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Wenn aus Pech Glück wird

Erster Tag der Berlinale; am Ticket-Counter: Ich erfuhr, dass das Akkreditiertenkontingent für den nächsten Tag „leider-leider“erschöpft sei. Verärgert, aber mit dem festen Vorsatz, am nächsten Tag schon um 8:30 am Schalter zu sein, ging ich hinaus – eine einzige Karte in der Hand. Mir blieb nichts anderes übrig, als die Berlinale 2006 mit einer Dokumentation anzufangen. Sie trug den Titel „Humbert Balsan“.

Im Filmpalast-Berlin hatten sich allerdings erstaunlich viele Kameraleute und Photographen versammelt. Festivaldirektor Dieter Kosslik sagte den Film persönlich an und betonte seine innere Verbindung zu Humbert Balsan, einem der erfolgreichsten Filmproduzenten Frankreichs. Humbert Balsan war vor einem Jahr gestorben. Er arbeitete an über 60 Produktionen mit, unter anderem „Jefferson in Paris“, „Martha, Martha“ oder „Manderlay“. Die Nachricht über den Selbstmord Balsans, den er im Zuge starker Depressionen begangen hatte, erreichte Kosslik während der rauschenden Berlinale 2005. In diesem Jahr widmeten die Filmfestorganisatoren ihrem Kollegen und Freund Humbert Balsan nun eine ganz persönliche Veranstaltung.

Es wurde viel geredet, auch auf Französisch. Man dankte der französischen Prominenz Berlins und den Anwesenden, Schauspielerin Martina Gedeck war auch darunter. Nach dem Dokumentarfilm zu Balsans Leben und Werk folgte seine letzte Arbeit „Un ami parfait“ (Regie: Francis Girod). Anschließend waren die Zuschauer in die Französische Botschaft geladen.

Die mir aufgezwungene Dokumentation entpuppte sich also als persönliche, sehr herzliche Veranstaltung. Ich verwarf meinen Entschluss, am nächsten Tag früh aufzustehen und mich auf die glanzvollen Veranstaltungen des Festivals zu stürzen. Die Berlinale hat viel mehr zu bieten.

 

Mein Bärenfavorit

Den besten Film auf der Berlinale habe ich gestern im Urania-Filmpalast gesehen. „Slumming“ von Michael Glawogger – Weltpremiere auf der Berlinale – ist auch Anwärter auf den Goldenen Bären. Um so einen Film zu machen, muss man entweder verrückt oder ein Österreicher sein. Wie kamen nur Barbara Albert („Böse Zellen“) – den meisten durch die Coop 99 bekannt – und Michael Glaggower („Megacities“) in ihrem Drehbuch auf solche Einfälle?!

Sebastian erinnert an den Helden aus „Muxmäuschenstill“. Er ist voller Tatendrang. Obwohl er Geld hat, zieht er mit seinem besten Freund Alex durch die dreckigsten Absteigen Wiens. Sie verbringen ihre Zeit gerne in türkischen Lokalen, Spielotheken, heruntergekommen Kneipen oder manchmal auch nur in den Abgründen des Internets. Das nennt Sebastian ‚Slumming’ – in den Slum gehen. Seine Philosophie: Nur im Slum kann man Mensch sein und zu sich selbst finden. Sein Ich findet Sebastian aber schließlich doch nicht in Kneipen und Chatrooms. Das Ticket für die Reise zu sich selbst bekommt Sebastian – ganz banal – durch die Liebe geschenkt.

„Slumming“ ist eine wunderbar schwarze Komödie. Der Zuschauer weiß allerdings nie so recht, ob er über die arroganten und provokativen Einfälle des Protagonisten lachen – oder sich empören soll. An einigen Stellen droht die Geschichte zu entgleisen, doch Glawogger rettet immer wieder mit unerwarteten Wendungen. Bemerkenswert: die schauspielerische Leistung von August Diehl als Sebastian.

Ich bin auf die Jury-Entscheidung sehr gespannt!

 

Zur Chronik der Berlinale

Zu den besonderen Highlights der Berlinale in der Sektion Retrospektive zählte die Stummfilmvorführung „Zur Chronik von Grieshaus“ (1923-1925). Vor genau 61 Jahren, am 11. Februar 1925, wurde der Film des Regisseurs Arthur von Gerlach in Berlin uraufgeführt. Im Rahmen der Berlinale erlebte nun die restaurierte Fassung ihre deutsche Premiere.

Angekündigt als ein Heimatfilm und trotz des wenig publikumswirksamen Titels nach einer Novelle von Theodor Storm zog die Veranstaltung trotzdem erstaunlich viele Zuschauer an.

Es geht um den Erbstreit zwischen zwei Brüdern und letzten Endes um den Zerfall der adligen Familie Grieshaus. Der eigentliche Hintergrund für die Vorführung aber war, dass man die Filmrestaurierung und Digitalisierung unterstützen und damit bis dahin in Archiven verstaubende Filme wieder zugänglich machen will. So waren unter den Zuschauern viele bekannte Gesichter aus dem Bundesarchiv-Filmarchiv, dem Filmmuseum Berlin, der
Murnau-Stiftung, dem Deutschem Filminstitut (DIF) und Cinegraph versammelt. Man feierte sich selbst und die gemeinsame Arbeit.

Ein Genuss war auf jeden Fall die Musik: Stefan von Bothmer begleitete den Abend mit seinen Interpretationen am Klavier und machte den etwas zu lang geratenen Film zu einem einzigartigen Erlebnis. Mehr zu Stefan von Bothmers Stummfilmkonzerten erfahren Sie unter www.bothmer-music.de

 

Berlinale: HET SCHNITZELPARADIJS

Einer der skurrilsten und liebenswertesten Filme, die mir in der letzten Zeit untergekommen sind. Der Marrokaner Nordip jobbt in einem unfassbar trostlosen Hotelrestaurant als Tellerwäscher, verliebt sich in die Nichte der Besitzerin und fliegt aus dem Job, als die Besitzerin das spitzkriegt, denn auch sie ist schwer in Nordip verknallt.

Das klingt nach einer der zahlreichen, mittelkomischen Immigrantenkomödien, die gerade sehr en vogue sind, doch – und so betonte es der Regisseur auch beim abschließenden Q&A – hier geht es weniger um das Thema „Multikulti“, sondern hauptsächlich darum, das unglaublich anstregende Schuften in einer Großküche zu persiflieren. Das Küchenteam, bestehend aus unappetitlichen, zynischen, gleichsam buckelnden wie tretenden – aber trotzdem fast durchgängig liebenswerten Chargen, sollte eigentlich komplett für den goldenen Bären nominiert werden.

Regisseur Martin Koolhoven hat einen enorm abwechslungsreichen Stall junger, unverbrauchter Darsteller aus allen Kulturkreisen zusammengetrommelt, die in aberwitziger Komik und unglaublichem Tempo agieren. Der Film ist vollgepackt mit Dialogwitz, böser Satire und wunderbaren Pointen. Die Hauptdarsteller Mounir Valentyn und die an Erotik schwer zu überbietende Bracha van Doesburgh [seufz] sind schlichtweg grandios.

Mehr Infos zum Film hier. Wenn sich für diesen Film kein deutscher Verleih findet, werde ich richtig sauer.

Läuft noch am 16.02. um 17:00 im Zoo Palast 4 und am 18.02. um 18:00 im Colosseum 1.
Sehr empfehlenswert.

 

„Babylonia“

Nachdem ich Ewigkeiten in den Menschenmassen im Berlinalepalast gestanden habe und fast die Hoffnung auf einen der begehrten Plätze für die Deutschlandpremiere von „Syriana“ verloren habe, nachdem ich zwei Minuten vom Filmbeginn unzählige Treppen steigen musste, bin ich endlich an der obersten Balkonreihe des riesigen Kinosaals angekommen.

„Geschafft!“, so dachte ich auch nach dem Film. Stephen Gaghan („Traffic“) präsentiert mit seinem diesjährigen Wettbewerbsbeitrag wieder eine weltumspannende Handlung, die scheinbar beliebig zwischen Schauplätzen in Saudi Arabien, Beirut, Genf, Texas und Marbella wechselt. Das Puzzle aus Intrigen, Gewalt und Korruption ergibt zunächst für den Zuschauer wenig Sinn und es fällt schwer, den Szenenwechseln und der babylonischen Sprachvielfalt des Films zu folgen. Das Milliardengeschäft mit Öl zieht sich als roter Faden durch alle Episoden: Sowohl auf wirtschaftlicher, politischer als auch auf privater Ebene kennt es keine Skrupel.

Nicht wenige werden sich aber eher für das Staraufgebot des Films begeistern können. Neben Matt Damon präsentiert sich George Clooney in der Rolle eines alternden CIA-Agenten von seiner kuscheligen Seite: Er hat für den Film 15 Kilo zugenommen.

 

Seifenoper der Berlinale

Können Seifenopern etwas bewirken? Der dänische Wettbewerbsfilm „Eine Soap“ setzt sich mit dieser Frage beiläufig auseinander: Eine banale Fernsehserie wird in der Geschichte von der Regisseurin Pernille Fischer Christensen zum Lehrbuch für die Protagonisten.

Der Form einer TV-Serie folgend, besteht der Film aus mehreren Folgen, eine Off-Stimme schildert die vorangegangenen Ereignisse und die Gefühlskonflikte. – Somit wird alles zur Sprache gebracht, was die Hauptfiguren des Films bewegt und aber im richtigen Leben nie artikuliert wird.

Charlotte, 34 verlässt ihren gut situierten Mann. Auf der Suche nach der großen Liebe wechselt sie mehrere Liebhaber, ohne ihre Sehnsucht zu erfüllen. Durch einen Zufall rettet sie eines Tages ihrem Nachbarn das Leben. Er ist ein sentimentaler junger Mann, der sich Veronica nennt, und sich im Wunsch, geliebt zu werden, in die Travestie verirrt hat. Durch die Rettung kommen sie sich näher. Später schauen sie gemeinsam Fernsehen: „Du hast mich mit deiner Liebe gerettet“ – sagt eine Stimme in der Serie, während die Kamera die Gesichter von Veronika und Charlotte studiert. Von da an wird die aufgetragene Sentimentalität der Serie auf starke Gefühle übertragen, die auch den Kinozuschauer mitreißen.

 

Warten auf die Berlinale

Tataa-Tataa – wir haben anlässlich der Berlinale eine filmkundige Gastautorin, die ich hiermit herzlich begrüßen möchte. Sie heißt Ksenia Vasilyeva, ist Germanistin und Anglistin mit Schwerpunkt Medien. Sie arbeitet als freie Mitarbeiterin für das Internationale Filmfest Braunschweig und Cinegraph in Hamburg.

Die Spannung vor der Bekantgabe der Filme, die am Berlinale-Wettbewerb teilnehmen, erinnert an die WM-Fußball-Qualifikation. Alle fiebern für die deutschen Filme, schielen auf die Konkurrenz, auch aus Ländern, von deren Filmlandschaft wir kaum etwas wissen. Nun ist es so weit. Das Programm für die 56. internationalen Filmfestspiele Berlin steht fest. Vier deutsche Filme nehmen dieses Jahr im Wettbewerb teil: Elementarteilchen von Oskar Roehler, Requiem von Hans-Christian Schmid, Der freie Wille von Matthias Glasner und Sehnsucht von Valeska Grisebach.

Das sequenzübergreifende Berlinale-Prinzip ist, wie immer, alles- und nichtssagend: „die Filme sind in diesem Jahr realitätsnah, sehr persönlich und politisch“, – so der Berlinale-Direktor Dieter Kosslik. Beim Studieren des Programms mit Beiträgen aus über 100 Ländern fällt jedoch eine thematische und länderspezifische Häufung auf: islamische Länder, Naher Osten, Abughreb und Guantanamo. Bei der Berlinale geht es eben um alles. Weitere Schwerpunkte sind Musik und Filme von und über Künstler. Es gibt Beiträge über das Kochen und sexuelle Diversität. Es gibt mal wieder George Clooney und Franka Potente. Auch dem allgegenwärtigen Thema Fußball kann man sich auf der Berlinale 2006 nicht entziehen: insgesamt 7 Filme sind dieser Sportart gewidmet.

Am 9. Februar fängt das größte deutsche Filmfestival an und wird 10 Tage lang das Publikum in einen Rausch versetzen. Ich werde mich dem Wahn anschließen und mich mit den Menschenmassen auf der Suche nach dem cineastischen Kick von Kino zu Kino treiben lassen. Welche Juwelen werde ich wohl dieses Jahr unter den zahlreichen Premieren und Debüts auf der Berlinale entdecken?

 

Wie sich die Berlinale anfühlt

Ein verstopfter Potsdamer Platz. Die immergleichen Nachrichten, welcher Filmstar wann/wie/mit wem im Kumpelnest getanzt hat. Permanentes „Reload“-Klicken auf der Berlinale-Internetseite, auf der man wegen überforderten Datenbanken trotz T3-Leitung 15 Minuten braucht, um ein Ticket vorzubestellen, das man sich dann trotzdem vor einem Bretterverschlag in den überheizten Potsdamer Platz Arkaden abholen muss. Die unerträgliche BZ, die tagelang nichts anderes macht, als Brustwarzen des diesjährigen Berlinale-Luders abzubilden. Menschen aus allen Ländern, die die Grippe einfliegen und gleichmäßig unter der Berliner Bevölkerung verteilen.

Ja, ja.

Aber eben auch: Im Kino sitzen. Mit Gleichgesinnten. Gespannt. In froher Erwartung. Den Film zu sehen.

Es ist ein bisschen wie Weihnachten. Die Vorbereitungen nerven, jedes Jahr. Aber wenn erst mal das Glöckchen geklingelt hat und die Tür zum Weihnachtszimmer aufgeht, dann kehrt auch im letzten Miesepeter eine Art von Glück ein.