Das neue Buch von Ex-Bundesbanker Thilo Sarrazin hat überraschend häufig attestiert bekommen, es argumentiere wirtschaftlich korrekt (etwa Micha Brumlik in der taz oder auch David Hugendick auf zeit.de). Aber ist das wirklich so, oder haben es nur Feuilletonisten rezensiert, die bei einer Tabelle mit ein paar Prozentzahlen schon von der Ehrfurcht gepackt werden? In Wirklichkeit hat Sarrazin bei „Europa braucht den Euro nicht“ dieselben Tricks angewendet wie bei seinem Bestseller „Deutschland schafft sich ab“. Das Buch ist keine rationale Abwägung der wirtschaftlichen Vor- und Nachteile des Euro, sondern ein ganz klar auf die These: Zurück zur D-Mark hingeschriebenes Pamphlet. Dafür ist Sarrazin alles recht: Auslassen, weglassen, umdeuten, bewusst falsch interpretieren. Vor allem das bewusste falsche Interpretieren von Statistiken werden wir uns gleich genauer anschauen. (Was ich vom Buch halte, mein Verriss steht hier.) Zwei Tabellen in dem Buch sind zentral, um seine These, der Euro hat Deutschland keine Vorteile gebracht, zu stützen. Das BIP pro Kopf in Kaufkraftparitäten sowie die Entwicklung des Außenhandels Deutschlands mit der Eurozone, der Rest-EU und dem Rest der Welt. Aber der Reihe nach.
„Gemessen am Wohlstandsindikator BIP brachte die Währungsunion für viele Länder schwere Nachteile, für Deutschland hingegen keine Vorteile“, behauptet Sarrazin. Dazu gibt es eine Tabelle, die die Entwicklung des Brutto-Inlandsprodukt pro Kopf in Kaufkraftparitäten abbildet (Seite 109). Der Indikator ist grundsätzlich zur Messung des Wohlstandes okay. Was aber macht Sarrazin? Er schaut sich anhand dieses Indikators an, wie sich einzelne Länder relativ zur gesamten EU, der EU der 27 Staaten, entwickelt haben. Und siehe da: Der Wohlstand in der EU der 27 hat sich zwischen 1998 und 2010 besser entwickelt als in fast jedem anderen Land. Das, so Sarrazin, zeige, dass der Euro kein Vorteil für Wachstum und Wohlstand gebracht habe.
Doch ist es redlich, mit diesem relativen Vergleich die Wachstumseffekte des Euro herausfiltern zu wollen? Nein, im Gegenteil, das ist ziemlicher Unsinn. Sein Trick: Indem er die EU wählt, hat er die osteuropäischen Staaten, die in den zwölf Jahren sehr stark aufgeholt haben, in den Vergleichsmaßstab eingearbeitet und damit die relative Messlatte sehr hoch gelegt. Denn die osteuropäischen Staaten befinden sich immer noch in einem ökonomischen Aufholprozess nach dem Übergang von der Plan- zur Marktwirtschaft. Solche Länder sind in der Regel durch relativ hohe Wachstumsraten gekennzeichnet, weil sie von eine niedrigen Einkommensniveau kommen und große Entwicklungspotentiale haben. Dadurch sehen die Euroländer relativ alt, wachstumsschwach, aus. Ist doch klar! Das folgende Diagramm zeigt dann auch, dass es eben keine Rolle spielt, ob ein Land Mitglied der Eurozone ist oder nicht, wenn man die relativen Wachstumsraten vergleicht.
Was man sieht, ist, dass je geringer das BIP pro Kopf eines EU-Landes in Relation zu dem der EU27 insgesamt in 1999 war, desto stärker ist es bis 2010 gewachsen. Länder, deren BIP pro Kopf in 1999 geringer als das der EU27 war, sind über die 12 Jahre relative schneller gewachsen als die EU27 insgesamt und Länder deren BIP pro Kopf in 1999 größer als das der EU27 insgesamt war, also die reichen Länder, sind relativ langsamer gewachsen. Denn gestiegen ist das BIP pro Kopf über diesem Zeitraum in allen Ländern der EU. Deshalb bedeutet eine relative Verschlechterung des relativen BIP mitnichten, dass die alten Euroländer Wohlstandsverluste erlitten hätten
Das beste Gegenbeispiel zu Sarrazins These sind Großbritannien, Schweden und Dänemark (im Diagramm die drei orangefarbenen Punkten im Quadranten unten rechts). Keines der drei Länder hat den Euro eingeführt, sie sind aber ebenso relativ zur EU der 27 insgesamt zurück gefallen, wie die einkommensstarken Länder der Währungsunion.
Die Korrelation zwischen „Mitglied der Währungsunion Ja/Nein“ und „niedriges/hohes Wachstum“, die Sarrazin gerne aus den Daten herauslesen möchte, gibt es nicht, stattdessen sieht man das, was Ökonomen hier erwarten würden, eine Korrelation zwischen der Einkommenshöhe und dem Wachstum, das heißt die Konvergenz der Wohlstandsniveaus in der Europäischen Union.
Die Tabelle für Sarrazins wichtigstes Argument zeugt also vor allem vom Aufholprozess Polens, Tschechiens und Ungarns. Erwähnt Sarrazin auf den betreffenden Seiten den Aufholprozess Osteuropa? Natürlich nicht!
Die zweite zentrale Aussage lautet: „Trotz der gemeinsamen Währung sinkt die Verflechtung Deutschlands mit dem Euroraum.“ Paradoxerweise sei der Euro dafür auch noch der Grund, weil die unbefriedigende Entwicklung in den Südländern, deren Möglichkeit begrenze, deutsche Waren zu kaufen, behauptet Sarrazin flott. Auch dazu gibt es eine Tabelle (Seite 115), die das Gegenteil belegt, wenn man sie versteht.
Denn die Ausfuhren Deutschlands in den Euroraum haben sich zwischen 1998 und 2011 fast verdoppelt – von 220 Milliarden Euro 1998 auf 417 Milliarden im vergangenen Jahr. Von wegen weniger Verflechtung! Was das Argument Sarrazins stützen soll, ist wieder eine relative Betrachtung: Die Ausfuhren in die EU der 27 haben sich noch besser entwickelt (natürlich wegen Osteuropa). Und in den Rest der Welt haben sie sogar um 150 Prozent zugelegt (natürlich wegen China und Asien). Erwähnt Sarrazin auf diesen Seiten den Aufholprozess? Natürlich nicht.
Worauf er rumreitet sind die relativen Gewichte: Der Anteil der Ausfuhren in die Eurozone ist von 45,2 Prozent im Jahr 1998 auf 39,3 Prozent 2011 gesunken. Die Exporte der deutschen Firmen nach China wachsen halt rascher, weil China mit seinen zehn Prozent plus Wachstumsraten schneller wächst als reife Industriestaaten.
Aber daraus ein Argument gegen den Euro zu machen, gar von abnehmender Verflechtung zu sprechen, ist leider typisch für das ganze Buch! Ist typisch Sarrazin!