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Der Wunsch nach einem „einhändigen Ökonomen“ – eine Antwort auf Norbert Lammert

Um es gleich vorweg zu sagen: Ich bin ein großer Fan von Norbert Lammert und mag seinen Witz, seinen Stil, seine Gesprächsführung – nicht zuletzt haben wir dasselbe Fach studiert. Sein aktueller Rundumschlag zur Rolle von Experten in der Politik – festgemacht an der Kritik der Ökonomen am Euro-Krisenmanagement der Bundesregierung – lässt sich im Zusammenhang mit dem aktuellen Anlass nachvollziehen. Jedoch schießt Lammert nicht nur übers Ziel hinaus, sondern setzt auch das Verhältnis von Politik und Beratung in das falsche Licht.

Schon der amerikanische Präsident Harry Truman fragte einst nach einem „one-handed economist“ – von ihm ist der verzweifelte Aufruf überliefert: „Gebt mir einen einhändigen Ökonomen, alle meine ökonomischen Berater sagen: auf der einen Seite, auf der anderen Seite… [Give me a one-handed economist; all my economists say on the one hand, on the other…]“. Dieser one-handed economist soll klare Ratschläge geben, die idealerweise auf Mehrheitsmeinungen beruhen und, wenn sie dann umgesetzt sind, zu einem wunderbaren Resultat führen.

Dies steht allerdings im klaren Wiederspruch zum Grundverständnis von Wissenschaft; hier kann jeder sagen und publizieren, was er möchte: Der öffentliche bzw. medial vermittelte Mainstream sowie vermeintliche „political correctness“ (also die Berücksichtigung von sogenannten politischen Notwendigkeiten in der wissenschaftlichen Analyse) sollten keine Rolle spielen. Nimmt man dieses Credo jedoch ernst, so darf man sich nicht wundern, wenn seitens der Wissenschaft mitunter harte und auch nicht ausschließlich konstruktive Kritik geübt wird. Sie folgt schließlich ihren ganz eigenen Maßstäben und orientiert sich nicht immer an der politischen Realität. Diese Diskrepanz hat der Journalist und Wissenschaftler Thomas Leif in einem Plädoyer folgendermaßen zusammengefasst: „Hier treffen zwei Welten aufeinander, die sich im Kern wenig zu sagen haben, weil sie sich zwei entgegengesetzten verschiedenen Handlungssystemen verpflichtet fühlen.“

In der Politik ist die Währung Macht, in der Wissenschaft ist es die Erkenntnis. In der Politik müssen Ergebnisse schnell erzielt werden und umsetzbar sein; in der Wissenschaft ist Schnelligkeit keine entscheidende Kategorie und die Analyse muss in erster Linie möglichst objektiv sein und alle relevanten Aspekte berücksichtigen, die Frage der Umsetzbarkeit ist zweitrangig.

So viel zu den Idealen, denen Wissenschaft und Politik folgen – und die dazu führen, dass die Kommunikation und die Zusammenarbeit zwischen den beiden oft schwerfallen. Dabei können beide Systeme sehr voneinander profitieren: Politik braucht mehr denn je die (wissenschaftliche) Beratung. In einer Welt, die gekennzeichnet ist von einer rapide zunehmenden Komplexität, von einer rasant fortschreitenden Globalisierung, Internationalisierung und Europäisierung sowie von technischen und technologischen Entwicklungen, die unbekannte Chancen und Risiken mit sich bringen, sind Regierungen oder Parteien oder gar einzelne Politiker kaum in der Lage, alles relevante Wissen zu einem bestimmten Sachverhalt selbst zu erarbeiten. Diese Entwicklung erfordert spezialisierte wissenschaftliche Expertise, die deutlich über das z.B. in Ministerialverwaltungen vorhandene Know-how hinausgeht – insbesondere, wenn man den gleichzeitig stattfindenden und anhaltenden Stellenabbau in den Ministerien berücksichtigt.

Die Wissenschaft auf der anderen Seite würde sehr von einem stärkeren Praxisbezug, von einem Blick hinter die Kulissen profitieren. Dies würde der Frage der Anwendbarkeit von Forschungsergebnissen mehr Gewicht verleihen sowie das grundsätzliche Verständnis für die Situation der Politik und die damit verbundenen Restriktionen verstärken. Davon wiederum könnte auch die Hochschullehre profitieren. Gerade in Studiengängen, deren Absolventen politische Karrieren als attraktiv erachten, ist ein intensiver Austausch zwischen Politik und Wissenschaft explizit erwünscht.

Dafür, wie dieser Kontakt aussehen kann, gibt es keine Patentlösungen. An vielen Stellen findet Austausch statt, allerdings wird allseits noch immer ein Mangel an Verständnis des Gegenüber für die eigene Situation beklagt. So ist die Beschwerde zu deuten, die Norbert Lammert mit recht drastischen Worten vorgebracht hat. So ist aber auch die Frustration der Wissenschaft zu deuten, oftmals kein Gehör zu finden und lediglich als Feigenblatt für politisch ausgehandelte Entscheidungen zu dienen. Daher möchte ich abschließend an beide Seiten einige Denkanstöße richten.

An die Politik: wissenschaftliche Politikberatung darf nicht als Produkt verstanden werden, das auf Knopfdruck schnell abzurufen ist – „Quick fix“-Lösungen sind nicht die Stärke der Wissenschaft. Wissenschaftliche Politikberatung kann dann sinnvoll eingesetzt werden, wenn sie als Prozess verstanden wird, d.h. dauerhaft in die politische Lösungssuche eingebunden ist.

An die Berater: Der Blick aus dem Elfenbeinturm heraus kann sehr erfrischend sein. Die Wissenschaft sollte sich der Politik stärker öffnen, auch wenn diese mitunter Forderungen stellt, die kaum zu erfüllen sind. Natürlich gibt es immer Pro und Kontra und gewisse Sachverhalte lassen sich einfach nicht auf nur einer A4-Seite hinreichend detailliert darstellen. Aber allein beim Versuch, der politischen Logik zu entsprechen, lernt man viel über die Politik, die eigene Disziplin und sich selbst.

Wenn es ab und an mal Wissenschaftler gibt, welche bereit sind, sich dieser Logik anzupassen, genießen diese Personen oftmals besondere Aufmerksamkeit. Der amerikanische Nobelpreisträger Paul Krugman wird seit Jahren explizit als „one-handed economist“ gefeiert – und kritisiert. Die deutschen Ökonomen mögen herausgehobene Stellungen in der Bearbeitung von Grundsatzfragen einnehmen (siehe z.B. Sachverständigenrat oder die Gemeinschaftsdiagnose), mit tagespolitischen Äußerungen sind sie jedoch im Allgemeinen vorsichtiger. Folgerichtig verursachte die Ausnahme von der Regel – der Offene Brief der 160 – so großen Wirbel.

Er ist eine Seltenheit und doch auch ein Zeichen dafür, dass die Wissenschaft in Deutschland zunehmend das versucht, was für beide Seiten notwendig ist: mit der Politik in Kontakt zu treten, mit ihr zu streiten und voneinander zu lernen.

 

Die Waffenlobby bei den Piraten

Die Piraten sind bekanntlich sehr stolz auf ihre Liberalität. Sie wollen freie Daten, freie Bildung, freien S-Bahn-Verkehr. Nur konsequent, dass auch ihr Einstellung zum Waffenrecht äußerst freiheitlich daherkommt.

In ihrem Wiki solidarisiert sich die zuständige AG Waffenrecht mit den „legalen Waffenbesitzern“ in der Republik. Deren „Persönlichkeitsrechte“ würden durch die deutsche Gesetzgebung stark eingeschränkt und in der öffentlichen Debatte oft vorschnell diskriminiert. Schuld daran sei die „selten sachliche Berichterstattung durch die Medien“. Die ganze Thematik, so die Waffen-Piraten, sei bislang „durch emotionale Standpunkte“ geprägt gewesen und „zu wenig rational behandelt.

Die Argumentation steht im Kontrast zu anderen Piraten-Positionen, die für Abrüstung und Friedfertigkeit eintreten. Eher erinnert sie an Schützenvereine und die in Deutschland so mächtige Waffenlobby, an der noch fast jeder Reformversuch gescheitert ist. Weiter verwunderlich ist das allerdings nicht, wenn man sich vergegenwärtigt, wer dieser Waffen-AG angehört.

Ein aktives Mitglied heißt Cathy, zumindest in der Wiki-Sprache. Dahinter verbirgt sich die Inhaberin eines bekannten Berliner Waffengeschäfts. Von „Action Targets“ bis „Zielfernrohre“ gibt es hier alles zu kaufen, was das Schützenherz erfreut. Auch unter den übrigen Initiatoren sind mehrere Sportschützen, Jagdscheinbesitzer und Ex-CDU-Mitglieder.

Allerdings wären die Piraten nicht diese diskursive selbstironische Truppe, an die man sich inzwischen gewöhnt hat, gäbe es nicht längst eine innerparteiliche Gegenbewegung. Kritiker der AG Waffenrecht haben sich in der AG Kriegswaffenrecht zusammen gefunden.

Sie posten zum Beispiel: „Durch das vermehrte Auftauchen von gefährlichen Tieren, wie zum Beispiel Problembären und neuerdings auch Wölfen in den Wäldern Deutschlands ist eine Jagd ohne Automatikbewaffnung wie ein Angelausflug ohne Dynamit. Aber auch die einheimische Fauna bietet Gefahren: Bei einem Waldspaziergang können schon heute unschuldige Kinder in die rasiermesserscharfen Spitzen von Igeln fallen! Die AG Kriegswaffenrecht würde daher niemals einen Ausflug ohne Sturmgewehr wagen.“

Vermutlich ist das ironisch gemeint.

 

Positives zum Negativen Stimmgewicht

Von Christian Hesse

In der letzten Ausgabe des Nachrichtenmagazins Spiegel vom 26.5.2012 wird unter dem Titel „Mehr Stimmen, weniger Sitze“ das neue deutsche Wahlrecht für Bundestagswahlen thematisiert, das am 3.12.2011 in Kraft getreten ist. Dabei wird kein gutes Haar an dessen Sitzzuteilungsverfahren gelassen. Die Möglichkeit der Überhangmandate führe unter bestimmten Umständen zu „willkürlichen und widersinnigen“ Ergebnissen. Die Berichterstattung des Spiegels möchte ich hier durch meine eigene Perspektive ergänzen. Denn ich habe mich in den letzten Monaten mit den mathematischen Eigenschaften des Gesetzes beschäftigt und komme alles in allem zu einer positiven Einschätzung.

In aller Kürze noch einmal zur Historie: Das Bundesverfassungsgericht hatte mit seinem Urteil vom 3.7.2008 das seinerzeit geltende Wahlrecht zum Deutschen Bundestag in Teilen für verfassungswidrig erklärt und den Gesetzgeber verpflichtet, eine verfassungsgemäße Neuregelung vorzunehmen. Das Gericht hatte nicht die Möglichkeit des Auftretens von Überhangmandaten moniert, sondern vielmehr das Phänomen des sogenannten Negativen Stimmgewichts. Dieses Phänomen beschreibt die in einigen Sitzzuteilungsverfahren vorkommende Paradoxie, dass hypothetische Zweitstimmengewinne für eine Partei in einem Bundesland (relativ zum tatsächlichen Wahlergebnis) unter ganz bestimmten Bedingungen für diese Partei zu einem Verlust von Mandaten auf Bundesebene führen können oder umgekehrt.

Grundsätzlich muss man sich bei der Betrachtung von Wahlsystemen einen ganz zentralen Punkt bewusst machen: Ein perfektes, in jeder Hinsicht makelloses Sitzzuteilungsverfahren gibt es nicht. Bei jedem Entwurf eines Zuteilungsverfahrens sind Abwägungen hinsichtlich des Grades der Durchsetzung zentraler Wahlrechtsprinzipien (Gleichheit der Wahl, Unmittelbarkeit der Wahl) vorzunehmen. Jede Stimme soll den gleichen Wert haben und es sollen zwischen der Stimmabgabe und dem Wahlergebnis keine vermittelnden Instanzen stehen.

Das Bundesverfassungsgericht hatte dem Gesetzgeber nun aufgetragen, den Systemfehler des Negativen Stimmgewichts zu beseitigen. Allerdings nicht notwendigerweise für jede abstrakt konstruierbare Situation, sondern orientiert an in der politischen Wirklichkeit plausiblen Fallgestaltungen. Daraufhin hat der Gesetzgeber nach intensiven Diskussionen und Expertenanhörungen ein neues Wahlrecht verabschiedet, das diesen Kriterien gerecht werden soll. Was ist davon zu halten?

Zum einen ist auch das neu geltende Wahlrecht nicht vollständig frei von Eigenheiten. Damit bewirkt es Differenzierungen bei den Idealanforderungen der Verfassungsprinzipien der gleichen und unmittelbaren Wahl. Zudem lässt das neu geltende Wahlrecht die Möglichkeit des Effekts des Negativen Stimmgewichts weiterhin zu.

Allerdings ist hierbei entscheidend, dass die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten dieses Effekts im neu geltenden Wahlrecht signifikant geringer ist als im Wahlrecht alter Fassung und nur noch im Promillebereich liegt. Somit bestehen zwar theoretische Möglichkeiten des Auftretens von Negativem Stimmgewicht. Es ist jedoch angemessen, von seltenen Ausnahmefällen zu sprechen.

Die grundsätzliche Frage in der aktuellen Debatte zum neuen Wahlrecht lautet: Ist es urteilskonform im Sinne der Entscheidung des Bundesverfassungsgericht vom 3.7.2008? Diese Frage ist mit Ja zu beantworten: Fälle von Negativem Stimmgewicht sind sehr unwahrscheinlich geworden. Das neu geltende Wahlrecht erfüllt den Regelungsauftrag des Bundesverfassungsgerichts.

Ob das neue Wahlrecht aber Bestand hat, entscheidet sich ab kommendem Dienstag: Für den 5. Juni 2012 hat der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts die mündliche Verhandlung über die Klagen gegen das Gesetz von SPD, Bündnis90/Die Grünen und von rund 3.000 Bürgerinnen und Bürgern angesetzt.

Christian Hesse ist Professor für Mathematische Statistik am Institut für Stochastik und Anwendungen der Universität Stuttgart. Er war im Rahmen der Verhandlung des neuen Wahlrechts vor dem Bundesverfassungsgericht Gutachter für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion.

 

Eurovision Union

Von Sebastian Fietkau

In seiner Schlussfolgerung vom 22. Juni 1993 legte der Europäische Rat in Kopenhagen erstmals einen Katalog von verfassungsrechtlichen Anforderungen für beitrittswillige Staaten fest. Allerdings haben die Ratsmitglieder neben wirtschaftlichen und politischen Kriterien eine entscheidende Voraussetzung nicht bedacht: Zur Aufnahme in die EU benötigte es offensichtlich mindestens eine Teilnahme am Eurovision Song Contest (#ESC). Bis zu dem an diesem Wochenende stattfindenden 57. ESC in der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku wurden ausschließlich Länder in die Europäische Union aufgenommen, die vorher ihr musikalisches Talent den europäischen Zuschauern unter Beweis gestellt haben.* Gleiches gilt für alle aktuell anerkannten Beitrittskandidaten und selbst nur bei gestellten Aufnahmeanträgen lag eine vorherige Teilnahme am Liederwettstreit vor.

Die ursprüngliche Zielsetzung des ESC ähnelt dabei in gewisser Weise sogar der europäischen Vision von Monet & Co. Vor dem Hintergrund eines politischen zersplitterten und technisch zurückgeworfenen Europas gab es bereits 1955 erste Pläne der European Broadcasting Union (EBU) für eine gesamteuropäische Musikveranstaltung, welche zeitgleich in alle Teilnahmeländer übertragen werden sollte. Ohne jegliche politische Botschaften sollte der Kontinent friedlich vereint in der Musik ein Land samt Komponist und Interpreten zum Sieger wählen. Europa sollte einander wieder zuhören.
Im Startfeld des ersten Grand Prix Eurovision de la Chanson im Jahr 1956 konkurrierten alle zukünftigen Mitglieder der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (plus die Schweiz) schon zwei Jahre vor Inkrafttreten des EWG-Vertrags. Noch in den 1960er Jahren zogen sämtliche Länder der späteren EG-Norderweiterung von 1973 und der EFTA-Erweiterung von 1995 nach. Die bis dato diktatorisch regierten Länder Griechenland, Spanien und Portugal nahmen noch vor ihrer friedlichen Demokratisierung und den beiden Süderweiterungen in den 1980er am ESC teil. Und auch für die meisten Staaten des ehemaligen Ostblocks begann die musikalische vor der politischen Karriere im Europa der frühen 1990er Jahren und somit deutlich vor den späteren Ost-Erweiterungen von 2004, bzw. 2007.

Während die EU sechs weiteren Staaten einen offiziellen Kandidatenstatus eingeräumt hat, welche allesamt dem europäischen Publikum bereits vorstellig wurden, kommt die berechtigte Frage auf, wo die Vision über die Ausdehnung von Europa bei den Machern des Eurovision Song Contest aufhört. Klar zu Europa zählt für sie beispielsweise der gesamte westliche Balkan. Teilweise noch zu Kriegszeiten standen einige ehemalige jugoslawische Republiken auf der ESC-Bühne; dies alles vor dem Europäischen Rat in Thessaloniki 2003, bei dem die Balkanstaaten als potenzielle Beitrittskandidaten bestätigt wurden. Ebenso ist die Türkei seit 1975 ein fester Bestandteil des Teilnehmerfeldes; 36 Jahre vor dem offiziellen EU-Kandidatenstatus. Und selbst bei der gescheiterten EU-Bewerbung Marokkos von 1987 wurde sieben Jahre zuvor ein Beitrag zum Grand Prix entsandt. Tatsächlich wurde 1950 bei der Grenzziehung des teilnahmeberechtigten EBU-Raums fast der gesamte Mittlere Osten und nordafrikanische Raum – als teilweise noch kolonial verwaltete Gebiete europäischer Staaten – in die Planung miteinbezogen. Nach dem Arabischen Frühling scheint es also die besten Voraussetzungen für eine zukünftige Annäherung dieser Staaten an die EU zu geben. Potentielle Mitglieder könnten schon bald eine der entscheidenden Beitrittskriterien erfüllen und aus den europäischen Hauptstädten gäbe es dann vielleicht bald zu hören: Libya twelve point – la Lybie douze points.

Sebastian Fietkau ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung.

* Allein die Tschechische Republik debütierte 2007 im Eurovision Song Contest erst drei Jahre nach Aufnahme in die EU.

 

Was machen Piraten eigentlich im Parlament?

Von Jochen Müller und Christian Stecker

Nach Berlin, dem Saarland und Schleswig-Holstein ziehen die Piraten nun in den Düsseldorfer Landtag ein. Angesichts dieser Erfolge stellt sich die Frage, was Piraten eigentlich im Parlament machen. Bringen Sie frischen Wind und neue Themen oder führt die, von ihren Kritikern monierte, fehlende programmatische Breite zu einer geringen parlamentarischen Aktivität? Anders gefragt: Können Piraten nur twittern oder können sie auch parlamentarische Opposition?

Um diese Frage zu beantworten, werfen wir einen Blick auf die bisherigen Aktivitäten der Piraten im Berliner Abgeordnetenhaus, in dem sie seit dem 27. Oktober 2011 vertreten sind. Schauen wir uns zunächst nackte Zahlen an. Die Abbildung zeigt, wie häufig die Fraktionen seit Beginn der Legislaturperiode verschiedene parlamentarische Instrumente genutzt haben. Dabei handelt es sich zum einen um die verschiedenen Formen von Anfragen als klassisches Kontrollrecht gegenüber dem Berliner Senat und zum anderen um Anträge, in denen das Parlament oder der Senat zu einer bestimmten Handlung, z. B. einem Gesetz, aufgefordert werden.

Parlamentarische Aktivitäten im Berliner Abgeordnetenhaus: Prozentualer Anteil nach Fraktionen

Hinweis: orange = Die Piraten, grün = Bündnis 90/Die Grünen, lila = Die Linke, schwarz = CDU, rot = SPD; die Zahl in Klammern gibt jeweils die Gesamtzahl der jeweiligen Kategorie an

Es zeigt sich, dass die Piraten vergleichsweise zurückhaltend auftreten. Insbesondere bei den kleinen Anfragen und Anträgen fallen sie deutlich hinter die beiden anderen Oppositionsparteien Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke zurück. (Die ähnlich geringe Aktivität von CDU und SPD erklärt sich in ihrem Status als Regierungsfraktion.)

Betrachtet man die Inhalte der einzelnen Initiativen, zeigt sich zudem, dass die Piraten zu vielen Themen keine Positionen in die parlamentarische Debatte einbringen, sondern sich stark auf ihre Kernthemen Netzpolitik und Transparenz konzentrieren. So setzen sich von den elf Anträgen, für die die Piraten alleine verantwortlich zeichnen, fünf für einen besseren Datenschutz ein – insbesondere gegenüber staatlichen Ermittlungsbehörden (z. B. die Ablehnung des sogenannten Staatstrojaners). Weitere drei Anträge fordern die Offenlegung von Verträgen zwischen Landesregierung und Privatunternehmen. Ein Antrag verlangt, dass Wowereit und seine Kabinettkollegen künftig öffentlich tagen und beschließen. Demgegenüber decken die kleinen Anfragen etwas mehr Themen ab. Bei fünf von 19 kleinen Anfragen geht es zwar ebenso um Aspekte des Datenschutzes, es finden sich aber auch Anfragen zur Sozial- (Unterkunftskosten von Leistungsbeziehern), Bildungs- (Reform der Lehrerbildung) und Innenpolitik (Schutzpolizei-Laufbahnverordnung). Insgesamt bringen Piraten tatsächlich neue Themen ins Parlament. Für Bürger, denen neben Netzpolitik und Transparenz noch andere Themenfelder wichtig sind, dürfte dies allerdings noch etwas wenig sein.

Außer den Inhalten muss eine Betrachtung der parlamentarischen Aktivitäten der Piraten auch deren Form berücksichtigen. Neben der zuletzt diskutierten Verwendung von Fäkalsprache im Parlament und der Entfachung damit artverwandter Stürme heben sich die Piraten auch in der Sprache ihrer parlamentarischen Initiativen von den etablierten Parteien ab: Mitten im kalten Berliner Winter bewiesen sie ein Herz für das Wachpersonal des Abgeordnetenhauses und forderten die Aufstellung eines Wachhäuschens vor dem Eingang des Parlaments. In der Begründung von glattgeschliffenen Politikerdeutsch keine Spur: „Es ist saukalt und entgegen der Bekundungen seitens des jetzigen Parlamentspräsidenten ist noch nichts passiert.“

Christian Stecker ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Vergleichende Politikwissenschaft der Universität Potsdam.

Jochen Müller ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Oldenburg.

 

Eine „kleine Bundestagswahl“? Die programmatische Ausrichtung der Parteien in Nordrhein-Westfalen im Vergleich

Marc Debus und Jochen Müller
Die heutige Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen wird in den Medien häufig als „kleine Bundestagswahl“ bezeichnet, unter anderem weil NRW als dem einwohnerstärksten deutschen Bundesland eine große Bedeutung zukommt. Doch haben die Parteien an Rhein und Ruhr eine eigene Tradition: So gilt beispielsweise der dortige Landesverband der Union als stark wohlfahrtsstaatlich orientiert, was sich auch darin widerspiegelt, dass der Vorsitzende der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft (CDA), Karl-Josef Laumann, Fraktionsvorsitzender der CDU im Düsseldorfer Landtag ist. Es könnte sich demnach lohnen, die Positionen der Parteien in NRW mit denen der Bundesparteien zu vergleichen. Dies könnte auch Informationen zu den Chancen möglicher Koalitionen liefern, die auf Bundesebene als de facto ausgeschlossen gelten.

Auf der Basis vollständig computerisierter Inhaltsanalysen der Wahlprogramme der Parteien zu den Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen 2010 und 2012 sowie zur Bundestagswahl 2009 lassen sich die inhaltlichen Ausrichtungen der Parteien zwischen NRW und Bundesebene wie auch im Zeitvergleich kontrastieren.

Die folgende Abbildung, in der die Positionen auf einer wirtschafts- und einer gesellschaftspolitischen „Links-Rechts-Achse“ abgebildet sind, zeigt, dass insbesondere bei Union und FDP Unterschiede in der programmatischen Akzentsetzung zwischen NRW und Bund bestehen (die Positionen der Parteien zur Bundestagswahl 2009 sind in helleren Farben wiedergegeben als diejenigen zur den Landtagswahlen 2010 und 2012). Die CDU in NRW ist bei den Landtagswahlen 2010 in wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Fragen „linker“ und progressiver als die Bundespartei. Zur Wahl 2012 ist die nordrhein-westfälische Union jedoch wieder etwas nach rechts in wirtschafts- und sozialpolitischen Fragen gerückt. Die FDP an Rhein und Ruhr ist 2010 wie auch 2012 deutlich weniger wirtschaftsliberal ausgerichtet als es die Freien Demokraten zur Bundestagswahl 2009 waren.

Die Linke in NRW ist 2012 deutlich in die Mitte der wirtschafts- und sozialpolitischen Links-Rechts-Achse gerückt. Bei Grünen und insbesondere SPD ist der Unterschied zwischen Bundes- und Landesebene hingegen deutlich geringer. Die nordrhein-westfälischen Piraten verorten sich – wie auch in anderen Bundesländern – in einem bislang von keiner Partei besetzen Teil des wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Politikraums, was ein Erklärungsfaktor ihres Erfolgs sein könnte.

Die moderatere Ausrichtung der NRW-FDP könnte, wie im Blog-Beitrag von Thorsten Faas thematisiert, ein Fenster für eine sozialliberale Zusammenarbeit im Düsseldorfer Landtag leichter öffnen als auf Bundesebene. Dennoch ist die Distanz zwischen SPD und FDP in der Wirtschafts- und Sozialpolitik zur Landtagswahl 2012 deutlich größer als zwischen Sozialdemokraten und Union oder insbesondere zwischen den aktuellen Koalitionsparteien SPD und Bündnis 90/Grüne. Sollte sich also eine Mehrheit für Rot-Grün bei der Wahl in NRW ergeben, dann ist ein Bündnis beider Parteien aufgrund der geringen inhaltlichen Distanz sicher. Sollte es jedoch nicht für SPD und Grüne zu einer Mehrheit der Landtagsmandate reichen, dann müsste zur Bildung einer Ampelkoalition mit den Liberalen weniger programmatische Unterschiede überbrückt werden als auf Bundesebene – vorausgesetzt, die FDP möchte ein solchen deutliches koalitionspolitisches Signal senden.

 

Tour de Wahlomat 2012, heute: NRW und die Rückkehr der Sozialliberalen (zumindest ein bisschen)

Die große Tour des Wahlomaten durch die Republik geht weiter. Aktuell ist die Maschine in NRW stationiert. Wie schon bei den früheren Wahlen des Jahres im Saarland und in Schleswig-Holstein können wir für das größte deutsche Bundesland an Rhein und Ruhr anhand des Wahlomaten prüfen, wie nah oder fern sich die dortigen Parteien sind.

Im Rahmen des Wahlomaten nämlich werden den Parteien insgesamt 38 Thesen vorgelegt – mein Vorschlag, die Zahl netzgemäß auf 42 zu erhöhen, hat wieder kein Gehör gefunden. Diesen Thesen müssen die einzelnen Parteien entweder zustimmen, sie ablehnen oder aber sich neutral dazu positionieren. Auf der Basis der Antworten der Parteien lässt sich für jedes Parteienpaar ein Index der Übereinstimmung (*) berechnen, der einen Wertebereich von 0 bis 100 hat. Im ersten Fall (0 Prozent Übereinstimmung) würden die beiden betrachteten Parteien immer genau gegensätzliche Positionen zu jeder These einnehmen, während sie im zweiten Fall (100 Prozent Übereinstimmung) immer exakt identische Angaben machen würden.

Die folgende Abbildung zeigt nun, wie nah oder fern sich die einzelnen Parteien in Nordrhein-Westfalen stehen.

Grad der Übereinstimmung zwischen Parteien in Nordrhein-Westfalen

Vieles davon kommt uns bekannt vor; wir kennen es bereits aus den anderen Wahlomaten dieses Jahres. Die höchsten Übereinstimmungen gibt es zwischen Rot und Grün einerseits, CDU und FDP andererseits. Auch Grüne und Linke sind sich in hohem Maße einig, ebenso Linke und Piraten. In all diesen Fällen resultieren für die jeweiligen Parteipaare Übereinstimmungswerte von rund 80 Prozent.

Darüber hinaus bestätigt sich erneut, dass auf der linken Seite des politischen Spektrums Gedränge herrscht. Denn auch zwischen SPD und Linken, Grünen und Piraten sowie SPD und Piraten ergeben sich hohe Zustimmungsraten.
Allerdings – und das ist im Vergleich zu den anderen Wahlen des Überraschungswahljahres 2012 neu – stört die Kombination aus SPD und FDP den Reigen der linken Parteien. Die gute, alte sozialliberale Koalition – hier in NRW ist sie plötzlich eine realistische Alternative, wenn man die 38 Thesen zugrunde legt. Auch zwischen FDP und Grünen scheint der Graben nicht unüberbrückbar tief zu sein. Eine Ampel scheint also durchaus im Bereich des Möglichen zu liegen; sie ist zumindest nicht weniger schwierig als die Große Koalition, die ja bekanntlich immer eine Option ist.

Die geringsten Übereinstimmungsraten stellen sich auf der anderen Seite für die Kombinationen aus CDU und Grünen (trotz Röttgen!) sowie CDU/FDP auf der einen Seite und Linken/Piraten auf der anderen Seite ein. Das ist wiederum klassisch und aus anderen Wahlen des Jahres bekannt.

Wie kommt das kleine Revival der Sozialliberalen zustande? Werfen wir abschließend noch einen Blick auf all jene Thesen, bei denen sich die NRW-FDP in Übereinstimmung mit der SPD und zugleich im Widerspruch zur CDU steht. Es sind vier an der Zahl:

1) Die Ehe zwischen Mann und Frau soll weiterhin mit mehr Rechten verbunden sein als gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaften.
2) Die Praxisgebühr soll abgeschafft werden.
3) Kommunales Wahlrecht für alle dauerhaft in Nordrhein-Westfalen wohnenden Ausländerinnen und Ausländer!
4) Eltern, die ihre Kinder ausschließlich zu Hause erziehen, sollen eine finanzielle Unterstützung (“Betreuungsgeld”) erhalten.

Das wären demnach mögliche Brücken, die für eine sozialliberale gangbar wären. Ob es nötig sein wird? Warten wir einen spannenden Wahlsonntag ab.

(*) Der Index berechnet sich wie folgt: Für jedes Paar von Parteien wird über alle 38 Thesen hinweg gezählt, wie oft die Parteien übereinstimmen. Jede Übereinstimmung gibt einen Punkt, jede Kombination von “stimme zu” oder “stimme nicht zu” mit “neutral” einen halben Punkt. Addiert man diese Punkte zusammen und teilt die Summe durch 38 (die Zahl der Thesen), erhält man den Index. Die Annahme ist dabei natürlich, dass alle Thesen gleich wichtig sind.

 

Rüttgers, der Tiger und die Folgen

Man vergisst das so schnell: Erst zwei Jahre ist es her, da wurde in NRW ein Wahlkampf geführt, gegen den der diesjährige ein Kindergeburtstag ist. Jürgen Rüttgers war damals noch Ministerpräsident einer schwarz-gelben Regierung und möglicherweise wäre er das auch geblieben, hätte er sich nicht in allerlei unschöne Affären verstrickt. Beispielsweise wurden Interessierten Gespräche mit dem CDU-Mann angeboten – gegen Geld. Dass dieser „Rent a Rüttgers“-Skandal und andere ans Licht kamen (und dort blieben), dafür sorgte damals unter anderem das Weblog Wir in NRW. Die Autoren dort schrieben fast durchweg unter Pseudonymen, und sie hatten exzellente Quellen: Immer wieder gelangten „Gabriele Gans“, „Leo Loewe“ oder „Theobald Tiger“ an brisante interne CDU-Dokumente – und stellten sie flugs ins Blog.

Wir in NRW, das für seine kritische Berichterstattung mit dem Otto-Brenner-Preis () ausgezeichnet wurde, gibt es noch immer. Im aktuellen Wahlkampf spielte es bislang indes keine Rolle. Nun aber ist das Projekt plötzlich wieder im Gespräch, denn der Stern berichtet, dass einer der Autoren, „Theobald Tiger“, nach der Wahl 2010 von der rot-grünen Minderheitsregierung „lukrative PR-Aufträge“ erhalten hätte. Wurde der Tiger für seine Rüttgers-kritische Berichterstattung also nachträglich belohnt?

Fakt ist: Der Mensch hinter dem Pseudonym „Theobald Tiger“ hat nach der Wahl 2010 eine PR-Firma namens steinkuehler-com gegründet, sich um Aufträge bei der NRW-Landesregierung beworben – und auch welche bekommen. Die Folge: Der Frontmann des „Wir in NRW“-Blogs, Alfons Pieper, und der Tiger trennten sich. Pieper sagt im Gespräch mit ZEIT ONLINE: PR und ein journalistisches Blog passen nicht zusammen. Also verstummte der Tiger, auf Wir in NRW erschienen seit Ende 2010 keine Texte mehr von ihm.

Die stern-Geschichte hält Pieper denn auch für „lächerlich“. Das Blog habe nie von irgendwem Geld bekommen, man sei nicht käuflich. Den Vorwurf, dass der Tiger für seine kritische Rüttgers-Berichterstattung nachträglich von der Kraft-Regierung belohnt worden sei, hält er für eine böse Kampagne. So einfach kriege man keine Aufträge von der Landesregierung, da seien doch Dutzende Stellen beteiligt.

Auch die Regierung selbst hat inzwischen auf den Stern-Bericht reagiert. Staatssekretär Thomas Breustedt, bestätigte Aufträge an steinkuehler-com, dementierte aber parteipolitische Motive. Demnach sind an den Inhaber von steinkuehler-com – den Tiger, also – seit 2010 Aufträge für Broschüren und andere Öffentlichkeitsinitiativen des Familienministeriums im Gesamtwert von rund 300.000 Euro erteilt worden. „Für alle Publikationen hat es ordnungsgemäße Vergabeverfahren beziehungsweise öffentliche Aufträge gegeben“, sagt Breustedt.

Ein Geschmäckle hat die Sache dennoch: Das Blog bezeichnet sich zwar stets als neutral, dennoch ging und geht es mit Rot-Grün deutlich netter um als mit Schwarz-Gelb. Pieper sagt dazu: Damals, im 2010er-Wahlkampf sei man eben fortlaufend von CDU-Insidern mit neuen Dokumenten gefüttert worden. Ein solcher Maulwurf fehlt offenbar in der SPD. Was er zutage fördern würde? Wir wissen es nicht. Ob sich aber Hannelore Kraft vermieten lassen würde, darf bezweifelt werden.

 

Koalitionsprognose: Auf dem Weg zur dänischen Ampel in Schleswig-Holstein

Von Marc Debus und Jochen Müller

In Schleswig-Holstein deuten die Zeichen in Richtung Ampel – allerdings mit einem blauen statt einem gelben Licht, also einer Koalition zwischen Grünen, Sozialdemokraten und dem Südschleswigschen Wählerverband (SSW), der Partei der dänischen Minderheit.

Dies ergibt sich nicht nur aus den programmatischen Positionen der Landesparteien im nördlichsten Bundesland der Republik, sondern auch unter Berücksichtigung weiterer Schlüsselfaktoren wie den Sitzanteilen der Parteien im Kieler Landesparlament, der parteipolitischen Übereinstimmung mit der Mehrheitskonstellation im Bundestag und den von den schleswig-holsteinischen Parteien vorab geäußerten Koalitionspräferenzen.

Betrachtet man in einem ersten Schritt nur die programmatischen Positionen der Landesparteien, die sich auf Basis einer computergestützten Inhaltsanalyse der Wahlprogramme ergeben, werden die Vorzüge einer „dänischen Ampel“ für die beteiligten Parteien deutlich: Die Positionen von SPD, Grünen und SSW lagen zur Landtagswahl 2012 wie auch schon 2009 dicht beieinander, so dass – im Gegensatz zu einer gewöhnlichen Ampelkoalition oder einer Jamaika-Koalition – nur wenig inhaltliche Hürden zwischen den Parteien bei möglichen Koalitionsverhandlungen zu überwinden wären.

Abbildung 1: Die Positionen der schleswig-holsteinischen Parteien 2009 und 2012 in wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Fragen

Berücksichtigt man neben der programmatischen Ausrichtung weitere Faktoren, die aus theoretischer Perspektive die Regierungsbildung in den deutschen Bundesländern beeinflussen sollten, so bleibt der Vorteil für Rot-Grün-Blau bestehen. Auf der Basis eines Datensatzes, der alle Regierungsbildungssituationen in den deutschen Bundesländern seit 1990 umfasst, lassen sich mit statistischen Verfahren die Wahrscheinlichkeiten für das Eintreten verschiedener Koalitionsszenarien in Schleswig-Holstein im Mai 2012 berechnen. Dabei sind neben den Sitzanteilen der potentiellen Koalitionen insbesondere die vor der Wahl getätigten Aussagen der Parteien , denen zufolge die Piraten generell nicht als Bündnispartner zur Verfügung stehen und die CDU mit dem SSW nicht koalieren will, in die Überlegungen miteinzubeziehen. Berücksichtigt man diese Faktoren, dann liegt die Chance auf Bildung einer Regierungskoalition aus SPD, Grünen und dem Südschleswigschen Wählverband bei knapp 36%. Darauf folgen eine CDU/SPD-Koalition mit einer Wahrscheinlichkeit von 23%, ein Jamaika-Bündnis mit rund 13% und eine Ampelkoalition mit 10%. Die Chancen für die Bildung einer rot-grünen Minderheitsregierung liegen diesem statistischen Modell zufolge bei ca. 7%, die einer schwarz-gelben Minderheitsregierung bei 6%. Diesen Daten zufolge spricht einiges für die „dänische Ampel“ – wenn nicht am Ende wieder ein „Heidemörder“ auftaucht.

 

Kieler Signale – der bislang größte Erfolg der Piraten

In Kiel entern die Piraten nun zum dritten Mal erfolgreich ein Landesparlament – und es ist aus ihrer Sicht ihr bislang mit Abstand größter Erfolg. Berlin war eine Premiere, geprägt vom Reiz des Neuen. Die Erwartung einer klaren rot-grünen Mehrheit ließ den vermeintlichen „Luxus“ einer Piratenwahl zu. Ganz ähnlich die Situation im Saarland: In Erwartung einer angekündigten Großen Koalition (die selbst in diesen Zeiten noch eine sichere Mehrheit bekommt) konnten auch hier die Piraten deutlich profitieren. Auch an der Saar hätte man die Piratenwahl noch als Luxus, den sich einige Bürgerinnen und Bürger leisten wollten, abtun können.

In Schleswig-Holstein war die Situation gänzlich anders: Schwarz-Gelb in der Regierung, Rot-Grün als Alternative in der Opposition; dazu Umfragen, die einen knappen Ausgang erwarten ließen. Dass die Piraten trotz dieses offenkundigen Entscheidungsdrucks auf die Wählerinnen und Wähler und trotz der offenkundigen Möglichkeit eines Politikwechsels völlig problemlos im Kieler Landtag ankern konnten und damit zu einem Megapatt im Watt beitrugen, zeigt, wie stabil ihre Erfolgswelle ist. Und wie gut sie offenkundig einen derzeit weit verbreiteten Zeitgeist treffen.

Dass die Wahlbeteiligung trotz dieses Entscheidungsdrucks niedriger denn je war, ist ein zweites, sehr besorgniserregendes Signal aus Kiel. Und dass die Wahlbeteiligung ohne die Piraten noch niedriger gewesen wäre, verstärkt das Krisensignal noch weiter – denn nur sie konnten wieder einmal im Nichtwählerlager mobilisieren.

Das Signal aus Kiel ist ein ernstes: Die etablierten Parteien sind in schwierigem Fahrwasser unterwegs und selbst für sie sehr günstige Situationen – und die Wetterlage in Kiel war für die etablierten Kräfte günstig – ändern daran nichts.