Wer in Kabul als Entwicklungshelfer für die deutsche Regierung arbeitet, darf nicht zu Fuß gehen. Nicht zum Büro – auch wenn es nur zwei Minuten entfernt ist –, nicht in den Supermarkt und auf keinen Fall ins Restaurant. Stattdessen ruft man einen Fahrer und steigt in ein (meistens gepanzertes) Auto.
Und Soldaten der Bundeswehr dürfen sowieso nicht auf die Straße. Gut möglich, dass ich die einzige Deutsche bin, die in Kabul zu Fuß gehen kann, ohne damit einen Vertrag zu brechen.
Deshalb ist der folgende Text in Wahrheit nicht nur eine Gebrauchsanleitung, sondern auch ein wichtiges Dokument der Zeitgeschichte.
1. Kleiden Sie sich traditionell, Pluderhosen und knielange Oberteile mit langen Ärmeln. Zwar tragen die meisten Afghanen in Kabul westliche Kleidung, aber aus irgendeinem Grund fällt man als Ausländer trotzdem damit auf.
2. Verwenden Sie ausreichend Zeit für die Wahl der Kopftuchfarbe. Schwarz, braun und weiß haben sich als unauffällig erwiesen. Türkis und pink eher nicht.
3. Achten Sie auf angemessenes Schuhwerk: Als Mann cremefarbene Plastikschlappen, als Frau: Alles, was Sie zu einem Cocktailkleid anziehen würden. Als Frau, die 1,80 Meter groß ist: Sandalen.
4. Verstecken Sie Wertsachen so, dass sie Ihnen niemand aus der Tasche nehmen kann. Das gilt besonders für ein Handy, das Sie vor drei Tagen für 600 Euro gekauft haben – nachdem Ihr erstes gestohlen wurde.
5. Ärgern Sie sich nicht, wenn es trotzdem verschwindet.
6. Stecken Sie einen Bündel Kleingeldscheine in die Hosentasche, für die Bettler.
7. Falls Sie braune Augen haben: Gehen Sie los. Falls Sie blaue Augen haben: Setzen Sie sich eine Sonnenbrille auf. Dann gehen Sie los.
8. Wichtigste Regel auf der Straße, als Frau: grimmig auf den Boden schauen. Als Mann: schlurfen Sie beim Gehen. Falls Ihnen das schwerfällt, kaufen Sie sich Plastikschlappen, die Ihnen zu groß sind.
9. Als Frau: Blicken Sie Männern nicht in die Augen. Reden Sie nicht. Beides erhöht die Chance, nicht sofort als Ausländer enttarnt zu werden. Als Mann: Scherzen Sie mit den Männern, wenn sie Ihrer Frau hinterherschauen.
10. Wundern Sie sich nicht, wenn Sie sich so fühlen, als würden Sie permanent angestarrt. Sie werden permanent angestarrt.
11. Wenn Sie bettelnde Kinder sehen (also immer): tun Sie, was Sie für richtig halten. Allerdings sei gesagt: sobald Sie Geld aus der Tasche ziehen, werden aus zwei Kindern fünf, dann zehn, dann… Essen kaufen hat sich als hilfreich erwiesen: Brot, Eis, Früchte, Wasser, Chips. Hilft gegen schlechtes Gewissen (das eigene) und Hunger und Durst (der Kinder).
12. Methoden, die sich beim Abwimmeln von Bettlern als nutzlos erwiesen haben: so tun, als würde man kein Dari verstehen. Komplizierte Sätze auf Dari zu bauen, um den Eindruck zu erwecken, man sei gar kein Ausländer. Anschreien. Witze machen. Hände schütteln, Abschieds-Höflichkeitsformen. Ignorieren.
13. Methoden, die sich beim Abwimmeln von Bettlern als hilfreich erwiesen haben: freundlich erklären, dass man gerade kein Geld dabei hat, beim nächsten Mal aber etwas gibt. Laut fluchend erklären, dass man gerade schon drei Leuten etwas gegeben hat und nicht ganz Kabul finanzieren kann. Mit der Hand über den Mund fahren und danach die leere Hand öffnen, heißt so viel wie: Ich hab doch selber nichts.
14. Wenn Sie etwas brauchen und nicht wissen, wo Sie es bekommen können, gehen Sie einfach in den erstbesten Laden und fragen. Sie werden weitergeschickt und landen am richtigen Ort. Manchmal nach fünf Geschäften, manchmal nach zwanzig.
15. Wenn Sie bei dieser Prozedur zum Tee eingeladen werden, sagen Sie erst bei der dritten Einladung „ja“. Alles darunter sind Höflichkeitsfloskeln, deren Antworten ohnehin ignoriert werden.
16. Sagen Sie nur ja, wenn Sie Zeit haben. Dann aber unbedingt.
17. Nehmen Sie sich nach dem Spazieren Zeit, um Ihren Mitbewohnern von „draußen“ zu erzählen. Irgendwas erleben Sie immer.
P.S. Dieser Text ist meinem Taxifahrer gewidmet.