Es war ein sonnenlichtdurchfluteter Sonntagnachmittag. Zufrieden, beschwingt, fast heiter war ich, und ich sog berauscht den Geruch von sengendem Asphalt in meine Nasenflügel ein, als ich gemächlich über den Breitscheidplatz flanierte. Ja, es war Frühling. Heute konnte man es zum ersten Mal riechen. Auf einmal war alles anders, der Fokus meiner Betrachtungen hatte sich verschoben. Ich sah das Schöne, Wahre und Gute. Hier ein glückliches Paar Arm in Arm, womöglich am Anfang einer wundervollen Beziehung voller gegenseitigem Geben und Nehmen, dort ein zwitscherndes Vögelchen, im kunstvollen Sopran die ihm doch so eigene Weise flötend. Vorbei an einem Eiscafé, den Duft von gutem italienischen Espresso und von Vanille kurz erhaschend, vorbei an der Fußgängerzone hinter der Gedächtniskirche, wo die zarten Birken kurze Schatten warfen.
Das Schlechte und Üble, ich sah es nicht. Die kaugummikauenden siebzehnjähigen Mädchen mit nichtendenwollenden schwarzen Stiefeln, in welchen dampfende Strümpfe zu vermuten, ich sah sie nicht. Die zu Robotern mutierten jugoslawischen Halbstarken, deren Lebenszweck es ist, mit Zischlauten minderwertige Drogen anzubieten und im Sekundentakt ihren klebrigen Speichel auf den Boden zu rotzen, ich sah sie nicht. Die Betrunkenen, umhertorkelnd und einen halbverdauten Cheeseburger auf dem Pfeffer – und Salz – Mantel umhertragend, grölend und pöbelnd, ich sah sie nicht. Wie verwunderlich und doch wie schön: Der bloße Wechsel einer Jahreszeit hatte diesen Ort der Entsetzlichkeit und Rohheit in ein Refugium der Stille, der Beschaulichkeit und der Lebensfreude verwandelt. Und auch mich hatte dieser Wechsel verwandelt.
Aufgeräumt und mit lachender Seele strebte ich auf das Mövenpick Café zu. Ja, Rast wollte ich machen. Rast vom ziellosen Umherschlendern und gleichsam eine Zäsur an diesem außerordentlichen Nachmittag setzen. Ich sah mich um. Es war sogar ein Tisch vor dem Café frei. Ein Tisch, der zur einen Hälfte der prallen Sonne ausgesetzt war, dessen andere Hälfte gleichwohl im schützenden Schatten einer Markise lag. Das Schicksal bot mir heute alle Möglichkeiten der Erquickung und Labung. Ich setzte mich in den Schatten und wartete auf die Kellnerin, welche just damit beschäftigt war, am Nebentisch eine Gruppe fröhlich scherzender Amerikaner abzukassieren. Ich betrachtete die Kellnerin. Sie war von vollkommener Anmut, von graziler Statur, sommerlich, aber nicht anzüglich gekleidet, redegewandt und von einer gewinnenden Art; ihre ausgeprägten Wangenknochen in Verbindung mit einer kecken, beinahe spitzbübischen Nase, verrieten gleichsam Intellekt, Lebensfreude und Stil. Sie kam zu mir, säuberte mit flinken und effizienten Bewegungen den Metalltisch, wobei ich, um ihr zu assistieren, kurz den Aschenbecher anhob, als auch sie dies im selben Augenblick mit ihrer anderen Hand tun wollte, und einen kurzen Moment lang berührten sich unsere Fingerspitzen und eine elektrische Spannung durchfuhr mich. Bei dem Gedanken, was die Kellnerin mit diesen Händen alles anstellen würde können, bekam ich augenscheinlich eine Latte Macchiato!
Ich bestellte einen Kaffee und einen Cognac. Mit einem Zwinkern flüsterte sie die Worte „Kommt sofort“ und verschwand im Getümmel der Tische und der um diese herum plazierten Designerstühle, besetzt von Zerstreuungssüchtigen.
Sie hatte es mir angetan. Vereinte sie nicht die doch von mir postulierten Eigenschaften, welche in ihrer Gesamtheit zu erlangen, mir bei einer Frau bisher noch nicht vergönnt war? Schön war sie, sicherlich geistesgegenwärtig und intelligent, geschmeidig und grazil, und hatte sie nicht auch etwas Musisches an sich ? Welches Musikinstrument würde zu ihr passen ? Vielleicht eine Geige. Aber da war auch dieser leichte Anflug einer beinahe literarischen Schwermut, den sie ausstrahlte. Ja, wahrscheinlich würde sie Cello spielen. Cello oder Bratsche, beides wäre möglich. Ob ich sie fragen sollte, welches Instrument sie spielte ? Dafür war es wohl zu früh.
Schon war sie wieder bei mir und stellte mir mit einem dahingehauchten „Bitteschön“ Kaffee und Cognac auf den Tisch. „Kann ich gleich abkassieren?“, fügte sie, nun ein wenig geschäftsmäßiger, hinzu. Ich zauderte. „Ich bleibe gewiß noch länger, kann ich eventuell nachher bezahlen ?“, fragte ich, gleichsam höflich und vorsichtig, aber auch mit einem Tonfall, der ihr meine absolute Verläßlichkeit suggerieren sollte. Ihr prüfender Blick streifte (striff ? stroff?) mich eine oder zwei Sekunden, dann sang sie ein „Na gut“ und war wieder verschwunden. Ha! Nun war ich kein gewöhnlicher Kunde mehr. Andere, vermutlich billige Laufkundschaft, mußten sofort bezahlen, ich war jetzt quasi ein Gast der ersten Klasse, ein deLuxe-Kaffee-Cognac-Trinker, einer, der mit dem Chef der Kneipe nach der Sperrstunde noch einen heben geht. Oder mit der Kellnerin. War ich bisher schon erfüllt und zufrieden, wollte ich nun schier zerplatzen vor überschäumendem Frohsinn und vor genießerischer Lebensgier.
Jemand tippte mir auf die Schulter. „Ist hier noch frei ?“ – Ich drehte mich um. Ein schwammiger, in eine grotesk kolorierte Freitzeithose gezwängter Mittzwanziger mit erheblicher Minipli blickte mich wie ein barocker Engel mit abgelaufenem Haltbarkeitsdatum fragend an. Was sollte ich tun ? Nähme dieser Mensch, der zweifelsohne auf der Schattenseite des Lebens ein trauriges Dasein fristete, neben mir Platz, würde die bezaubernde Kellnerin sicherlich denken, jener Mensch gehöre zu mir, sei womöglich gar ein guter Freund ! Vorbei wäre alle Liebesmüh´! Doch war dies nicht die Gelegenheit, an einem so wundervollen Tag den Akt der Nächstenliebe zu üben ? Im Geiste dem Mitmenschen Bruder und Schwester sein, das war es doch, worauf es ankam. Mit glockenklarer Stimme antwortete ich „Aber selbstverständlich. Bitte, setzen Sie sich !“. Der Mann nahm Platz, nicht ohne seiner Jogginghose vorher ein Handy, einen großformatigen Schlüsselbund, eine Sonnenbrille, ein speckiges Portemonnaie und eine Packung Marlboro samt Zippo-Feuerzeug zu entnehmen. Was in so eine Hose alles hineinpaßte.
Dann, urplötzlich und ohne Vorwarnung, mit der Gewalt einer Lawine, chininbitter und betroffenmachend, stürzte das Unfaßbare auf mich ein. Die Kellnerin eilte lachend auf meinen Tisch zu, den zu teilen ich mich bereitgefunden hatte, umarmte und herzte den Mutanten, welcher neben mir Platz genommen, und sprach die ernüchternden und doch beruhigenden Worte „Mensch Klausi, da biste ja endlich. Ich hab hier echt die Schnauze voll, mir sind grade schon zwei Fingernägel abgebrochen, die Kids haben zu Hause nur rumgenervt, ich bin noch nicht mal zum Trainieren gekommen ! Außerdem waren Damian und Siggi hier und haben gefragt, ob wir nachher zusammen DSDS kucken. Aber ich bring Dir erst mal dein Weizen!“.
Dein Weizen.
Dein.
Weizen.
Erst jetzt fiel mir auf, daß es dämmerte. Eine kühler Wind hatte zu blasen begonnen und leichte Gänsehaut bemächtigte sich meines Oberkörpers. Ich legte 5 Euro auf meinen Getränkedeckel und latschte die Treppen zur U2 hinunter, vorbei an lärmenden krakeelenden, hustenden, kotzenden, nervenden Berliner Ekelmenschen.