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Proust-Fragebogen für Blogger (77)

 

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(c) Kübra Gümüsay

Einen erfrischend neuen und offenen Blick auf die Themen Islam, Feminismus und Rassismus zwischen Deutschland, England und der Türkei gibt es auf Kübra Gümüsays Blog ein fremdwörterbuch. Die in Hamburg geborene Bloggerin, die zur Zeit in Oxford lebt, führte von April 2010 bis Juni 2013 die Kolumne „Das Tuch“ in der taz. Neben den archivierten Kolumnen und vielen neuen Einträgen findet man übrigens auch Zeichnungen der talentierten 25-Jährigen auf dem Blog, das es seit 2008 gibt.

Was ist für Sie das vollkommene Blog?

Einer, der den Menschen dahinter in seiner Unvollkommenheit reflektiert. Kein aufpoliertes, verzerrtes Bild einer Person, die man gerne wäre, wie man es häufig auf sozialen Netzwerken wie Facebook erlebt. Dort tummeln sich lauter idealisierte, überirdische, perfektionierte Darstellungen von Menschen, die in konstantem Kontrast zu ihrem digitalen Ich leben. Ein vollkommener Blog ist unvollkommen, so wie der Mensch auch. Eine facettenreiche Sammlung von Texten, die vielleicht mal gut gelaunt, wüst schimpfend oder nachdenklich sind – je nachdem wie der Mensch dahinter auch ist. Authentisch eben.

Mit welchem Blogger identifizieren Sie sich am meisten?

Vielleicht nicht unbedingt identifizieren, aber in jedem Fall verbunden fühle ich mich zu der frohen, frischen und neugierigen Eva Schulz, die ich auch privat gut kenne und sehr schätze. Ihren unvoreingenommenen Zugang zu Menschen, den mag ich besonders gerne.

Was ist online Ihre Lieblingsbeschäftigung?

Schöne Texte lesen. Ich habe eine lange Leseliste, in der ich die spannendsten Texte horte, auf die ich bei meiner täglichen Internet-Rundschau stoße.

Was ist offline Ihre Lieblingsbeschäftigung?

Es gibt Tage, in denen mich das Internet und das Schreiben am Laptop sehr ermüden. Ich starre auf den Bildschirm. Dort lebe und erlebe ich eine laute, wilde Welt. Schaue nur wenige Zentimeter nach rechts und sitze plötzlich in meinem stillen, ruhigen Wohnzimmer in Oxford. Immer dann spüre ich den Drang etwas Reales mit meinem Händen zu tun. Deshalb ist meine Lieblingsbeschäftigung offline (wenn ich nicht am Reisen bin): Bei schöner, akustischer Musik im Hintergrund mit frisch gebrühtem Tee und selbstgebackenem Brot im trauten Heim in Oxford an meinem Schreibtisch sitzen und zeichnen, Gedichte an der Schreibmaschine schreiben und hinterher mit meinem Mann im Park spazieren.

Bei welcher Gelegenheit schreiben Sie die Unwahrheit?

Ich weiß nicht, ob man je die volle Wahrheit schreibt oder überhaupt schreiben kann. Meistens rekonstruiert der Mensch die Realität in seiner Erinnerung so, wie sie in seine Gedankenwelt und in sein Jetzt passt. Manchmal erwische ich mich dabei, wie ich versuche, mich und die Menschen um mich herum zu schützen. Denn insbesondere das Schreiben persönlicher Erlebnisse macht angreifbar, verletzlich. In solchen Situationen verfremde ich manchmal das Erlebnis, das im Kern jedoch gleich bleibt. Hinterher aber merke ich, dass das Erzählte in meiner Erinnerung haften bleibt, nicht das Erlebte. Was ist dann noch wahr?

Ihr Lieblingsheld im Netz?

Erst heute entdeckt, daher temporär: Qahera, eine muslimische Superheldin, die sich dem Kampf gegen Sexismus gewidmet hat.

Ihr Lieblingsheld in der Wirklichkeit?

Ganz viele Menschen für ganz viele verschiedene Eigenschaften. Meine Mutter zum Beispiel für ihren selbstbewussten und eigenen Kopf, den sie sich über die Jahre allen Konventionen trotzend bewahrt hat. Mein Vater, für seinen fantastischen Umgang mit Menschen, egal wer, wo und in welcher Sprache. Und dann noch Hunderte andere, die ich für bestimmte Eigenschaften bewundere.

Welche Eigenschaften schätzen Sie an Menschen, denen Sie im Netz begegnen?

Alter, Bildungsstand, Herkunft und alles, was Menschen sonst so trennt im Leben, ist im Netz unsichtbar. So erhält man eine wunderbare E-Mail einer ehemaligen Lehrerin in Rente aus einer kleinen Stadt irgendwo in einer entlegenen Ecke Deutschlands, der man sich plötzlich sehr verbunden fühlt. Das mag ich am Netz, aber das mag ich auch an den Menschen: Die Bereitschaft die Gräben zu überspringen, die uns sonst trennen. Und ich liebe Menschen, die in den Massen an FYI-E-Mails solche verschicken, die wie Briefe sind.

Welche Eigenschaften schätzen Sie an Menschen, denen Sie in der Wirklichkeit begegnen?

Derzeit, in diesem Stadium meines Lebens, sind mir Hilfsbereitschaft, Bodenständigkeit, Demut, ehrliche Neugier und Begeisterungsfähigkeit wichtig.

Was mögen Sie im Netz am wenigsten?

Jene, die die Anonymität im Netz ausnutzen, um mit dem Verwerflichtesten ihrer Gelüste, den Schmutzigsten ihrer Meinungen und Haltungen exhibitionistisch Fremde belästigen. Trolle.

Was stört Sie an Bloggern am meisten?

Das Ich, Ich, Ich.

Was stört Sie an sich selbst am meisten?

Das Ich. Aber daran arbeite ich. (Ist das jetzt ein Widerspruch?)

Ihr glücklichster Moment als Blogger?

Wenn ich E-Mails erhalte wie die einer ehemaligen Lehrerin in Rente aus einer kleinen Stadt irgendwo in einer entlegenen Ecke Deutschlands.

Was halten Sie für Ihre größte Errungenschaft als Blogger?

So rein nerd-technisch: Mein Blog lief früher auf Blogger von Google. Ich bin (mit Hilfe einiger Informatiker-Freunde) nach jahrelangem Hin und Her Anfang des Jahres erfolgreich nach WordPress gezogen. Das kann man hier nachlesen. Und sonst: Dass es mein bisher längstes Projekt ist. Seit fünf Jahren, ein Viertel meines Lebens begleitet es mich bereits.

Über welches Talent würden Sie gern verfügen?

Ein weiteres Talent nicht, aber ein bisschen mehr Disziplin wäre schön. Dann könnte ich Talente, die ich habe, vertiefen.

Als welcher Blogger möchten Sie gern wiedergeboren werden?

So begeistert bin ich noch von keinem Menschen gewesen. Ich bin sehr dankbar für die Umstände, in die ich geboren wurde, und das Leben, das ich leben darf. Es gibt, wie überall, viel Luft nach oben, aber das liegt in meiner und des Schicksals Hand.

Ihre größte Extravaganz?

Ich lasse viele meiner Kleider schneidern. Dafür kaufe ich aber auch kaum bis nie eines und trage meine Kleider viele, viele Jahre.

Ihre gegenwärtige Geistesverfassung?

Jetzt gerade sitze ich im Flieger von Istanbul nach Oxford bzw. London und bin gestresst, weil soeben die Ansage kam, dass alle elektronischen Geräte ausgeschaltet werden müssen. Ich frage mich, ob ich es noch zum Motto schaffe.

Ihr Motto?

Khayr, inshAllah.

Zuletzt füllten Reisebloggerin Inka Chall, Jannis „schmerzwach“ Plastargias, Sascha Pietsch und Peter Kempe vom Männermodeblog Horstson, New Yorker Modefotograf Ari Seth Cohen, Fußballtrainer Frank BaadeInés „Kaltmamsell“ Gutiérrez, Antonietta Bonanno von „Vintage Curves„, Taxiblogger Sascha Bors, Fotografin Birgit Engelhardt und Mode- und Entertainmentbloggerin Niki Blasina  unseren Proust-Fragebogen für Blogger aus.