im September 2011 Wahlen stattfinden.

Die Ergebnisse zeigen, dass die Webseiten der Bundesparteien prominent in den Google-Ergebnislisten zu Suchanfragen nach Parteinamen und Spitzenpolitikern platziert sind. Wird nach tagesaktuellen oder allgemein politischen Begriffen gesucht, erscheinen die Webseiten der Bundesparteien nur vereinzelt und unsystematisch in den Ergebnislisten. Einzige Ausnahme ist die Piratenpartei.

Die Webseiten der Landesverbände von Parteien erscheinen nur prominent in Ergebnislisten, wenn gezielt nach Parteinamen und Kandidaten gesucht wird. Bei Suchanfragen zu tagesaktuellen und allgemein politischen Begriffen bleiben die Webseiten der von uns untersuchten Landesverbände weitgehend unsichtbar.

Die Webseiten fast aller deutschen Parteien sind somit, sieht man von direkten Besuchen oder gezielten Suchanfragen ab, in den Google-Ergebnissen zu politischen Suchanfragen weitgehend unsichtbar. Wer also nicht von vornherein an den Informationen einer bestimmten Partei interessiert ist, wird nicht auf ihre Angebote im Netz stoßen. Dies deutet darauf hin, dass die meisten deutschen Parteien ihre Webseiten nicht gezielt darauf ausrichten, parteilich ungebundene, aber an politischen Themen interessierte Bürger anzusprechen. Damit verschenken sie ein beträchtliches Potential ihrer Internetauftritte.

Die Ergebnisse der Untersuchung werden unter http://www.sichtbarkeitsreport.de ausführlich dargestellt.

Literatur:
R. Köcher und O. Bruttel, „Tiefgreifender Wandel von Politik und Wirtschaft durch das Internet“, Institut für Demoskopie Allensbach (27. Juni 2011).
B. van Eimeren und B. Frees, „Drei von vier Deutschen im Netz – ein Ende des digitalen Grabens in Sicht?“ Media Perspektiven 7/8 (2011), 334-349.

 

Die programmatischen Ausrichtungen der Berliner Parteien zur Abgeordnetenhauswahl 2011: Deutliche Verschiebungen

Die Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus findet seit Monaten eine hohe Beachtung in den Medien wie auch in der politischen Öffentlichkeit. Dies hing zunächst maßgeblich damit zusammen, dass in Folge der Reaktorkatastrophe von Fukushima den Grünen mit ihrer Spitzenkandidatin Renate Künast gute Chancen eingeräumt wurden, stärkste parlamentarische Kraft zu werden. Mit dem Abflauen der Stärke von Bündnis 90/Die Grünen in den Umfragen und dem nicht unwahrscheinlichen Fall, dass die amtierende Regierungskoalition aus SPD und der Linken keine Mehrheit im künftigen Berliner Abgeordnetenhaus erreicht, rückt verstärkt die Frage in den Vordergrund, welche Parteien nach der Wahl eine gemeinsame Regierungskoalition bilden können.

In diesem Zusammenhang kommt den Politikzielen der Parteien eine entscheidende Rolle zu. Eine Grundlage zur Evaluierung der inhaltlichen Schnittmengen von Parteien, denen eine zentrale Funktion im Regierungsbildungsprozess zukommt, stellen die Wahlprogramme dar, die im Vorfeld von Wahlen verfasst werden und das Ziel haben, Wählern als auch den parteipolitischen Konkurrenten die eigenen Politikpositionen zu signalisieren. Eine quantitative Inhaltsanalyse der Wahlprogramme der Berliner Parteien zu den Abgeordnetenhauswahlen 2006 und 2011 macht deutlich, dass eine vergleichsweise große programmatische Dynamik vorherrscht (siehe Abbildung 1). So haben insbesondere CDU und FDP ihre wirtschaftspolitischen Positionen deutlich verändert: Während die Berliner Freidemokraten nunmehr moderate statt explizit marktliberale Positionen zur Abgeordnetenhauswahl 2011 vertreten, so hat die Union beinahe eine linke, der Haltung der SPD in sozioökonomischen Fragen sehr ähnliche Position in diesem Politikfeld eingenommen. Die Berliner CDU veränderte – im Vergleich zu 2006 – auch ihre gesellschaftspolitische Position und formuliert nunmehr eher progressive Politikziele. Insgesamt betrachtet haben sich die Christdemokraten in der Bundeshauptstadt derart auf die SPD zu bewegt, so dass sich die Positionen der beiden Parteien in den beiden Politikbereichen Wirtschaft und Gesellschaft kaum voneinander unterscheiden. Das programmatische Verhalten der Union kann dahingehend gedeutet werden, dass sie – aufgrund der Distanzverringerung zu SPD als auch Grünen – die inhaltlichen Hürden für ein rot-schwarzes oder schwarz-grünes Bündnis verringern wollte. Auch die Berliner Grünen haben sich ins Zentrum der gesellschaftspolitischen Dimension und damit in Richtung der Position des SPD-Wahlprogramms 2011 zu bewegt. Der nunmehr progressivste parteipolitische Akteur in Fragen der Innen-, Rechts und Gesellschaftspolitik ist – neben der Linken, die ihre Position im Politikraum nicht in signifikanter Form verschoben hat – die Piratenpartei.

Es wird also spannend werden, inwiefern sich die in den 2011er Wahlprogrammen der Berliner Parteien formulierten Politikziele im Regierungsbildungsprozess bemerkbar machen werden. Sollte es für eine rot-rote Neuauflage nicht reichen, dann erscheint eine große Koalition, ein rot-grünes wie schwarz-grünes Bündnis oder auch eine Dreier-Koalition unter Einbeziehung der Piratenpartei – etwa in Form einer Koalition aus SPD, Linken und Piraten – durchaus möglich. Dies hängt aber vor allem davon ab, wie viele Parteien im Berliner Abgeordnetenhaus vertreten sein werden und damit von der Frage, ob die Piratenpartei und die Liberalen den (Wieder-)Einzug in das Parlament überhaupt erreichen. Es bleibt also nicht nur bis zum 18. September, sondern auch in der Zeit nach der Wahl im Land Berlin politisch mehr als spannend.

Abbildung 1: Die wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Positionen der Berliner Landesparteien 2006 und 2011

 

Wieder Rot-Schwarz in Mecklenburg-Vorpommern?

Die Landtagswahl in Mecklenburg-Vorpommern spielt nur eine geringe Rolle in der politischen Tagesberichterstattung. Lediglich die Auswirkungen der innerhalb der Linken im nordöstlichsten deutschen Bundesland geführten Debatte um den Mauerbau von 1961 auf das Wahlergebnis wurden in den letzten Wochen ausführlicher thematisiert. Eine offene Frage ist zudem, ob die FDP aufgrund der für sie schlechten bundespolitischen Rahmenbedingungen den Wiedereinzug in den Landtag von Schwerin schafft. Die Umfragen sehen die Liberalen – ähnlich wie die rechtsextreme NPD – knapp unter der 5%-Hürde.

Sollten nur vier Parteien – SPD, CDU, die Linke sowie Bündnis 90/Die Grünen – in das Landesparlament einziehen, wie es die letzten Umfragen der Forschungsgruppe Wahlen sowie von Infratest dimap andeuten, aus welchen Parteien wird sich dann die nächste Regierung zusammensetzen? Bleibt die Koalition aus Sozial- und Christdemokraten im Amt oder kommt es zu einer Koalition aus SPD und Linken, die in Mecklenburg-Vorpommern bereits zwischen 1998 und 2006 amtierte? Eine Inhaltsanalyse der Wahlprogramme der Landesparteien von 2006 und 2011 macht zunächst deutlich, dass die beiden Regierungsparteien SPD und CDU in wirtschafts- und sozialpolitischen Fragen ihre programmatische Position signifikant nach links verschoben haben (siehe Abbildung 1). Linke, Grüne und FDP änderten ihre inhaltlichen Standpunkte weder in wirtschafts- noch in gesellschaftspolitischen Fragen in entscheidendem Ausmaß ab. Die inhaltliche Distanz zwischen Sozialdemokraten und Union hat sich insgesamt betrachtet leicht verringert und entspricht ungefähr dem Abstand zwischen den Positionen von SPD und Linken. Aus dieser Perspektive könnte die SPD auch ein Bündnis mit den Sozialisten eingehen und die Koalition mit der Union beenden.

Abbildung 1: Programmatische Positionen der Parteien in Mecklenburg-Vorpommern

Allerdings spielen bei der Regierungsbildung allgemein und in den deutschen Bundesländern insbesondere noch weitere Faktoren eine Rolle, die in Betracht gezogen werden müssen. Dazu zählen etwa das Ziel der Parteien, möglichst viele Regierungsämter zu besetzen, der Amtsinhaberbonus, der der amtierenden Regierungskoalition einen gewissen Vorteil zugesteht, die vor einer Wahl getätigten Koalitionsaussagen der Parteien und die Mehrheitssituation im Bundesrat. Werden alle diese Faktoren inklusive der programmatischen Distanzen zwischen den parlamentarisch vertretenen Parteien berücksichtigt, dann lassen sich – mit Hilfe multivariater statistischer Analyseverfahren – die Wahrscheinlichkeiten für alle theoretisch möglichen Koalitionsvarianten berechnen (für eine genauere Beschreibung siehe Bräuninger & Debus 2011). Eine solche Analyse liefert folgendes Ergebnis: Von allen 15 theoretisch möglichen Koalitionen, die in dem aus vier Parteien bestehenden Parlament (SPD, CDU, Linke und Grüne) möglich sind, dominieren erwartungsgemäß zwei Parteikombinationen das Bild. Dies sind die amtierende Regierungskoalition aus Sozial- und Christdemokraten mit einer Wahrscheinlichkeit von 56,9% und ein Bündnis aus SPD und Linken mit einer Chance von 41,6%. Die restlichen 1,5% verteilen sich auf die verbleibenden 13 anderen theoretisch möglichen Parteienkombinationen. Diesem Ergebnis zufolge stehen die Chancen für eine Neuauflage der Koalition aus SPD und Union – wie auch schon in Sachsen-Anhalt wenige Monate zuvor – in Mecklenburg-Vorpommern nicht schlecht.

Literatur:

Bräuninger, Thomas und Marc Debus (2011): Parteienwettbewerb in den deutschen Bundesländern. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.