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Expertise integrieren statt outsourcen – das Modell der „Kampa“ war gestern

Jeder erinnert sich an die historische Bundestagswahl von 1998. Dem charismatischen SPD-Kandidaten Gerhard Schröder gelang damals der Regierungswechsel, der zudem nicht auf einer Entscheidung politischer Eliten beruhte (wie etwa der Wechsel von Schmidt zu Kohl im Jahr 1982), sondern einem überzeugenden Wahlsieg zu verdanken war (vgl. den Beitrag von Andreas Wüst zu Wählerbindungen). So zog Schröder nach 16 Jahren schwarz-gelber Regierung mit einer rot-grünen Allianz ins Kanzleramt ein.

Natürlich waren es nicht nur seine Telegenität und seine Persönlichkeit, die der SPD zu einem überzeugenden Sieg verhalfen. Auch die innovative und hochprofessionalisierte Kampagne der SPD trug einen nicht unerheblichen Teil dazu bei. Die Wahlkampfzentrale „Kampa“ der SPD setzte damals einen Meilenstein in der Wahlkampfkommunikation und so wird der Wahlkampf 1998 von Experten nicht umsonst als der erste vollständig professionalisierte bezeichnet. Eine der Zauberformeln war dabei die Loslösung der Wahlkampfzentrale von der Parteizentrale, das sogenannte „outsourcing“ der Wahlkampfexpertise. Die Parteiführung entwickelte ihre Wahlkampfstrategien und Botschaften räumlich getrennt von der Parteizentrale und setzte vor allem auf die Zusammenarbeit mit Beratern und Agenturen. Dieser erlauchte Kreis an Personen war der Dreh- und Angelpunkt der Kampagne, die Parteizentrale wie auch die Mitglieder spielten die zweite Geige. Schnelle, zentralisierte Entscheidungen ohne Diskussionen mit Parteimitarbeitern und Mitgliedern, so lautete das Credo. Dieses Rezept wurde zum Erfolg, als Dauerbrenner taugt es jedoch nicht.

Mit der rasanten Entwicklung des Internets und neuer Informations-und Kommunikationstechnologien können es sich die Parteien heute einfach nicht mehr leisten, ihre Parteizentralen und die Mitglieder außen vor zu lassen. Ohne grassroots campaigning, online communities und Multiplikatoreneffekte lässt sich 2009 kein Wahlkampf gewinnen. Ein professionalisierter Wahlkampf setzt auf Mobilisierung und Koordinierung der Parteibasis durch Internet und direct marketing Elemente: Für diese kommunikative Leistung brauchen die Parteien die Mitarbeiter ihrer Parteizentralen, eine ausgelagerte Wahlkampfzentrale wie bei der Kampa erschwert einen reibungslosen Zugriff auf Personalressourcen und in-house Expertise. Auch ist es die Parteizentrale, die den Kommunikationsfluss zwischen Parteielite und Mitgliedern sicherstellt. Betrachteten die Parteien die Mitglieder in den letzten Jahren eher als unangenehmen Ballast, der Entscheidungen blockiert, so haben sie ihr Potential für den Wahlkampf 2009 wiederentdeckt. Als kommunikativer Knotenpunkt innerhalb der Parteiorganisation, der die interne Kommunikation mit Fraktion und Mitgliedern steuert, hat die Parteizentrale alle notwendigen Ressourcen, die Mitglieder anzusprechen und für den Wahlkampf zu mobilisieren.

So ist es kaum verwunderlich, dass selbst die SPD als Vorreiterin der externen Wahlkampfzentrale dieses Mal auf die Integration von Expertise und die Einbeziehung der Parteizentrale und der Mitglieder setzt. Die Wahlkampfzentrale der SPD, die „Nordkurve“, ist räumlich in das Willy-Brandt-Haus integriert und vereint erfahrene und neue Wahlkämpfer der Partei mit Agenturen und Beratern. Dreh-und Angelpunkt ist jetzt die Parteizentrale, die mit Hilfe ihrer integrativen Position innerhalb der Parteiorganisation das Wahlkampfkonglomerat aus Parteimitarbeitern, Politikern, Parteimitgliedern, Freiwilligen sowie Agenturen und Beratern zusammenführt und steuert. Organisationstheoretisch betrachtet ist das ein guter Schachzug: Die pivotale Funktion und die Personalressourcen der Parteizentrale werden genutzt und das Potential der Mitglieder ausgeschöpft. Am Beispiel der SPD zeigt sich deutlich: Parteien sind durchaus lernende Organisationen, die Trends erkennen und in ihre Strategie aufnehmen. Mit anderen Worten: Ihrem in der Fachliteratur viel diskutierten Niedergang bieten die Parteien mit Organisationswandel die Stirn.

 

Seit‘ an Seit‘ oder nicht Seit‘ an Seit‘? Egal.

1. Mai – Tag der Arbeit, der Arbeiter, der Arbeiterbewegung und der Arbeiterpartei. Doch das Verhältnis zwischen den Gewerkschaften (als gesellschaftlicher Organisation der Bewegung) und der SPD (als ihrem Arm im Parteiensystem) gestaltet sich zunehmend schwierig. Die wechselseitige Entfremdung fand ihren Höhenpunkt in der Politik der „Äquidistanz“ der Gewerkschaften im Vorfeld der Bundestagswahl 2005. Die Gewerkschaften sahen sich in gleicher Distanz zu allen Parteien. Erst allmählich haben SPD und Gewerkschaften seit dem wieder zueinander gefunden.
Das mediale Echo auf dieses schwierige Verhältnis (und seine neuesten Entwicklungen) ist zumeist beachtlich – doch was davon kommt eigentlich bei den Wählerinnen und Wählern an? In einer Studie im Vorfeld der Bundestagswahl 2005 sollte eine repräsentative Stichprobe der Deutschen die Frage beantworten: „Wie ist das eigentlich in diesem Wahlkampf – unterstützen Ihres Wissens nach die Gewerkschaften eine bestimmte Partei oder nicht?“, wobei die richtige Antwort im Sinne der seinerzeit gültigen DGB-Poliitk der Äquidistanz „keine Partei“ gewesen ist. Die folgende Grafik zeigt die Antworten der Befragten:

37 Prozent der Befragten gaben damals unumwunden zu, die Antwort nicht zu kennen, 25 Prozent sahen die SPD und Gewerkschaften – entgegen der DGB-Politik – weiterhin Seit‘ an Seit‘, ein Drittel der Befragten gab die richtige Antwort. Bemerkenswert ist dabei, wie weitere Analysen von Rüdiger Schmitt-Beck und Jens Tenscher gezeigt haben, dass gerade interessierte Bürger häufiger daneben lagen. Schließlich zeigen ihre Ergebnisse, dass von diesen Wahrnehmungen praktisch kein direkter Einfluss auf Wahlentscheidungen der Bürger ausgeht.
Ob Seit‘ an Seit‘ oder nicht ist demnach nicht sonderlich wichtig.

Weitere Informationen:
Rüdiger Schmitt-Beck, Jens Tenscher: Divided We March, Divided We Fight: Trade Unions, Social Democrats, and Voters in the 2005 German General Election. In: Farrell, David/Schmitt-Beck, Rüdiger (Hrsg.), Non-Party Actors in Electoral Politics. The Role of Interest Groups and Independent Citizens in Contemporary Election Campaigns. Baden-Baden, 2008 (S. 151-182).

 

Ungebundene Wähler – Dichtung und Wahrheit

Bis weit in die 1980er Jahre hinein war auf die deutschen Wähler Verlass. Es gab zwar hin und wieder einmal Schwankungen der Wahlergebnisse, aber die Regierungsparteien blieben meist die alten. Kam es zu Regierungswechseln, waren dies mit wenigen Ausnahmen Eliten- und nicht Wählerentscheidungen. Der Wahlforscher Dieter Roth zählte bis 1987 bei 100 Landtagswahlen lediglich sieben Regierungswechsel (7%), die durch die Wähler herbeigeführt wurden. Von 1987 bis 2005 waren es bei 69 Landtagswahlen jedoch schon 22 (32%). Die Bundestagswahlen 1998 und 2005 sind die bislang einzigen Belege für durch die Wähler erzwungene Regierungswechsel auf Bundesebene. Die gängige Interpretation für diese Veränderungen ist: Durch die Auflösung von Milieus, Bedeutungsverluste von Kirchen und Gewerkschaften sowie nachlassende Parteibindungen habe sich die Parteienlandschaft verändert, sodass es zu stärkeren Schwankungen der Parteianteile komme und Wahlausgänge weniger gut vorhersehbar würden.

Soweit ist diese Diagnose Konsens. Doch sollte man nicht soweit gehen zu behaupten, es gäbe kaum noch parteigebundene Wähler und die Wahlforschung könne zum einen nichts mehr vorhersagen und damit zum anderen getrost einpacken. Knapp zwei Drittel aller Wahlberechtigten, die in den letzten drei Jahren von der Forschungsgruppe Wahlen interviewt wurden, geben an, langfristig einer Partei zuzuneigen (sie haben eine sogenannte Parteiidentifikation = PI). Wie das Diagramm zeigt, gaben unmittelbar vor der Bundestagswahl 2005 über zwei Drittel der Wähler von SPD und CDU/CSU an, der Partei auch langfristig zuzuneigen. Und weniger als ein Drittel der Wähler sämtlicher Parteien gab an, nicht an eine Partei gebunden zu sein. Parteigebundene Wähler sind demnach eindeutig in der Mehrzahl: Welche Parteien sie im September wählen werden, wissen wir zum größten Teil schon jetzt.

Wahlentscheidung 2005: Anteile der Wähler…

Zweitstimme, Angaben in Prozent. Quelle: Dieter Roth/Andreas Wüst, Abwahl ohne Machtwechsel, in: Eckhard Jesse/Roland Sturm, Bilanz der Bundestagswahl 2005, S. 68.

Für jede Partei und noch besser für jedes potenzielle Koalitionslager lässt sich so eine Art „Wählersockel“ bestimmen. Denn was wir heute noch nicht wissen, ist das Ausmaß koalitionstaktischen Wahlverhaltens. Wie das Diagramm zeigt, erhielt vor allem die FDP Unterstützung von Anhängern anderer Parteien (bei genauerer Prüfung fast ausschließlich von Anhängern der CDU und der CSU), in deutlich geringerem Umfang ebenso die Grünen sowie die Linke (hier: primär von SPD-Anhängern). Das Ausmaß koalitionstaktischen Wahlverhaltens lässt sich bestenfalls wenige Wochen vor der Wahl abschätzen. Und noch später wissen wir, wie sich die Ungebundenen entscheiden werden. Möglicherweise ist diese Minderheit der ungebundenen Wähler letztlich wahlentscheidend. Aber auch sie sind für die Wahlforschung keine Unbekannten: Sie lassen sich über Gruppenmerkmale, ihre individuellen Sorgen, wahrgenommene Probleme, den Parteien zugeschriebene Lösungskompetenzen und auch durch Präferenzen für Politiker, insbesondere für die Kanzlerin oder den Herausforderer, trotz allem passabel verorten. Je näher die Wahl rückt, desto geringer wird die Anzahl der „Unbekannten“ werden. Ein Grund für Wahlforscher, das Feld zu räumen, sind ungebundene Wähler wahrlich nicht.

 

Erstwähler-Feldzug im Internet: Wahlkampf auf studiVZ

Der Wahlkampf läuft im Internet bereits auf Hochtouren – ob auf den einzelnen Kandidaten- oder Parteiseiten, überall wird auf die kommenden Wahlen hingewiesen: bunt, frech, chic, kommunikativ. Ein neuer Schwerpunkt liegt dieses Mal sicherlich auf der Nutzung der sozialen Netzwerke wie Facebook oder MySpace. Seit heute finden wir die im Bundestag vertretenen Parteien nun auch auf studiVZ, der Internetplattform für Studenten und Schulabgänger – Erstwähler eben. Laut Angaben der Betreiber tummeln sich in den Netzwerken studiVZ, schülerVZ und meinVZ über 10 Millionen Wahlberechtigte, davon 70 Prozent aller Erst- und Jungwähler.

Und hier gilt es genau hinzuschauen: Das Internet wird nicht als „bloßes“ Kommunikationsmedium betrieben, über das billig und schnell Informationen übermittelt werden können. Das Internet ist Organisationsmedium. Parteien speisen ihre Themen und Botschaften in die sozialen Netzwerke ein. Hierdurch entsteht eine persönliche und direkte Wähleransprache. Und schon die klassischen amerikanischen Wahlstudien aus den 40er Jahren zeigen uns: Unentschlossene Wähler sind im persönlichen Gespräch am ehesten zu überzeugen. Neuere Erkenntnisse bestätigen dies. Wem es also gelingt, mit positivem Touch in den Alltag der Menschen vorzudringen, der ist schon fast am Ziel. Nun ersetzen das Internet bzw. soziale Netzwerke wie Facebook und MySpace nicht die politische Diskussion abends bei Bier oder Wein, aber sie ermöglichen die flächendeckende Organisation der direkten Wähleransprache. Dass diese Art der Kontaktpflege funktioniert, zeigen Untersuchungen zur Verweildauer im Internet und in sozialen Netzwerken. Weltweit steigt die Dauer des Aufenthalts in solchen Netzwerken weit überdurchschnittlich stark an:

Anstieg der Verweildauer im Internet und auf Facebook

Quelle: Fotostrecke zur Nielsen-Studie „Global Faces and Networked Places“ auf SPIEGEL ONLINE

Die Nutzer sehen im sozialen Netzwerk die Kommentare und Antworten von Mitgliedern ihrer Gruppen, aus ihrer community, zu bestimmten Politikern. Und das animiert bzw. überzeugt. In der politischen Soziologie wird in diesem Zusammenhang der Begriff Sozialkapital verwandt, das bestenfalls auch in langfristiges soziales Vertrauen mündet. Wenn ich einen Facebook-Eintrag von Kajo Wasserhövel oder Angela Merkel mit „Daumen hoch – gefällt mir“ kommentiere, dann ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass Freunde aus meinem Netzwerk, die vorher keine klare Meinung über diese Politiker hatten, sich meiner Meinung anschließen.

Aber: Irgendwann muss auch mal der Sprung von der online-Plattform ins reale Leben stattfinden. Die Wähler müssen die virtuell vermittelten Botschaften verinnerlichen und sich an sie erinnern, wenn sie in der Wahlkabine stehen. Denn bisher gilt immer noch: Nur dort kann gewählt werden.

 

Steinmeier auf Stoibers Spuren?

„Die SPD hat viel aufzuholen“ stellte Renate Köcher vom Institut für Demoskopie in Allensbach in ihrem jüngsten demoskopischen Bericht für die Frankfurter Allgemeine Zeitung fest. Ein wichtiges Defizit erkannte sie darin, dass Frank-Walter Steinmeier in der Kanzlerfrage deutlich hinter Angela Merkel zurückliege. Bereits am Freitag darauf vermeldete das ZDF-Politbarometer: „Steinmeier legt bei Kanzlerfrage zu“. In der jüngsten Erhebung der Forschungsgruppe Wahlen ist demnach der Vorsprung Angela Merkels auf ihren Herausforderer von rund 30 Prozentpunkten im März auf 20 Prozentpunkte zusammengeschmolzen. Binnen weniger Wochen ist Steinmeiers Rückstand also um ein Drittel geschrumpft. Sollte es für den Außenminister dann nicht ein Leichtes sein, in den Monaten bis zum Wahltag mit der Kanzlerin gleichzuziehen? Haben wir also den Beginn einer fulminanten Aufholjagd erlebt?

Auszuschließen ist das nicht, aber eine Garantie dafür gibt es erst recht nicht. Die Zustimmung zu Frank-Walter Steinmeier in der Kanzlerfrage dürfte wesentlich davon profitiert haben, dass die SPD am vorausgegangenen Wochenende ihren Wahlkampfauftakt mit dem Außenminister in der Hauptrolle inszeniert hatte und die Massenmedien ausführlich über dieses Ereignis und die Wahlkampfbotschaften der SPD berichtet hatten. Derartige Konstellationen sind nicht neu. Beispielsweise beherrschte zu Beginn des Wahljahres 2002 das denkwürdige Wolfratshauser Frühstück Edmund Stoibers mit Angela Merkel, das dem damaligen bayerischen Ministerpräsidenten die Kanzlerkandidatur der Unionsparteien bescherte, die Medienberichterstattung. Nach diesem Ereignis schnitt Stoiber in der Kanzlerfrage merklich besser ab als vorher. Allerdings war dies nicht der Auftakt zu einer erfolgreichen Aufholjagd, denn Stoiber gelang es – laut Politbarometer der Forschungsgruppe Wahlen – im gesamten Wahljahr nicht, den Amtsinhaber Gerhard Schröder in der öffentlichen Meinung auszustechen. Auch in den USA steigt die in Umfragen gemessene Zustimmung zu einem Präsidentschaftskandidaten regelmäßig in den Tagen nach seiner Nominierung deutlich an. Doch dieser Popularitätszuwachs ist oft nicht von langer Dauer. Denn nach einem Nominierungsparteitag mit seinen einseitig positiven Aussagen über einen Kandidaten ziehen bald wieder andere Ereignisse und für den Bewerber weniger angenehme Meldungen die Aufmerksamkeit der Medien und der Öffentlichkeit auf sich.

Die SPD und ihr Kanzlerkandidat sind daher gut beraten, den jüngsten Popularitätsschub Steinmeiers nicht überzubewerten. Er zeigt, dass gute Öffentlichkeitsarbeit Früchte tragen kann, und kann daher als Ansporn für die künftige Arbeit dienen. Doch sollte man ihn nicht als Beleg dafür missverstehen, dass Frank-Walter Steinmeier – wie Gerhard Schröder im Jahr 2005 – einen Rückstand in der Wählergunst bis zum Wahltag in einen Vorsprung verwandeln werde. Etwas aussagekräftiger wäre wohl das Ausbleiben eines Popularitätsschubs gewesen. Denn wenn es dem SPD-Kandidaten selbst unter derart günstigen medialen Bedingungen nicht gelungen wäre, in der öffentlichen Meinung Boden gutzumachen, hätte man sich in der SPD – allem demonstrativen Optimismus zum Trotz – sehr ernsthaft mit einigen unangenehmen Fragen beschäftigen müssen.

 

Europawahlen – reden wir noch einmal darüber!

Die Wahlen zum Europaparlament finden am 7. Juni statt. Aber wie viele Deutsche werden hingehen, fragte ich mich kürzlich in diesem Blog. Denn die Umfragergebnisse des Eurobarometers lassen befürchten, dass sich das Gros der Bundesbürger kaum mehr dafür interessieren wird als für die letzte Wasserstandsmeldung im Radio. Ich finde immer noch, das ist merkwürdig und erklärungsbedürftig zugleich. Denn zum einen wünscht sich eine relative Mehrheit der Deutschen mehr Kompetenzen für das Europaparlament. Zum anderen wirken sich europäische Entscheidungen immer stärker auf unser alltägliches Leben aus, und es ist ja eigentlich unser gutes demokratisches Recht, unsere „Bestimmer“ mit zu bestimmen. Wie lässt sich das erdrückende Desinteresse also verstehen? Oder anders gewendet: Warum sind die Deutschen zur Europawahl (nicht) motiviert? In den Blog-Kommentaren zu diesem Thema wurden zwei zentrale Erklärungsangebote gegeben.

Erstens wurde die unzureichende Medienberichterstattung über die EU genannt. Diese These ist im Zeitalter der Massenkommunikation erst einmal ziemlich plausibel. Denn das meiste, was wir heute über Politik erfahren und wissen, erfahren und wissen wir über die Berichterstattung in den Massenmedien. Das heißt im Umkehrschluss, dass wir weniger über Politik erfahren und wissen, wenn nicht in Fernsehen, Radio und Zeitungen berichtet wird.

Tatsächlich belegen medienanalytische Untersuchungen zur vorangegangenen Europawahl 2004 – aber auch zur Euro-Einführung vor rund zehn Jahren – eine auffällige Zurückhaltung der Massenmedien, wenn es um die Europäische Union geht. Dennoch: Um damit die sinkende Wahlbeteiligung der Deutschen zu erklären, müsste wenigstens ansatzweise nachgewiesen werden, dass die Massenmedien zwischen Ende der 1970er und Anfang der 1990er Jahre, als noch deutlich mehr als die Hälfte der Deutschen bei den Europawahlen ihre Stimme abgaben, stärker und häufiger über europäische Themen berichtet haben als heute. Und selbst wenn dieser Befund zu untermauern wäre, erlaube ich mir trotzdem noch ein bisschen Skepsis. Denn mehr oder weniger implizit wird hier ja davon ausgegangen, dass Informationen bereits zum Urnengang motivieren. Das kann so sein, muss es aber nicht. Die Botschaft, die von den jeweiligen Informationen transportiert wird, ist Sache unserer Interpretation und kann für den einen positiv und den anderen negativ ausfallen, zum Handeln motivieren oder genau das Gegenteil auslösen, nämlich Abstinenz, Zurückhaltung und Verweigerung. Letzteres versucht uns zum Beispiel Spiegel-Journalist Gabor Steingart mit seinen öffentlichen Bekenntnissen eines Nichtwählers deutlich zu machen. Damit bleibt also weiterhin die wichtige Frage zu beantworten, was die Deutschen zur Teilnahme an der Wahl des Europaparlaments motivieren und was sie davon abhalten könnte.

Darauf wurde in den Blog-Kommentaren eine zweite, aufschlussreiche Antwort gegeben: Der Europäischen Union fehlt es an Herz und Seele. Was diese Überlegung aus meiner Sicht interessant macht, ist zum einen die damit verknüpfte Frage, wie stark sich die Deutschen mit der Europäischen Union als Schicksalsgemeinschaft identifizieren. Solange das Schicksal der EU in den Augen der meisten Deutschen nicht mit dem Schicksal ihres Landes verknüpft ist, solange etwa „deren“ Abgeordnete auch nicht als „unsere“ Abgeordneten wahrgenommen werden, solange wird sich die Auf- und Erregung bei der Auswahl jener Repräsentanten in Grenzen halten. Und es wird auch entsprechend wenig Motivation geben, in die Wahl von Leuten zu investieren, die gar nicht als diejenigen wahrgenommen werden, die „unsere“ Interessen in einem Repräsentationsorgan vertreten, dessen Entscheidungen Einfluss auf „unser“ kollektives Schicksal nehmen.

Zum anderen ist die Kritik an der herz- und seelenlosen EU aber nicht nur eine mögliche Erklärung für das verbreitete Desinteresse der Deutschen an europäischen Angelegenheiten, die Wahl zum Europäischen Parlament eingeschlossen. Es kann auch zu einem richtig großen Problem werden, wenn die Konsequenzen der als „kalt“ empfundenen, aber allgemeinverbindlichen europäischen Entscheidungen den Menschen immer stärkere Zumutungen und Belastungen abverlangen, die nur durch emotionale Gewissheiten ertragen und akzeptiert werden können. Das gilt vor allem dann, wenn Solidarität erwartet wird, also die Bereitschaft, zum Wohle anderer ein Stück vom eigenen Kuchen abzugeben.

Aus diesem Grund lohnt ein genauerer Blick darauf, wie sich die Bevölkerungszustimmung zur europäischen Integration in Deutschland entwickelt hat, um sie mit der Entwicklung der Wahlbeteiligung bei den Europawahlen zu vergleichen. Und tatsächlich zeigt sich in der folgenden Abbildung, dass nicht nur die Wahlbeteiligung zwischen 1979 und 2004 deutlich zurück gegangen ist. Beinahe halbiert hat sich auch die so genannte Netto-Unterstützung (Differenz von positiven und negativen Antworten) für die europäische Integration, wenn die Befragten darüber Auskunft geben sollen, ob sie die Mitgliedschaft Deutschlands in der EU für eine gute Sache halten.

Mit dieser Beobachtung ist natürlich kein Ursache-Wirkungs-Zusammenhang belegt. Allerdings ließe eine wachsende Distanz zum europäischen Integrationsprojekt kaum erwarten, dass sich die Menschen künftig stärker mit Europa als Schicksalsgemeinschaft identifizieren und es deshalb auch als notwendig und selbstverständlich betrachten, sich an der Wahl ihrer Repräsentanten zu beteiligen. Das aber wirft eine ganze Reihe neuer Fragen auf.

 

Erwin Sellering, die Zweite

Über Erwin Sellerings Aussage zu den Schwächen, aber eben auch Stärken der früheren DDR habe ich an dieser Stelle schon einmal einige Zahlen geliefert. Am Wochenende hat Sellering seine Aussagen noch einmal bekräft – und mittlerweile gibt es auch noch neue Zahlen, die dazu passen. Im Allbus 2008 konnten die ostdeutschen Befragten (wieder einmal) angeben, ob sie sich mit der früheren DDR und ihren Bürgern verbunden fühlen. Das Ergebnis – für Ostdeutschland insgesamt, aber auch aufgeschlüsselt nach Bundesland – zeigt die folgende Grafik:

Zwei Drittel der Bürger fühlen sich demnach auch weiterhin mit der früheren DDR verbunden – in Mecklenburg-Vorpommern wird dabei der höchste Wert überhaupt erreicht: Für rund 75 Prozent der Bürger gilt dies dort. Die neuerlichen Aussagen des wahlkämpfenden Sellering sind vor diesem Hintergrund (weiterhin) verständlich.

 

Plakativ und konfrontativ

Das Stilmittel ist in Deutschland noch immer außergewöhnlich: Die SPD eröffnet den Europawahlkampf 2009 mit einer Plakatkampagne, die dem vor allem aus den USA bekannten „negative campaigning“, dem Attackieren des politischen Gegners, sehr nahe kommt. Auf einem Wahlplakat steht beispielsweise der Slogan „Finanzhaie würden FDP wählen“, daneben prangt ein offensichtlich gefräßiger Hai. Erst bei genauerem Hinsehen entdeckt der Betrachter in der rechten unteren Ecke das Logo der SPD samt der programmatischen Forderung: „Für ein Europa, in dem klare Regeln gelten“. Außer dem Finanzhaie-Poster wurden auf der Internet-Plattform „Wahlkampf 09″ auch noch zwei weitere Plakate der Kampagne vorgestellt, welche die CDU als Befürworterin von Dumpinglöhnen und die Politik der Linkspartei als „heiße Luft“ bezeichnen.

„Negative campaigning“ ist umstritten, auch in der Wissenschaft. Zum einen widersprechen sich die durchgeführten Studien erheblich in der Frage, ob ein solcher Wahlkampf wirklich der eigenen Partei nützt. Schließlich werden primär nicht die eigenen Stärken, sondern die mutmaßlichen Schwächen des Gegners betont. Diese Form der politischen Auseinandersetzung könnten einige Wählerinnen und Wähler für unangebracht halten. Viele Wahlkampfmanager nehmen demnach offenbar in Kauf, dass unter einer solchen Negativkampagne das Ansehen der eigenen Partei leiden könnte. Man baut jedoch darauf, dass dieser Ansehensverlust sehr viel geringer ist als der, den die attackierte Partei zu erleiden hat.

Allerdings basieren die meisten Untersuchungen zu diesem Thema auf Wahlen in den USA, wo sich Wahlkämpfe gewöhnlich auf ein Duell zweier Parteien oder Kandidaten zuspitzen. Vermutlich wirkt die Logik („Der Verlust meines Gegners ist mein Gewinn“) hier besser, als in einem System mit fünf Parteien. Man könnte ja vermuten, dass von einem Plakat, auf dem die SPD die CDU angreift, insbesondere FDP, Grüne und Linkspartei profitieren. Dies mag ein Grund dafür sein, dass „negative campaigning“ bisher in deutschen Wahlkämpfen noch keine große Rolle spielt und auch die SPD hier eine vergleichsweise milde Variante gewählt hat.

Zum anderen kommen auch aktuelle Studien noch zu sehr unterschiedlichen Einschätzungen bezüglich der Effekte von Negativkampagnen auf die Wahlbeteiligung. Während einige Forscherinnen und Forscher keinen Einfluss sehen, weisen andere darauf hin, dass die Wahlbeteiligung unter diesen Kampagnen leiden könnte. Das Statement von SPD-Wahlkampfleiter Kajo Wasserhövel, diese „ungewöhnliche Kampagne“ werde Aufmerksamkeit erregen und die Wahlbeteiligung stärken, scheint jedenfalls bisher empirisch nicht belegbar zu sein.

Wir werden sehen, ob die Kampagnen im Superwahljahr 2009 an diesen Befunden etwas ändern werden…

 

Ein auferstandenes Zünglein an der Waage? Die FDP und ihr Wahlprogrammentwurf

Nicht nur die SPD, sondern auch die FDP hat mit ihrem „Deutschlandprogramm“ bereits einen Entwurf ihres Wahlprogramms veröffentlicht und damit zur Diskussion gestellt. Die Reaktionen der freidemokratischen Parteiführung auf die inhaltlichen Zielvorstellungen der SPD waren sehr kritisch: So war nicht nur von einem Linksruck der Sozialdemokraten die Rede, sondern auch von einem Dokument, mit dem die SPD ein Bündnis mit Grünen und Linken vorbereiten würde.

In der Tat können Wahlprogramme nicht nur als inhaltliche Botschaften an die Wähler gesehen werden, um diese von Position und Kompetenz in verschiedenen Politikbereichen zu überzeugen, sondern auch als Dokumente, die die inhaltliche Grundlage für künftige Koalitionsverhandlungen bilden. Denn diese werden sehr sicher stattfinden: keine Umfrage sieht CDU/CSU und SPD auch nur annähernd in einem Prozentbereich, der eine absolute Mandatsmehrheit im Bundestag für eine der beiden Parteien ermöglichen würde.

Die FDP stellt in diesem Bundestagswahlkampf – ähnlich wie in ihren Glanzzeiten bis zur Etablierung der Grünen auf Bundesebene in den 1980er Jahren – den heiß umgarnten Partner von Union und SPD dar. Während die Christdemokraten auf eine bürgerliche Mehrheit hoffen, so möchte Frank-Walter Steinmeier am liebsten Kanzler einer Ampelkoalition aus SPD, FDP und Bündnisgrünen werden. Nimmt man den seitens der SPD formulierten Ausschluss einer Allianz aus SPD, Grünen und Linken ernst (und ignoriert dabei die Handlungsweise der hessischen SPD nach den Landtagswahlen 2008), dann bleiben neben der – unbeliebten – großen Koalition nur solche Bündnisse als Alternativen übrig, die die FDP mit einschließen: neben den beiden genannten Varianten – bürgerliche Koalition und Ampel – sind dies die bei allen drei beteiligten Akteuren eher unbeliebte „Jamaika“-Variante aus Union, FDP und Grünen sowie ein im Moment jedoch fern einer Mehrheit in den Umfragen liegendes sozialliberales Zweierbündnis.

Lässt die aktuelle Version des freidemokratischen Wahlprogramms überhaupt eine Spekulation über mögliche Koalitionen mit SPD oder gar Grünen zu? Oder haben die Freidemokraten ihre inhaltlichen Positionen zur Wahl 2009 derart geändert, dass ein Bündnis mit Sozialdemokraten und Grünen wahrscheinlicher macht? Eine Analyse der Position des FDP-Wahlprogramms auf einer Links-Rechts-Achse kann Aufschluss darüber geben. Aufgrund der mit Hilfe der wordscores-Methode bestimmten Positionen der FDP-Bundestagswahlprogramme seit 1990 zeigt sich tatsächlich eine Veränderung in die linke Richtung zwischen 2005 und 2009. Da sich jedoch die SPD aufgrund ihres Wahlprogrammentwurfs ebenfalls nach links entwickelt hat, bleibt die Distanz zwischen Sozialdemokraten und Liberalen auf einer Links-Rechts-Achse nach wie vor deutlich ausgeprägt. Dies sollte eine Einbindung der FDP in eine Koalition mit der SPD oder ein „Ampelbündnis“ nicht unbedingt erleichtern. Ob das Wahlprogramm der Grünen als „verknüpfendes Element“ zwischen den inhaltlichen Vorstellungen von SPD und FDP dienen kann, lässt sich erst sagen, nachdem ein erster Entwurf des grünen Manifests für die Wahl im September vorliegt. Die FDP mag somit in viele zumindest nicht ausgeschlossene Koalitionsoptionen eingebunden sein, aber die Unterschiede zwischen ihrem Wahlprogramm und dem der Sozialdemokraten sind so deutlich, dass sich eine Einigung beider Parteien auf ein gemeinsames Regierungsprogramm sehr schwierig gestalten würde. Das ausschlaggebende Zünglein sind die Freien Demokraten zur Wahl 2009 somit nur rechnerisch, aber nicht inhaltlich.

Überraschend bleibt schließlich, dass sich die FDP nicht noch weiter im rechten, wirtschaftsliberalen Bereich platziert haben. Offenbar sind solche Töne gegenüber den Wählern in Zeiten düsterer Konjunkturprognosen nicht nur bei den Sozialdemokraten, sondern auch bei den Liberalen eher unerwünscht…

 

Marx oder Marienthal?

„Immer mehr führende Köpfe warnen nun vor sozialen Unruhen“, schreibt Spiegel Online heute unter der Überschrift „Wirtschaftseinbruch schürt Angst vor sozialen Konflikten“. Thesen zum Zusammenhang zwischen der wirtschaftlichen Lage (und insbesondere Wirtschaftskrisen) und sozialen Unruhen (bis hin zur Stabilität des politischen Systems) sind ein Evergreen. Die hohe Arbeitslosigkeit etwa ist eine Standarderklärung für den Niedergang der Weimarer Republik. Das empirische Eis, auf dem solche Behauptungen stehen, ist allerdings vergleichsweise dünn. In seiner epochalen Studie zu den Arbeitslosen von Marienthal konnte Paul F. Lazarsfeld eher feststellen, dass die Menschen im österreichischen Marienthal – einem von der Wirtschaftskrise der 1930er-Jahre besonders hart getroffenen Ort – im Zuge der Krise eher „müde“ geworden waren. Betrachtet man heute die Absicht etwa von Arbeitslosen, sich an bevorstehenden Wahlen zu beteiligen oder auch in anderer Form politisch aktiv zu werden, bestätigt sich dieses Bild. Arbeitslose gehen im Vergleich zu Erwerbstätigen seltener zur Wahl, sie interessieren sich auch eher weniger für Politik. Das Bestreiten des (schwierigen) Alltags steht für sie eher im Vordergrund als distante Phänomene wie Politik und Wahlen. Das macht soziale Unruhen (zumindest ausgehend von direkt Betroffenen) weniger wahrscheinlich, die Situation allerdings keinen Deut besser.