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Schamanismus in der Maria am Ostbahnhof

Und so war es gestern bei THE FALL:

Mark E. Smith war besoffen. Er war nicht angeschickert, nicht angetütert, auch nicht betrunken, er war schlicht und einfach absolut stockbesoffen. Man merkte das schon, als Bassist, Gitarrist, Keyboarderin und Drummer deutlich nach Mitternacht für ein kleines Präludium die Bühne bestiegen. In ihren Blicken war die nackte Angst zu sehen. Die Angst, ob Smith überhaupt nachkommen würde, ob er das Konzert durchstehen würde, und womöglich auch die Angst, ob es zu einer Schlägerei auf der Bühne kommen könnte.

Nach einem verdächtig langen Instrumental-Intro zu „Bo Demmick“ – die Begleitband schaute schon verstohlen ob Herr Smith denn überhaupt noch käme – betrat Smith mehr oder weniger auf allen Vieren die Bühne. Die Augen zu winzigen Sehschlitzen verengt, torkelnd, sich in aller Seelenruhe sein Sakko ausziehend. Seine schon jahrelang bekannten Mundzuckungen und –mahlbewegungen hatten ein neues Maximum erreicht, ich hatte während der ersten Minuten des Konzerts mehrmals das Gefühl, Mark E. Smith würde sich in den nächsten Sekunden schwallartig übergeben müssen. Er lief auch immer in etwas gebeugter Haltung hinter den Verstärkern herum. Es sah alles nicht gut aus.

Und daher spielte die Band um ihr Leben. Nichts anmerken lassen. Smith suchte die Mikrofone und fand sie. Legte los. Begann seinen Sprechgesang, seine Predigt. Und dann wurde erstmal alles gut. Er schaffte es seine Texte unters Volk zu bringen ohne umzufallen oder sich zu übergeben. Um diesen Status zu halten, gestattete sich die Begleitband zwischen den Songs Pausen der Länge null. Es ging von einem Song zum nächsten, ohne Unterbrechung, zack, zack, zack.

Smith war in aggressiver Stimmung. Während seiner Wortkaskaden behinderte er permanent seine Musiker, verdrehte dem Gitarristen dauernd alle Regler seines Verstärkers, haute mit dem Mikrofon gegen die Tasten des Synthesizers, klaute dem Schlagzeuger auch schon mal einen Beckenständer oder das Bassdrum-Mikro oder wickelte dem Bassisten sein Mikrofonkabel um den Hals. All dies nicht spielerisch, sondern in erkennbarer Absicht zu nerven. Als er anfing, wieder und wieder sein Gesangsmikro in die Bass-Drum zu legen, wurden auch die Bühnentechniker nervös.

Die Band verhielt sich äußerst de-eskalierend, der Gitarrist spielte einfach weiter und stellte seinen Sound heimlich wieder richtig, wenn Smith ihm den Rücken zuwandte, die Synthesizerspielerin beachtet ihn nicht weiter, der Bassist grinste und wickelte sich langsam wieder aus dem Mikrokabel; selten habe ich eine Band professioneller agieren gesehen. Man könnte natürlich auch sagen, dass die Jungs schlicht feige waren, und es war sehr interessant dieses Machtspiel zu beobachten: Smith als jahrzehntelanger Spiritus Rector der Band, vor dem man selbst dann noch kuscht, wenn er volltrunken mit 5 Promille herumzankt.

Weiowei, das klingt alles so negativ. Aber dem Konzert hat es natürlich nicht geschadet, es entstanden unglaubliche Energien im Publikum, vor allem in der zweiten Hälfte des Konzerts, als Smith sich zumindest physisch spürbar gefangen hatte. Es gab furiose Versionen von „Mountain Energei“, von „What about us?“ (Was bei Smith immer klingt wie „What about arse?“), „I can hear the grass grow“ und ein völlig großartiges, zehn Minuten langes „Blindness.“

Es ist, wie es ist. Mark E. Smith ist ein unglaublich geniales Riesenarschloch.

 

Qualen nach Zahlen

Neues Projekt erdacht: Postleitzahlensaufen. Man nehme sich eine beliebige Berliner Postleitzahl und probiere in diesem PLZ-Bereich alle (alle!) Kneipen aus, und zwar mit mindestens einem Bier. Diese Woche geht’s los, mit der 12161. Ich werde berichten.

 

Als ich meine Traumfrau traf

Es war ein sonnenlichtdurchfluteter Sonntagnachmittag. Zufrieden, beschwingt, fast heiter war ich, und ich sog berauscht den Geruch von sengendem Asphalt in meine Nasenflügel ein, als ich gemächlich über den Breitscheidplatz flanierte. Ja, es war Frühling. Heute konnte man es zum ersten Mal riechen. Auf einmal war alles anders, der Fokus meiner Betrachtungen hatte sich verschoben. Ich sah das Schöne, Wahre und Gute. Hier ein glückliches Paar Arm in Arm, womöglich am Anfang einer wundervollen Beziehung voller gegenseitigem Geben und Nehmen, dort ein zwitscherndes Vögelchen, im kunstvollen Sopran die ihm doch so eigene Weise flötend. Vorbei an einem Eiscafé, den Duft von gutem italienischen Espresso und von Vanille kurz erhaschend, vorbei an der Fußgängerzone hinter der Gedächtniskirche, wo die zarten Birken kurze Schatten warfen.

Das Schlechte und Üble, ich sah es nicht. Die kaugummikauenden siebzehnjähigen Mädchen mit nichtendenwollenden schwarzen Stiefeln, in welchen dampfende Strümpfe zu vermuten, ich sah sie nicht. Die zu Robotern mutierten jugoslawischen Halbstarken, deren Lebenszweck es ist, mit Zischlauten minderwertige Drogen anzubieten und im Sekundentakt ihren klebrigen Speichel auf den Boden zu rotzen, ich sah sie nicht. Die Betrunkenen, umhertorkelnd und einen halbverdauten Cheeseburger auf dem Pfeffer – und Salz – Mantel umhertragend, grölend und pöbelnd, ich sah sie nicht. Wie verwunderlich und doch wie schön: Der bloße Wechsel einer Jahreszeit hatte diesen Ort der Entsetzlichkeit und Rohheit in ein Refugium der Stille, der Beschaulichkeit und der Lebensfreude verwandelt. Und auch mich hatte dieser Wechsel verwandelt.

Aufgeräumt und mit lachender Seele strebte ich auf das Mövenpick Café zu. Ja, Rast wollte ich machen. Rast vom ziellosen Umherschlendern und gleichsam eine Zäsur an diesem außerordentlichen Nachmittag setzen. Ich sah mich um. Es war sogar ein Tisch vor dem Café frei. Ein Tisch, der zur einen Hälfte der prallen Sonne ausgesetzt war, dessen andere Hälfte gleichwohl im schützenden Schatten einer Markise lag. Das Schicksal bot mir heute alle Möglichkeiten der Erquickung und Labung. Ich setzte mich in den Schatten und wartete auf die Kellnerin, welche just damit beschäftigt war, am Nebentisch eine Gruppe fröhlich scherzender Amerikaner abzukassieren. Ich betrachtete die Kellnerin. Sie war von vollkommener Anmut, von graziler Statur, sommerlich, aber nicht anzüglich gekleidet, redegewandt und von einer gewinnenden Art; ihre ausgeprägten Wangenknochen in Verbindung mit einer kecken, beinahe spitzbübischen Nase, verrieten gleichsam Intellekt, Lebensfreude und Stil. Sie kam zu mir, säuberte mit flinken und effizienten Bewegungen den Metalltisch, wobei ich, um ihr zu assistieren, kurz den Aschenbecher anhob, als auch sie dies im selben Augenblick mit ihrer anderen Hand tun wollte, und einen kurzen Moment lang berührten sich unsere Fingerspitzen und eine elektrische Spannung durchfuhr mich. Bei dem Gedanken, was die Kellnerin mit diesen Händen alles anstellen würde können, bekam ich augenscheinlich eine Latte Macchiato!

Ich bestellte einen Kaffee und einen Cognac. Mit einem Zwinkern flüsterte sie die Worte „Kommt sofort“ und verschwand im Getümmel der Tische und der um diese herum plazierten Designerstühle, besetzt von Zerstreuungssüchtigen.

Sie hatte es mir angetan. Vereinte sie nicht die doch von mir postulierten Eigenschaften, welche in ihrer Gesamtheit zu erlangen, mir bei einer Frau bisher noch nicht vergönnt war? Schön war sie, sicherlich geistesgegenwärtig und intelligent, geschmeidig und grazil, und hatte sie nicht auch etwas Musisches an sich ? Welches Musikinstrument würde zu ihr passen ? Vielleicht eine Geige. Aber da war auch dieser leichte Anflug einer beinahe literarischen Schwermut, den sie ausstrahlte. Ja, wahrscheinlich würde sie Cello spielen. Cello oder Bratsche, beides wäre möglich. Ob ich sie fragen sollte, welches Instrument sie spielte ? Dafür war es wohl zu früh.

Schon war sie wieder bei mir und stellte mir mit einem dahingehauchten „Bitteschön“ Kaffee und Cognac auf den Tisch. „Kann ich gleich abkassieren?“, fügte sie, nun ein wenig geschäftsmäßiger, hinzu. Ich zauderte. „Ich bleibe gewiß noch länger, kann ich eventuell nachher bezahlen ?“, fragte ich, gleichsam höflich und vorsichtig, aber auch mit einem Tonfall, der ihr meine absolute Verläßlichkeit suggerieren sollte. Ihr prüfender Blick streifte (striff ? stroff?) mich eine oder zwei Sekunden, dann sang sie ein „Na gut“ und war wieder verschwunden. Ha! Nun war ich kein gewöhnlicher Kunde mehr. Andere, vermutlich billige Laufkundschaft, mußten sofort bezahlen, ich war jetzt quasi ein Gast der ersten Klasse, ein deLuxe-Kaffee-Cognac-Trinker, einer, der mit dem Chef der Kneipe nach der Sperrstunde noch einen heben geht. Oder mit der Kellnerin. War ich bisher schon erfüllt und zufrieden, wollte ich nun schier zerplatzen vor überschäumendem Frohsinn und vor genießerischer Lebensgier.

Jemand tippte mir auf die Schulter. „Ist hier noch frei ?“ – Ich drehte mich um. Ein schwammiger, in eine grotesk kolorierte Freitzeithose gezwängter Mittzwanziger mit erheblicher Minipli blickte mich wie ein barocker Engel mit abgelaufenem Haltbarkeitsdatum fragend an. Was sollte ich tun ? Nähme dieser Mensch, der zweifelsohne auf der Schattenseite des Lebens ein trauriges Dasein fristete, neben mir Platz, würde die bezaubernde Kellnerin sicherlich denken, jener Mensch gehöre zu mir, sei womöglich gar ein guter Freund ! Vorbei wäre alle Liebesmüh´! Doch war dies nicht die Gelegenheit, an einem so wundervollen Tag den Akt der Nächstenliebe zu üben ? Im Geiste dem Mitmenschen Bruder und Schwester sein, das war es doch, worauf es ankam. Mit glockenklarer Stimme antwortete ich „Aber selbstverständlich. Bitte, setzen Sie sich !“. Der Mann nahm Platz, nicht ohne seiner Jogginghose vorher ein Handy, einen großformatigen Schlüsselbund, eine Sonnenbrille, ein speckiges Portemonnaie und eine Packung Marlboro samt Zippo-Feuerzeug zu entnehmen. Was in so eine Hose alles hineinpaßte.

Dann, urplötzlich und ohne Vorwarnung, mit der Gewalt einer Lawine, chininbitter und betroffenmachend, stürzte das Unfaßbare auf mich ein. Die Kellnerin eilte lachend auf meinen Tisch zu, den zu teilen ich mich bereitgefunden hatte, umarmte und herzte den Mutanten, welcher neben mir Platz genommen, und sprach die ernüchternden und doch beruhigenden Worte „Mensch Klausi, da biste ja endlich. Ich hab hier echt die Schnauze voll, mir sind grade schon zwei Fingernägel abgebrochen, die Kids haben zu Hause nur rumgenervt, ich bin noch nicht mal zum Trainieren gekommen ! Außerdem waren Damian und Siggi hier und haben gefragt, ob wir nachher zusammen DSDS kucken. Aber ich bring Dir erst mal dein Weizen!“.

Dein Weizen.

Dein.

Weizen.

Erst jetzt fiel mir auf, daß es dämmerte. Eine kühler Wind hatte zu blasen begonnen und leichte Gänsehaut bemächtigte sich meines Oberkörpers. Ich legte 5 Euro auf meinen Getränkedeckel und latschte die Treppen zur U2 hinunter, vorbei an lärmenden krakeelenden, hustenden, kotzenden, nervenden Berliner Ekelmenschen.

 

Prost Mahlzeit

Die Polizei-Pressestelle meldet heute:

<btreptow -Köpenick
Angriff auf Polizisten

Heute früh attackierte kurz nach Mitternacht ein 45-jähriger Mann aus Köpenick einen 37-jährigen Polizeioberkommissar und eine 31-jährige Polizeiobermeisterin mit Fußtritten. Der Mann hatte sich zuvor in einem Wagen der Straßenbahnlinie 63 auf Sitze und den Fußboden erbrochen. Als ihn ein BVG-Mitarbeiter an der Haltestelle Brückenstraße in Köpenick aufforderte, den Wagen zu verlassen, trat ihm der 45-jährige zweimal in den Bauch. Ein Fahrgast konnte den Gewalttäter bis zum Eintreffen der alarmierten Polizei festhalten.

Als er von den beiden Beamten zum Streifenwagen gebracht werden sollte, trat er um sich und traf den Oberkommissar mehrfach am Schienbein. Auch im Polizeiwagen ließen seine Attacken nicht nach. Von der Rücksitzbank aus trat er der Obermeisterin, die auf dem Beifahrersitz saß, mehrfach so heftig gegen den Oberkörper, so dass sie mit Arm- und Schulterverletzungen vom Dienst abtreten musste. Während des gesamten Einsatzes beleidigte der alkoholisierten Angreifer die beiden Beamten. Bei ihm wurde eine Blutentnahme vorgenommen.

Das sind die Momente, in denen ich weder Straßenbahnfahrer noch Polizisten beneide.

 

Die Polizeieieieieiei……

Hihi:

Berlin (AFP) – In dem nicht gerade für Karnevals-Frohsinn bekannten Berlin haben sich während der „tollen Tage“ ausgerechnet drei Polizisten daneben benommen: Bei einer privaten Faschingsfeier in der vergangenen Woche hätten sich die Beamte in ihrer Freizeit „derart aufgeführt, dass der Leiter der Direktion 5 eine Strafanzeige und disziplinare Vorermittlungen eingeleitet hat“, hieß es in einer am Mittwoch veröffentlichten Erklärung der Polizei. Während der Weiberfastnacht im „Brauhaus Spandau“ kam es demnach zu Auseinandersetzungen zwischen Beamten verschiedener Dienstgruppen. Ein 41-jähriger Dienstgruppenleiter, sein 31-jähriger Vertreter sowie ein 34-jähriger Polizeihauptmeister sollen mehrfach unter anderem ihre Verkleidung, die aus Schottenröcken bestand, „gelüftet“ haben. Mehrere Gäste hätten sich betroffen gezeigt und angegeben, „Ekelgefühle empfunden zu haben, da die Beamten keine Unterbekleidung trugen“. Außerdem sollen die drei Mitarbeiter in körperliche Auseinandersetzungen mit Gästen verwickelt gewesen sein. Alle Beteiligten sollen unter Alkoholeinfluss gestanden haben.

 

Alexanderplatz ist nicht gleich Alexanderplatz

„Jochen! Ich war im Fernsehen! Ich hab 16.ooo Euro gewonnen. Bei der SAT 1 Quizshow!“ So tönte es kürzlich aus meinem Telefonhörer. Christian, ein Bekannter der seinen Lebensunterhalt üblicherweise zu gleichen Teilen als Friseur und Astrologe verdiente, war dem Rat eines Freundes gefolgt, der zu berichten wusste, dass man bei SAT1 stets händeringend nach Quizshowkandidaten sucht. Hatte sich beworben, war gecastet worden und hatte nach drei Wochen einen Drehtermin erhalten, den er als Sieger verließ.

Ausgerechnet Christian, diese völlige Nachtjacke. Sofort betrat ich die Sat1-Website und bewarb mich bei genannter Quizshow als Kanditat. Die Fernseh-Maschinerie lief wie geschmiert, nur drei Wochen später bekam ich eine briefliche Einladung der Produktionsfirma Grundy TV. Ich hätte mich am kommenden Sonntag im NH Hotel Berlin-Alexanderplatz einzufinden. Es finde ein Casting mit Allgemeinbildungstest statt, außerdem solle man zusätzlich überlegen, wie man die Summe von 1000 Euro originell verbraten würde, wenn man sie denn bekäme. Mit dieser Fangfrage wollte man wohl testen, wie originell man so drauf ist. Na, die würden sich aber wunder, würden die sich aber!

Auch fies: Das „NH-Hotel Alexanderplatz“ ist zwar in Berlin, aber nicht direkt am Alexanderplatz, sondern sicherlich drei Kilometer davon entfernt. An dieser Hürde würden nicht wenige andere Castingteilnehmer bereits scheitern, da war ich sicher. Um Punkt elf fuhr ich mit einer Droschke vor, in der völligen Gewissheit ich würde hier abräumen wie ein Fürst. Für die 1000 Euro-Sonderprämie, hatte ich mir ausgetüftelt, würde ich eine Vorleserin engagieren, die in einem Kinderheim behinderten und tschernobylverstrahlten, mehrfach amputierten Kleinkindern den ganzen Tag Geschichten vorläse. Verschweigen würde ich natürlich, dass diese Vorleserin meine gutaussehende Bekannte Sophia wäre, die die erhaltenen 1000 Euro nach der dummen Vorleserei mit mir in der Berliner Victoria Bar auf den Kopf bzw. Tresen hauen würde.

Siegesgewisser Einzug in die Hotellobby, am Tresen klingeln alle Telefone Sturm, die Rezeptionisten erklären ein ums andere Mal, nein, das NH Hotel ist nicht DIREKT am Alexanderplatz, Sie müssen die Tram 4, 5 oder 6…..

Lächle still.

Soll mich im Tagungsraum „Königs Wusterhausen“ einfinden. Vor genanntem Tagungsraum stehen 80 Leute sich die Beine in den Bauch. Einige um einen Aschenbecher herum, andere einfach so, mit dem ICHBINNURZUFÄLLIGHIER-Nlick. Bebrillte Checker, Studenten mit Aktenköfferchen, bekiffte Wenigerchecker mit Fransenpony, dreivier Sprittis, die dringend Geld brauchen, und viele viele mittelalte Hausfrauen.

Die Tür geht auf. SO, ALLE MAL REINKOMMEN, tönt es launig und von nun an sind wir in der Hand von drei Spaßzwergen der Firma Grundy TV, zwei Männer, eine Frau, keiner von ihnen größer als Einssechzig, die als Bonsai-Zerberusse vor der Eingangstür zum Tagungssaal sitzen und jedem von uns ein Klemmbrett in die Hand drücken. 80 Leute schlängeln sich in den Saal, man nimmt Platz und hört zu. Man trägt seinen Namen und seine Adresse auf seinen Personalstammbogen ein. Auf dem zweiten Formular sind senkrecht nach unten die Zahlen von 1-25 geschrieben und jeweils rechts daneben die Möglichkeiten A, B, C oder D. Es werden nun in halsbrecherischer Geschwindigkeit 25 Fragen verlesen, Multiple Choice, je eine Antwort ist richtig, und die muss man mit seinem Kuli einkreisen. In einer Ecke des Raumes ist auch eine Kamera aufgebaut, aber die ist für später, lernen wir.

Ich bin ja sowieso nur zum Spaß hier, als Chronist quasi, mache mir also auch ganz schnell ganz viel Notizen. Zum Beispiel schreibe ich auf, dass die Mittzwanzigerin aus dem Casting-Team, die die von ihrem Kollegen verlesenen Fragen zusätzlich nochmal auf einem Pappschild hochhält, erstens ein außergewöhnlich rares Nada Surf-T-Shirt trägt und zweitesn darunter superwunderbare Hupen hat, nicht zu groß, nicht zu klein, korrekter Prangwinkel, alles knuspi und HUP HUP! Schreibe des weiteren auf, dass der Kaffee hier sensationell schelecht schmeckt. Oder dass die Fragen, die uns hier gestellt werden, selten dämlich sind. Beispiel: Was ist Penicillin? Ein Antibiotikum, eine Währung, ein Porzellan oder eine Tierart?. Schlafwandlerisch beantworte ich alle Fragen, klar ich habe sowieso alles richtig. Dann ist Abgabe. Jeder muss seinen Antwortzettel in seinen Personalbogen reinfalten und abgeben. Dann alle nochmal raus vor die Tür, das Castingteam wird nun über Schablonen eine Blitzauswertung des Tests machen. Pause.

Komme mit einer grauumrandeten Mittfünfzigerin ins Gespräch, nägelkauend und kettenrauchend steht sie da, sie braucht ganz dringend Geld, was ich denn mit den 1000 Euro extra machen würde. Erzähle meinen Plan mit dem Kinderheim. Sie weint vor Rührung. Dann erzählt sie: Sie würde ein Jahr lang die KFZ-Haftpflicht für ihren Fiat Polo davon bezahlen. Aha. Sie drückt mir die Daumen, ich ihr auch.

Bingbang! Alle wieder rein. Wir erfahren nun vom Chefcaster, die besten 5 dürfen bleiben und werden dann vor der Kamera ein bisschen genauer befragt. Der Rest muss leider nach Hause gehen. Und schon werden die 5 Namen verlesen. Meiner ist nicht dabei.

Hä?

Verstehe ich nicht.

Stelle fest, ich bin gekränkt. Schnippe ärgerlich meinen Notizzettel (Geile Hupen, sensationell schlechter Kaffee, blöde Fragen) in meine Ledertasche und verlasse mit 75 anderen in überwiegend geduckter Haltung den Ort. Die graue Frau weint, ich sehe es, sie geht einige Schritte vor mir raus und entert die Trambahn nach Hohenschönhausen, das ist natürlich schon bitter.

Ich hingegen, ich merke erst zu Hause, dass ich einen folgenschweren Fehler gemacht habe. Der Antwortbogen ist noch in meiner Aktentasche. Über meinen Notizzettel (Geile Hupen, sensationell schlechter Kaffee, blöde Fragen), über diesen Zettel lachen jetzt drei kleine Menschen der Firma Grundy TV. Vielleicht hängt dieser Zettel jetzt sogar an irgendeiner lustigen Pinnwand. Man steckt nicht drin.

 

Und nun: Das Wetter.

Der Winter in meiner Heimatstadt Bonn geht so: Ab November regnet es, im Januar wird der Regen etwas kälter, Mitte März ist alles vorbei. An der Kleidung merkt man den Wechsel der Jahreszeit vor allem daran, dass man einen Pullover über das T-Shirt zieht und an schlimmen Tagen auch mal den Wintermantel aus dem Schrank holt. In Berlin geht Winter ganz anders. Interessant deswegen auch die die Art und Weise, wie sich die Mode mit den Temperaturen ändert.

Zwischen 2 und 5 Grad:
Die meisten Berliner sehen noch nicht ein, dass sie anfangen soll, ihren Kleiderschrank umzuräumen. Sie tragen die Kleidung aus dem Sommer in diversen Schichten übereinander. Berliner Frauen haben deswegen auch den Trend geschaffen, dass sie einen unter einem Rock eine Jeans tragen. Oder umgekehrt. Etwas empfindliche Studentinnen, die gerade aus Freiburg gekommen sind, um hier ihr Theologiestudium zu beenden, tragen schon mal Handschuhe und einen Schal.

Zwischen 1 und -3 Grad:
Langsam ändert sich das Bild. Viele Menschen frieren und haben angefangen, die Kartons mit den Wintersachen aus dem Keller zu räumen. Deswegen riecht es jetzt in U-Bahnen nicht mehr nach abgestandenem Schweiß sondern wie in einer Mottenkiste. Der Berliner, mit den aktuellen Modetrends nicht immer sofort einer Meinung, trägt gerne bewährtes, so dass man auf seiner Fahrt zur Arbeit immer ein buntes Potpourri der Mode aus den letzten 10 Jahren bewundern kann. Von diesen Temperaturen an sieht man bestimmte Mädchen, die meist Sandy, Mandy, Cindy oder Mindy heißen in riesigen Daunenjacken rumlaufen, unter denen sie darunter weiter ihr bauchfreies Top tragen.

Zwischen -3 und -6 Grad:
Fast alle Berliner haben eingesehen, dass der Sommer tatsächlich vorbei ist und die niedrigen Temperaturen bleiben. Fast alle Berliner frieren. Deswegen haben sie auch schon mal die Kiste mit den Klamotten aus dem Keller geholt, die sie eigentlich seit ein paar Jahren schon weggeben wollten. Ja, auch der Berliner findet, dass man ab einem gewissen Zeitpunkt bestimmte Moden nicht mehr tragen kann. Die Berliner, die das nicht so sehen, machen dann irgendwann einen Retro-Modeladen in einem Trendbezirk auf und werden reich.

Zwischen -7 Grad und -10 Grad
Ab dieser lächerlichen Kälte frieren ausnahmslos alle Berliner. Die arme Freiburger Theologiestudentin hat ihre süße Mansarden Wohnung in Berlin Friedrichshain mit dem romantischen Kohleofen verlassen und ist zu ihren Eltern nach Freiburg gefahren, bis das Wetter wieder besser wird. Ab diesem Zeitpunkt ist es dem Berliner völlig egal was er trägt. Er zieht einfach alles an, was er hat, ohne Rücksicht auf Mode oder das Farbempfinden anderer Menschen. Deswegen sehen viele Berliner jetzt aus wie eine seit Jahren mit tausenden von Plakaten immer wieder überklebte Litfasssäule. Ungefähr so bewegen sie sich auch.

Ab -11 Grad plus scharfer Ostwind und Schneeverwehungen
Die ersten Fahrradfahrer tauchen wieder auf, weil sie es nicht einsehen, sich dem Wetter zu beugen. Man kann nicht mehr unterscheiden, ob man mit einem Mann oder einer Frau spricht, weil sich alle bis zur Unkenntlichkeit vermummen. Sexuelle Aktivitäten erfordern mindestens drei Stunden Vorbereitungszeit, weil man so lange braucht, um sich auszuziehen. Die Sommerklamotten werden in den Keller geräumt, weil man davon ausgeht, dass es nie mehr warm wird. Viele Berliner erwägen den Kauf eines handlichen Flammenwerfers für den Weg zur Arbeit. Die letzten Restaurants räumen ihre Außentische rein.

Sobald allerdings die Sonne wieder rauskommt und die Temperaturen wieder die 5 Grad übersteigen, werden FlipFlops getragen. Zur Not mit Socken.

 

Typologie-Nachschlag

Da die Typologie Berliner Busfahrer ja eine Art von Brüller und Publikumserfolg war, hier ein wenig Nachschlag.

Nämlich: Die fünf Hauptärgernisse beim Busfahren. Bitteschön.

1. Der Kita-Ausflug.

Man fährt auf die Haltestelle zu, die von einer Traube aus etwa 30-40 Kleinkindern belagert wird. Eine Erzieherin geht voran, schwenkt ein Gruppenticket und in den folgenden 60 Sekunden bollern die 30-40 Kinder in die obere Etage, wo sie sofort beginnen ein Geruchsgemisch aus Mandarinen, Schokolade, nassen Schuhen, Schweiß und Kaugummi abzusondern. Es entsteht ein heterogener Geräuschteppich aus Lachen, Weinen, Kreischen, Plappern. Einige Haltestellen später: Die 30-40 Kinder steigen wieder aus. Erneutes Bollern und Kreischen. Danach gespenstische Ruhe im Bus.

2. Die klemmende Hintertür.

Wird zumeist durch irgendeinen Tüffeltoffel ausgelöst, der im Augenblick der Türschließung im Weg steht: Eine Hälfte der Doppeltür schließt normal, die andere, blockierte, bleibt halboffen stehen. Es gibt an dieser Stelle vier Fallunterscheidungen, sortiert nach den vier unterschiedlichen möglichen Temperamenten bzw. Befähigungen des Busfahres, als da sind: Choleriker, Stoiker, Schamane, Depressiver.

Der Choleriker schimpft laut unverständliches, stapft wütend durch den Bus nach hinten. Löst die Notverriegelung, tritt die Tür mit Leibeskraft wieder in die richtige Form, poltert zurück zum Fahrersitz, überprüft vor Abfahrt erneut die Funktion der Tür. Funktioniert sie, dann fährt er die nächsten 30 Minuten überall, wo möglich, vor Wut mit Vollgas. Funktioniert sie immer noch nicht, wiederholt sich der Vorgang vier bis fünf mal mit steigendem Zorn, bis der Busfahrer einen im Weg stehenden Fahrgast tötet und von der Polizeit abgeholt wird.

Der Stoiker schaltet den Motor des Busses aus. Schaltet den Motor wieder ein. Prüft, ob die Tür sich nun schließen lässt. Wenn ja, fährt er weiter, wo sich an der nächsten Haltestelle das Spiel wiederholt. Wenn die Tür immer noch nicht klappt, macht er wieder den Motor aus. Und wieder an. Repeat and fade out.

Der Schamane schaltet den Motor aus, geht nach hinten durch, bleibt stehen, versenkt sich minutenlang in die mentale Aura Türschließmechanismus‘, rüttelt dann einmal kurz an der Tür, wodurch sie repariert wird, und fährt weiter.

Der Depressive schaltet den Motor aus, ruft die Einsatzzentrale an und legt den Bus für immer still. Manchmal flüstert er mit letzter Kraft über die Lautsprecheranlage, „bitte alle aussteigen, der Bus ist defekt“. Fällt wenig später ins Wachkoma.

Da in den ersten drei Fällen die reparierten Türen spätestens an der übernächsten Haltestelle erneut klemmen, gibt es nur einen, wichtigen Ratschlag: Bei klemmender Hintertür immer den Bus sofort verlassen, Taxi nehmen.

3. Die morgenländischen Jugendlichen (vor allem in Wedding, Moabit, nördliches Schöneberg).

Sind zu sechst bis acht, Aggro-Level 150%, steigen als Menschenkette entgegen der Vorschriften an der HINTEREN Tür ein, poltern laut die Treppen in die obere Etage hoch. Sie wollen gar nicht Bus fahren, sondern provozieren. Hier gibt es ein genau festgelegtes Programm: Handy-Klingeltöne ausprobieren, auf die Sitze spucken, demonstratives Ausprobieren von Klapp- und Springmessern, Klimmzüge an den Haltestangen, lautes persönliches Ansprechen und Beleidigen einzelner Fahrgäste, lautstarkes mit den Fäusten gegen die Fenster donnern, um weitere draußen stehende Freunde zu begrüßen, danach sofortiges geschlossenes Verlassen des Busses. Es kommt vor, dass all dies in weniger als 30 Sekunden abgearbeitet ist, sodass die morgenländischen Jugendlichen den Bus genau an der selben Haltestelle wieder verlassen, noch vor Abfahrt des Busses.

4. Platzhalter
Hier erwartet man nun einen onkeligen Text über Mütter mit Kinderwagen oder Rentner mit Kartoffelmercedes. Das ist aber doof. Wer Kinder hat oder nicht mehr gut zu Fuß ist, ist gestresst genug und muss nicht noch durch den Kakao gezogen werden.

5. Der Verliererbus

Der Verliererbus ist das Demütigendste überhaupt. Verliererbusse gibt es auf allen Linien mit dichter Taktzahl, z.B. der Linie 148 von Zehlendorf zum Alexanderplatz. Diese Linie verkehrt in Stoßzeiten alle 5 Minuten. Theoretisch. In der Praxis sieht es so aus, dass zehn Minuten lang gar kein Bus kommt und dann zwei hintereinander. Der vordere ist stets der Verliererbus, denn in ihn steigen an den Haltestellen immer ganz viele Leute ein. Aus dem hinteren Bus wiederum steigen nur Leute aus, sodass er immer leerer und flinker und wendiger wird, während der vorderer immer voller, lahmer und unbeweglicher wird. Irgendwann beginnt der hintere Bus den vorderen zu überholen. Spätestens dann spürt man als im vorderen Bus sitzender eine gefährliche Mischung aus Missgunst und blankem, kalten Hass.