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Pfeifen aus dem letzten Loch

Herr, es wird Zeit! Erbarme dich! Schicke Sonne! Es ist nicht mehr zu übersehen: Berlin pfeift aus dem allerletzten Loch. Langsam steigt die Influenza-Rate. Wer Kinder hat, wird bestätigen, dass diese seit zwei Wochen ununterbrochen sabbern und schniefen und husten. Doch auch die Erwachsenen knicken langsam ein: Gestern, im gutbesuchen, wirklich hochwertigen, amüsanten und temporeichen Konzert des Christian von der Goltz-Trio im A-Trane, sah ich beim Herumkucken sechs eingeschlafene Erwachsene. Das Verrückte: Einer davon war ich! Auch wenn nach jedem Stück frenetischer, glücklicher Applaus brandete, hielt nur 2/3 des Auditoriums bis zum Schluss durch, der Rest wankte von Gähnkrämpfen geschüttelt von dannen. Die Atmosphäre in U-Bahnen, Bussen und Trambahnen ist langsam als finnisch, wenn nicht belgisch zu bezeichnen. Gelächelt wird fast nicht mehr.

Frühling muss her. Dringend.

 

Die Polizeieieieieiei……

Hihi:

Berlin (AFP) – In dem nicht gerade für Karnevals-Frohsinn bekannten Berlin haben sich während der „tollen Tage“ ausgerechnet drei Polizisten daneben benommen: Bei einer privaten Faschingsfeier in der vergangenen Woche hätten sich die Beamte in ihrer Freizeit „derart aufgeführt, dass der Leiter der Direktion 5 eine Strafanzeige und disziplinare Vorermittlungen eingeleitet hat“, hieß es in einer am Mittwoch veröffentlichten Erklärung der Polizei. Während der Weiberfastnacht im „Brauhaus Spandau“ kam es demnach zu Auseinandersetzungen zwischen Beamten verschiedener Dienstgruppen. Ein 41-jähriger Dienstgruppenleiter, sein 31-jähriger Vertreter sowie ein 34-jähriger Polizeihauptmeister sollen mehrfach unter anderem ihre Verkleidung, die aus Schottenröcken bestand, „gelüftet“ haben. Mehrere Gäste hätten sich betroffen gezeigt und angegeben, „Ekelgefühle empfunden zu haben, da die Beamten keine Unterbekleidung trugen“. Außerdem sollen die drei Mitarbeiter in körperliche Auseinandersetzungen mit Gästen verwickelt gewesen sein. Alle Beteiligten sollen unter Alkoholeinfluss gestanden haben.

 

Alexanderplatz ist nicht gleich Alexanderplatz

„Jochen! Ich war im Fernsehen! Ich hab 16.ooo Euro gewonnen. Bei der SAT 1 Quizshow!“ So tönte es kürzlich aus meinem Telefonhörer. Christian, ein Bekannter der seinen Lebensunterhalt üblicherweise zu gleichen Teilen als Friseur und Astrologe verdiente, war dem Rat eines Freundes gefolgt, der zu berichten wusste, dass man bei SAT1 stets händeringend nach Quizshowkandidaten sucht. Hatte sich beworben, war gecastet worden und hatte nach drei Wochen einen Drehtermin erhalten, den er als Sieger verließ.

Ausgerechnet Christian, diese völlige Nachtjacke. Sofort betrat ich die Sat1-Website und bewarb mich bei genannter Quizshow als Kanditat. Die Fernseh-Maschinerie lief wie geschmiert, nur drei Wochen später bekam ich eine briefliche Einladung der Produktionsfirma Grundy TV. Ich hätte mich am kommenden Sonntag im NH Hotel Berlin-Alexanderplatz einzufinden. Es finde ein Casting mit Allgemeinbildungstest statt, außerdem solle man zusätzlich überlegen, wie man die Summe von 1000 Euro originell verbraten würde, wenn man sie denn bekäme. Mit dieser Fangfrage wollte man wohl testen, wie originell man so drauf ist. Na, die würden sich aber wunder, würden die sich aber!

Auch fies: Das „NH-Hotel Alexanderplatz“ ist zwar in Berlin, aber nicht direkt am Alexanderplatz, sondern sicherlich drei Kilometer davon entfernt. An dieser Hürde würden nicht wenige andere Castingteilnehmer bereits scheitern, da war ich sicher. Um Punkt elf fuhr ich mit einer Droschke vor, in der völligen Gewissheit ich würde hier abräumen wie ein Fürst. Für die 1000 Euro-Sonderprämie, hatte ich mir ausgetüftelt, würde ich eine Vorleserin engagieren, die in einem Kinderheim behinderten und tschernobylverstrahlten, mehrfach amputierten Kleinkindern den ganzen Tag Geschichten vorläse. Verschweigen würde ich natürlich, dass diese Vorleserin meine gutaussehende Bekannte Sophia wäre, die die erhaltenen 1000 Euro nach der dummen Vorleserei mit mir in der Berliner Victoria Bar auf den Kopf bzw. Tresen hauen würde.

Siegesgewisser Einzug in die Hotellobby, am Tresen klingeln alle Telefone Sturm, die Rezeptionisten erklären ein ums andere Mal, nein, das NH Hotel ist nicht DIREKT am Alexanderplatz, Sie müssen die Tram 4, 5 oder 6…..

Lächle still.

Soll mich im Tagungsraum „Königs Wusterhausen“ einfinden. Vor genanntem Tagungsraum stehen 80 Leute sich die Beine in den Bauch. Einige um einen Aschenbecher herum, andere einfach so, mit dem ICHBINNURZUFÄLLIGHIER-Nlick. Bebrillte Checker, Studenten mit Aktenköfferchen, bekiffte Wenigerchecker mit Fransenpony, dreivier Sprittis, die dringend Geld brauchen, und viele viele mittelalte Hausfrauen.

Die Tür geht auf. SO, ALLE MAL REINKOMMEN, tönt es launig und von nun an sind wir in der Hand von drei Spaßzwergen der Firma Grundy TV, zwei Männer, eine Frau, keiner von ihnen größer als Einssechzig, die als Bonsai-Zerberusse vor der Eingangstür zum Tagungssaal sitzen und jedem von uns ein Klemmbrett in die Hand drücken. 80 Leute schlängeln sich in den Saal, man nimmt Platz und hört zu. Man trägt seinen Namen und seine Adresse auf seinen Personalstammbogen ein. Auf dem zweiten Formular sind senkrecht nach unten die Zahlen von 1-25 geschrieben und jeweils rechts daneben die Möglichkeiten A, B, C oder D. Es werden nun in halsbrecherischer Geschwindigkeit 25 Fragen verlesen, Multiple Choice, je eine Antwort ist richtig, und die muss man mit seinem Kuli einkreisen. In einer Ecke des Raumes ist auch eine Kamera aufgebaut, aber die ist für später, lernen wir.

Ich bin ja sowieso nur zum Spaß hier, als Chronist quasi, mache mir also auch ganz schnell ganz viel Notizen. Zum Beispiel schreibe ich auf, dass die Mittzwanzigerin aus dem Casting-Team, die die von ihrem Kollegen verlesenen Fragen zusätzlich nochmal auf einem Pappschild hochhält, erstens ein außergewöhnlich rares Nada Surf-T-Shirt trägt und zweitesn darunter superwunderbare Hupen hat, nicht zu groß, nicht zu klein, korrekter Prangwinkel, alles knuspi und HUP HUP! Schreibe des weiteren auf, dass der Kaffee hier sensationell schelecht schmeckt. Oder dass die Fragen, die uns hier gestellt werden, selten dämlich sind. Beispiel: Was ist Penicillin? Ein Antibiotikum, eine Währung, ein Porzellan oder eine Tierart?. Schlafwandlerisch beantworte ich alle Fragen, klar ich habe sowieso alles richtig. Dann ist Abgabe. Jeder muss seinen Antwortzettel in seinen Personalbogen reinfalten und abgeben. Dann alle nochmal raus vor die Tür, das Castingteam wird nun über Schablonen eine Blitzauswertung des Tests machen. Pause.

Komme mit einer grauumrandeten Mittfünfzigerin ins Gespräch, nägelkauend und kettenrauchend steht sie da, sie braucht ganz dringend Geld, was ich denn mit den 1000 Euro extra machen würde. Erzähle meinen Plan mit dem Kinderheim. Sie weint vor Rührung. Dann erzählt sie: Sie würde ein Jahr lang die KFZ-Haftpflicht für ihren Fiat Polo davon bezahlen. Aha. Sie drückt mir die Daumen, ich ihr auch.

Bingbang! Alle wieder rein. Wir erfahren nun vom Chefcaster, die besten 5 dürfen bleiben und werden dann vor der Kamera ein bisschen genauer befragt. Der Rest muss leider nach Hause gehen. Und schon werden die 5 Namen verlesen. Meiner ist nicht dabei.

Hä?

Verstehe ich nicht.

Stelle fest, ich bin gekränkt. Schnippe ärgerlich meinen Notizzettel (Geile Hupen, sensationell schlechter Kaffee, blöde Fragen) in meine Ledertasche und verlasse mit 75 anderen in überwiegend geduckter Haltung den Ort. Die graue Frau weint, ich sehe es, sie geht einige Schritte vor mir raus und entert die Trambahn nach Hohenschönhausen, das ist natürlich schon bitter.

Ich hingegen, ich merke erst zu Hause, dass ich einen folgenschweren Fehler gemacht habe. Der Antwortbogen ist noch in meiner Aktentasche. Über meinen Notizzettel (Geile Hupen, sensationell schlechter Kaffee, blöde Fragen), über diesen Zettel lachen jetzt drei kleine Menschen der Firma Grundy TV. Vielleicht hängt dieser Zettel jetzt sogar an irgendeiner lustigen Pinnwand. Man steckt nicht drin.

 

Mal eine Trambahn crashen?

Haben Sie 60 Euro übrig? Für den Preis dürfen Sie eine halbe Stunde lang den Straßenbahnsimulator der BVG benutzen. Ein Mordsvergnügen! Reservierung unter (030) 25630 333. Übrigens: Beliebtester Anfängerfehler: Herumfahren ohne Fahrgäste aufzunehmen…

 

Klein und fein

Soeben hat in der Zimmerstr. 68, Ecke Markgrafenstraße, der kleinste Imbiss in ganz Berlin-Mitte aufgemacht. Er heißt „Zur Teigtasche“. Dort verkauft eine charmante Türkin Teigtaschen in allen Variationen zu herzzerreißend niedrigen Tarifen (ab 0,45 Euro). Die Dinger sind unfassbar lecker, sie unterscheiden sich in erster Linie durch ihre Füllungen. Neben Klassikern wie Spinat/Feta gibt es welche mit Oliven-Frischkäse oder Lachs oder Räucherwurst. Ein rustikales Vergnügen. Bin inzwischen süchtig.

 

Berlinale: Close to Home

Eine Gastrezension von Yvonne Otter

Der Film „Close to Home“ (“Karov la bayit”) zeigt den Alltag von zwei jungen israelischen Soldatinnen bei ihrem Militärdienst in ihrer Heimatstadt Jerusalem. Da gibt es Druck von oben, Auflehnung dagegen, Kuschen aus Bequemlichkeit oder Pflichtbewusstsein und vor allem Durchmogeln, wo es nur geht, wie wohl in jeder Armee. Das Besondere an dem Film sind aber die zwei überzeugenden Schauspielerinnen, die einem sehr unterhaltsam ihrem Alltag vorführen. Eigentlich patroullieren sie durch Jerusalem und kontrollieren Palästinenser, meistens aber beschäftigen sie sich mit dem, was die meisten in ihrem Alter interessiert: Handy, Rauchen, Mode, Jungs. Es kommt auch zu einem Anschlag, dem, wodurch uns hier das Land Israel ständig präsent ist.

Der Film will nichts erklären, er zeigt nur aus der Nähe einen Ausschnitt, wie wir ihn in den Medien nur von fern zu sehen kriegen. Nach dem Film hasst man keine Palästinenser und keine Juden, man kann sich aber das Leben beider viel besser vorstellen.


Karov la bayit
Close to Home

Israel, 2005, 90 min
Regie: Dalia Hager, Vidi Bilu
Darsteller: Smadar Sayar, Naama Schendar, Irit Suki, Katia Zimbris
Sektion: Forum

 

Berlinale: De particulier à particulier

Was für ein im wahrsten Sinne des Wortes phantastischer Film! Das Mittdreißigerpaar Philippe und Marion aus Paris hat seine zwei Kinder zu den Großeltern gegeben und plant eine Reise nach Venedig. Doch auf einem Zubringerbahnhof fällt ihnen die geheimnisvolle Tasche eines Syrers mit einem schwer leserlichen Namensschild („Hotel Harabati?!“) in die Hände, die voller Geld ist. Sie beschließen die Reise nicht zu unternehmen, erzählen aber allen Bekannten und Familienmitgliedern, sie hätten die Reise doch gemacht. So weit, so linear.

Doch dann bricht die Geschichte auseinander. Marion holt Fotos vom Entwickeln ab und stellt fest, dass unter ihre Aufnahmen auch Aufnahmen aus Venedig gemischt sind. Waren sie doch in Venedig? Zur gleichen Zeit glaubt Philippe überall in der Stadt den geheimnisvollen Syrer zu sehen, dem die Tasche gehört.

Es folgt eine schleichende Dekonstruktion der Protagonisten und eine Entfremdung beider voneinander, die dafür sorgt, dass Marion sich mit den gemeinsamen Kindern zu Hause einigelt und Philippe sich mit einem jüdischen Opernsänger anfreundet. Doch plötzlich finden sie wieder zusammen – auf einem mysteriösen Berg. Mehr möchte ich nicht erzählen und mehr muss auch nicht erzählt werden.

Der Film ist ein tragisches und dabei oft berückend komisches Kaleidoskop, das in vielen Farben schimmert. An vielen Stellen bröckeln die Übergänge, wird vorher gezeigtes oder gesagtes revidiert, neu beleuchtet. Handelt es sich bei den Venedig-Fotos um eine schlichte Verwechslung? Schließlich war der Fotoladen ziemlich unordentlich. Ebenso das gefundene Geld in der Tasche, es sieht zunächst beeindruckend aus, entpuppt sich aber später als nahezu wertlos, da es sich um eine inflationäre Währung handelt. Oder die eingebettete Filmszene aus einer TV-Vorabendserie: Marion wird zunächst gezeigt, als sie diese Szene nachvertont (sie ist Synchronsprecherin), was viel Komik hat. Später im Film – als das Paar vorübergehend getrennt lebt – sieht Philippe ebendiese Szene beim abendlichen Herumzappen, hört die Stimme seiner Frau zu dem Gesicht einer amerikanischen C-Movie-Schauspielerin -und fängt an zu weinen.

Gibt es eine Message? Nein, viele. Es wird gezeigt, dass es immer mehrere Wahrheiten gibt. Dass vieles im Leben mehrdeutig ist. Eindrucksvoll wird die Familie als Keimzelle schönster und grausamster Emotionen gezeigt. Es gibt unfassbar schöne, intime Szenen, als die Familie gegen die Außenwelt zusammenrückt. Es gibt die stetig als Basso Continuo mitlaufende Bedrohung durch den zunehmenden Terrorismus (ein visionäres Drehbuch, es entstand deutlich vor dem 11. September 2001). Es geht um das Geheimnis Beziehung und ihren stets möglichen Wandel von Entfremdung zu tiefer Neubindung. Dieser Film hat mich sehr bewegt.

Der Regisseur war anwesend, obwohl es sich um eine Wiederholung handelte – und obwohl es sein 40. Geburtstag war.

 

Berlinale: HET SCHNITZELPARADIJS

Einer der skurrilsten und liebenswertesten Filme, die mir in der letzten Zeit untergekommen sind. Der Marrokaner Nordip jobbt in einem unfassbar trostlosen Hotelrestaurant als Tellerwäscher, verliebt sich in die Nichte der Besitzerin und fliegt aus dem Job, als die Besitzerin das spitzkriegt, denn auch sie ist schwer in Nordip verknallt.

Das klingt nach einer der zahlreichen, mittelkomischen Immigrantenkomödien, die gerade sehr en vogue sind, doch – und so betonte es der Regisseur auch beim abschließenden Q&A – hier geht es weniger um das Thema „Multikulti“, sondern hauptsächlich darum, das unglaublich anstregende Schuften in einer Großküche zu persiflieren. Das Küchenteam, bestehend aus unappetitlichen, zynischen, gleichsam buckelnden wie tretenden – aber trotzdem fast durchgängig liebenswerten Chargen, sollte eigentlich komplett für den goldenen Bären nominiert werden.

Regisseur Martin Koolhoven hat einen enorm abwechslungsreichen Stall junger, unverbrauchter Darsteller aus allen Kulturkreisen zusammengetrommelt, die in aberwitziger Komik und unglaublichem Tempo agieren. Der Film ist vollgepackt mit Dialogwitz, böser Satire und wunderbaren Pointen. Die Hauptdarsteller Mounir Valentyn und die an Erotik schwer zu überbietende Bracha van Doesburgh [seufz] sind schlichtweg grandios.

Mehr Infos zum Film hier. Wenn sich für diesen Film kein deutscher Verleih findet, werde ich richtig sauer.

Läuft noch am 16.02. um 17:00 im Zoo Palast 4 und am 18.02. um 18:00 im Colosseum 1.
Sehr empfehlenswert.