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Wer braucht Belgien?

Nach dem Wahlsieg der Separatisten: Könnten Flamen und Wallonen nicht auch getrennt überleben?

Viele Missverständnisse über Belgien beginnen mit der Annahme, es sei ein Land. Das ist eine Beschönigung. Belgien ist, um es unromantisch aber korrekt auszudrücken, die staatgewordene Konkursmasse der europäischen Imperialzeit, entstanden 1831 infolge einer Absprache zwischen den Rivalen Frankreich, Preußen und Großbritannien. Das strategisch begehrte Gebiet an der Nahtstelle des romanischen und germanischen Sprach- und Kulturraumes sollte keiner der eifernden Großmächte allein zufallen. Die Herrscherhäuser beschlossen deshalb, ein Kunst-Königreich als Pufferzone einzurichten.

Das mag gut gemeint gewesen sein; doch schon bald nachdem der sächsische Prinz Leopold I. zum Monarchen bestellt worden war, zeigte sich, dass das Nationalgefühl der Belgier zu schwinden begann. Keine 189 Jahre später, bei den Wahlen am vergangenen Sonntag, wurde die „Neue Flämische Allianz“ (N-VA) stärkste politische Kraft im Brüsseler Parlament. Die N-VA besteht nicht etwa aus fremdenfeindlichen, nationalistischen Hitzköpfen wie der berüchtigte Vlams Belang. Ihr Chef, der beleibt-selbstironische Historiker Bart De Wever, sagt bloß: „Lasst Belgien ruhig verdampfen.“

Je länger man darüber nachdenkt, desto berechtigter erscheint der Gedanke: Ja, warum eigentlich nicht?

Die Tschechoslowakei hat sich 1992 sanft in zwei geteilt. Vermisst sie jemand? Luxemburg ist winzig, Estland, Lettland und Litauen genauso. Geht es ihnen deswegen schlecht? Weshalb, kurzum, sollten sich nicht auch Flamen und Wallonen aus einer überkommenen historischen Zwangsehe befreien?

Weil, sagt der zweite Wahlsieger des vergangenen Sonntags, der Sozialdemokrat Elio Di Rupo, Belgien auf „Solidarität“ gebaut sei. So freilich nennt der Wallone, der nun Ministerpräsident werden könnte, ohne rot zu werden die mehreren Milliarden Euro, die jedes Jahr als Transfer vom reicheren flämischen Norden in den ärmeren französisch-sprachigen Süden fließen. Die Arbeitslosigkeit in der Wallonie liegt mit rund 14 Prozent fast doppelt so hoch wie der belgische Durchschnitt. Anfang der 1960er Jahre wurden in den Zechen zwischen Ardennen und Maas noch einundzwanzig Millionen Tonnen Kohle pro Jahr gefördert. Heute sind es keine zwei Millionen Tonnen mehr, und wer durch die verarmten Arbeiterquartiere von Lüttich oder Charleroi streift, kann kaum glauben, dass er sich in Westeuropa befindet. Und er wird, anders als in Flandern, kaum auf Leute treffen, die neben der französischen noch andere Sprachen pflegen. Statt auf mutigen Strukturwandel und Weltoffenheit zu setzen, so sehen es viele Flamen, klammerten sich Di Rupo und die seinen unbeirrt an die Segnungen der Umverteilungspolitik.

Ein Witz, der dieser Tage in Belgien kursiert, illustriert das sozio-ökonomische Schisma zwischen Nord und Süd recht trefflich. An einer wallonischen Fabrikwand hängt ein Schild mit der Aufschrift On ne parle pas flamand (Wir sprechen kein Flämisch). An einer flämischen Fabrikwand das Schild On ne parle pas – au travail (Wir sprechen nicht – wir arbeiten).

Viele der Flamen, die die N-VA gewählten haben, glaubt der Brüsseler Politikprofessor Dave Sinardet, hätten dies nicht getan, weil sie allen Ernstes eine Teilung des Landes wollten. „Sie ärgern sich bloß über die Blockade der Wallonen, wenn es um Reformen geht. Es reicht ihnen allmählich.“ Tatsächlich fordert auch N-VA-Chef Bart De Wever keine sofortige Scheidung. Er spricht erst einmal von einer „Konföderation“.

Viel weniger Belgien, das weiß er, wäre auch kaum möglich. Denn es gibt da ein drittes Gebilde, das die vagabundierenden Regionen beieinanderhält wie ein Atomkern. Brüssel. Im Fall einer Spaltung Belgiens müsste die Hauptstadt entweder dem Norden oder dem Süden zugeschlagen werden – oder einen autonomen Status erhalten, ähnlich wie Washington D.C. Doch nie und nimmer würden Flamen oder Wallonen auf das pulsierendere Verwaltungszentrum Europas verzichten, das hunderttausenden Pendlern Arbeit beschert. „Brüssel abzulösen wäre so, als würden die Saudi-Arabier sagen, wir planen eine Zukunft ohne Öl“, sagt Kurt de Boeuf, ein langjähriger Mitarbeiter des ehemaligen belgischen Ministerpräsidenten Guy Verhofstad. Der Flame glaubt ohnehin: „Die Wallonie kann sich erholen. Das Investment-Level nähert sich dem von Flandern an. Außerdem, Flandern altert, und in der Wallonie gibt es viele junge Leute. Irgendwann werden wir einen Rententransfer von Süd nach Nord brauchen.“

Bis es soweit ist, glaubt der Politikprofessor Sinardet, wird Belgien überleben. „Um Solidarität zu üben, muss man schließlich kein Sozialist mehr sein. Wir sehen doch gerade, dass Lastenteilung ein sehr europäischer Gedanke wird.“ Das freilich ist die hoffnungsvolle Sicht der Dinge. In vielen Staatskanzleien, gerade im Norden Europas, sieht man das ganz anders. Eine Transferunion nach belgischem Modell, das wäre der reinste europäische Albtraum – zur Nachahmung keinesfalls zu empfehlen.

 

Ernstfall Köhler

Es lohnt sich, in die heutige, also veraltete Ausgabe des Spiegel zu schauen. „Horst Lübke“ ist auf Seite 24 ein Artikel über den ehemaligen Bundespräsident Köhler überschrieben.

Darin unterstellen ihm die beiden Spiegel-Autoren dreierlei:

Köhler könne „nicht unfallfrei reden.“

Er sei ähnlich blamabel wie Heinrich Lübke („Meine Damen und Herren, liebe Neger“).

Er rechtfertige „Wirtschaftskriege“.

Da fragt man sich schon, ob es Kollegen gibt, die womöglich nicht unfallfrei denken können. Was Horst Köhler in dem inkriminierten Interview mit dem Deutschlandfunk gesagt hat, ist nichts anderes als eine Lagebeschreibung. Die Bundeswehr wird selbstverständlich eingesetzt, um Handelswege zu sichern. Im Falle der Atalanta-Einsatzes am Horn von Afrika ist dies ausdrückliches Missionsziel.

Im Bundestags-Mandat heißt es:

 „Zum  anderen  soll  die  Operation  den  zivilen  Schiffsverkehr  auf  den  dortigen  Handelswegen  sichern,  Geiselnahmen und  Lösegelderpressungen unterbinden und das Völkerrecht durchsetzen.“

Im Fall des Bundeswehreinsatzes in Afghanistan geht es ebenfalls unmittelbar um Stabilität durch die Förderung von Kommerz. „Wandel durch Handel“ ist eine immer wieder gehörte Formel im Gespräch mit Isaf-Kommandeuren am Hindukusch.

Das aktuelle „Weißbuch“ des Bundesverteidigungsministeriums, also so etwas wie die deutsche nationale Sicherheitsstrategie, definiert in Kapitel 2 eine Aufgabe von Bundeswehreinätzen darin, „den freien und ungehinderten Welthandel als Grundlage unseres Wohlstands zu fördern und dabei die Kluft zwischen armen und reichen Weltregionen überwinden zu helfen.“

Diese Strategie ist keineswegs skandalös, sondern richtig. 

Die Geschichte, insbesondere die europäische, lehrt, dass es kaum eine verlässlichere Friedensgrundlage gibt als funktionierenden Kommerz. Wer Handel betreibt, den einen gemeinsame Interessen. Und nur wer etwas besitzt, hat etwas zu verlieren. Es gibt keine handfestere Form von Diplomatie als Warenaustausch.

Was uns Deutschen allerdings bewusst sein sollte, ist, dass wir mit unserem Engagement in Afghanistan vor allem chinesischen Wirtschaftsinteressen zuarbeiten. Robert Kaplan bringt es in der aktuellen Ausgabe von Foreign Affairs auf den Punkt: „Peking hofft, Straßen und Energie-Pipelines durch Afghanistan und Pakistan bauen zu können, um sein knospendes Reich an die Häfen des Indischen Ozeans anschließen zu können.“

Die Stabilisierung Afghanistans stärkt zunächst einmal die östliche Hemisphere, nicht die westliche.

Darüber zu reden, wäre eine lohnende Debatte gewesen.

 

Kurz vor der Explosion

Das mangelnde Gefühl der EU für Bürgerrechte sorgt für immer größere Spannungen im Staatengebälk. Droht Europa ein „Supernova-Effekt“?
 
Wird den Schöpfern des Lissabon-Vertrages gerade mulmig darüber, was die EU neuerdings dürfen darf? Das Bundesverfassungsgericht hat gerade die Vorratsdatenspeicherung für grundgesetzwidrig erklärt. Das deutsche Ausführungsgesetz, das die Richter wegen unzureichender Genauigkeit und zu breiter Eingriffsgrundlagen verwarfen, stützte sich auf eine EU-Richtlinie, die am 15. März 2006 erging. Sie verpflichtet alle 27 Mitgliedsstaaten der EU, praktisch alle Telekommunikationsdaten ihrer Bürger mindestens ein halbes Jahr zu speichern, zum Zwecke der „Ermittlung, Feststellung und Verfolgung von schweren Straftaten“.

Mit einigen Jahren Verspätung fragen sich jetzt immer mehr EU-Staaten, was für eine Regelung sie damit eigentlich in die Welt gesetzt haben – und welche weiteren Eingriffe in die Bürgerrechte der Europäer der Lissabon-Vertrag möglich macht. Die Vorratsdatenspeicherung ist – obwohl Vergangenheit – ein Lehrbeispiel dafür, auf welchen Wegen und von welchen Interessen gelenkt in Zukunft verstärkt europäische Bürgerrechtseingriffe stattfinden können.

Die neue EU-Kommissarin für Innen- und Justizpolitik, die Schwedin Cecilia Malmström, kündigte soeben an, die Nutzen und Kosten der Vorratsdaten-Richtlinie bis September überprüfen zu lassen. Die Richtlinie war von Anfang an umstritten. Irland und die Slowakei hatten im Ministerrat gegen die Sammelanordnung votiert. Doch sie wurden überstimmt.

Und genau hier beginnt der Fall exemplarisch zu werden für die EU als problematische Rechtssetzungsinstanz. Im Staatenpool von Brüssel herrscht eine legislative Dynamik, die mit den üblichen Mitteln von Politik und Öffentlichkeit nicht zu kontrollieren ist. Daran ändert der Lissabon-Vertrag nichts – im Gegenteil.

Schon seit 2002 gab es Überlegungen für Datenspeicherungen, um Terroristen auf die Spur zu kommen. Im Jahr 2005 ging dann plötzlich alles sehr schnell – wegen zweier Ereignissen. Am 1. Juli übernahm Großbritannien die halbjährliche EU-Ratspräsidentschaft. Am 7. Juli explodierten in London vier Bomben von Selbstmordattentätern, die in der U-Bahn und in einem Bus 56 Menschen in den Tod rissen. Der britischen Innenminister Charles Clarke nahm sich darauf hin vor, die Vorratsdatenspeicherung so schnell wie möglich durch die Brüsseler Instanzen zu peitschen.

Dazu umging Clarke die EU-Rechtssetzungsregeln. Denn trotz der Schockwelle von London zeigten sich mehrere Staaten skeptisch, ob die Richtlinie verhältnismäßig sein würde. Für Rechtsakte in der Justiz- und Innenpolitik brauchte es damals aber Einstimmigkeit im Ministerrat. Die britische Regierung erklärte die Vorratsdatenspeicherung deshalb kurzerhand zu einer Maßnahme zur Harmonisierung des Binnenmarkts.

Für solche Rechtsvorschriften gilt in der Brüssel das Express-Verfahren. Im Rat braucht es keine Einstimmigkeit – dafür aber muss das Europäische Parlament der Vorlage zustimmen. Dies hatte mit dem offenkundigen Missbrauch des Verfahrens wenig Probleme.  „Die Briten wussten, dass das Parlament sich nicht gegen sie stellen würde. Denn die Abgeordneten fühlten sich geschmeichelt, dass sie mitreden durften“, sagt Roderick Parkes, Brite und Leiter des Brüsseler Büros der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP).

Am 14. Dezember 2005 ist alles erledigt. Das Europaparlament stimmt der Vorratsdatenrichtlinie mit 378 zu 197 Stimmen zu. Es ist eine Rekordzeit für ein Brüsseler Gesetz – aber um den Preis von Präzision und Expertise. „Abgeordnete, die Einwände hatten, wurden systematisch umgangen“, sagt Roderick Parkes.

Im Ministerrat stemmten sich Irland und die Slowakei gegen den Trick, die Gesetzgebungsregelungen für den Binnenmarkt zu Zwecke der Terrorbekämpfung zu nutzen, doch ohne Erfolg. Irland klagt deswegen vorm Europäischen Gerichtshof. Dessen Richter stellen sich blind. Im Februar 2009 entscheiden sie, welche Rechtsgrundlage in Brüsseler Runden gewählt werde, müssten die Regierungen entscheiden.

Das Wichtige an dieser Historie ist: Der Lissabon-Vertrag hat genau das damals benutzte Verfahren (Mehrheit im Ministerrat plus Zustimmung des Europäischen Parlamentes) zum Standard für die Gesetzgebung in der Justiz- und Innenpolitik gemacht.

Für Länder wie Großbritannien und Spanien ist eine effiziente Terrorismusbekämpfung auch weiterhin der Maßstab aller Datenerhebungen – und die deutsche Bedenkenträgerei zunehmend ein Rätsel.

„Es gibt im Rat eine klare Mehrheit, die sagt: Spinnen die Deutschen?“, bekennt freimütig Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU). „Aber wir haben nun einmal diese besondere Tradition, es hilft nichts.“
Der Unions-Minister de Mazière ist allerdings aus Sicht der Hardliner-Staaten nicht so sehr das Problem. Er demonstrierte zuletzt Europa-Treue, als er sich bei der Abstimmung über das umstrittenen Swift-Abkommen im Rat der Stimme enthielt.

Mit größerer Sorge verfolgen insbesondere die Briten das Treiben der liberalen deutsche Justizministerin. Britische Diplomaten in Brüssel sind dieser Tage nicht nur hoch interessiert daran, wie sich Sabine Leutheusser-Schnarrenberger korrekt ausspricht. Sondern auch, wie die Dame tickt. Erst klagte sie höchstpesönlich in Karlsruhe gegen die Vorratsdatenspeicherung, dann empfahl sie dem Europaparlament auch noch, gegen das Swift-Abkommen zu stimmen. Was kommt als nächstes?

1995, man erinnert sich, trat Leutheusser-Schnarrenberger unter Tränen als Justizministerin zurück, weil die FDP im Bundestag dem „Großen Lauschangriff“ zugestimmt hatte. Könnte sie sich vorstellen, ihr Schicksal mit ebensolcher Konsequenz an den Ausgang einer Abstimmung im Brüsseler Rat zu binden? Das sei, antwortet Leutheusser-Schnarrenberger der ZEIT, eine hypothetische Frage. „Jetzt geht es doch erst einmal darum, dass wir die Dinge nicht einfach auf uns zurollen lassen. Wir dürfen uns nicht zurücklehnen, sondern müssen uns einbringen.“ Vom europäischen Parlament erwartet sie, dass es sich eine „starke Position erkämpft.“
 
Aber es gibt noch mehr wankelmütige Germanen, die das Brüsseler Diplomatenkorps derzeit mit Argus-Augen verfolgt. Allen voran die Richter in Karlsruhe. Noch, so machten sie in ihrer Entscheidung zur Vorratsdatenspeicherung klar, wollten sich sie an den Grundsatz des Solange-II-Urteils halten. Solange, urteilte das Bundesverfassungsgericht darin im Jahr 1986, und nur solange erkennbar sei, dass die europäische Rechtssetzung im Großen und Ganzen deutschen Grundrechtsstandards entspreche, solange werde das Karlsruher Gericht die Rechtmäßigkeit von EU-Vorschriften generell nicht überprüfen.

Ob genau dieser Standard aber noch erfüllt ist, daran haben nach dem Lissabon-Vertrag offenbar immer mehr der Richter Zweifel. In ihrem Urteil zu dem Reform-Vertrag machten sie vergangenes Jahr deutlich, dass sie sich die Prüfung von „ausbrechenden EU-Rechtsakten“ vorbehalten. Die Stimmung, mit anderen Worten, dreht sich merklich in Richtung eines Solange-III-Urteils. Kleinere Staaten verweigern der Rechtspolitik EU schon heute den Gehorsam. Irland, Österreich, Belgien, Schweden und Griechenland haben die Vorratsdaten-Richtlinie bis heute nicht in nationales Recht überführt.

Der SWP-Forscher Roderick Parkes vergleicht die zunehmenden Spannungen zwischen nationaler und internationaler Ebene in Europa mit einem drohenden „Supernova-Effekt“: „Jetzt, unmittelbar nach Inkrafttreten von Lissabon, strahlt der Stern sehr hell. Aber es kann zur Explosion kommen. Die europäische Justiz- und Innenpolitik steht an einem Wendepunkt.“

 

„Die Uhr läuft gegen uns“

Wie lässt sich ein Scheitern der Nato in Afghanistan noch  verhindern? Ein Gespräch mit General Egon Ramms

Der deutsche Viersterne-General Egon Ramms, 61, ist einer der ranghöchsten deutschen Soldaten. Er leitet das Operationshauptquartier der Nato im holländischen Brunssum. Auf diesem Posten ist er Vorgesetzter des Isaf-Oberbefehlshabers Stanley McChrystal.

Herr Ramms, die Bundeswehr soll in Nord-Afghanistan mehr Präsenz zeigen. Gleichzeitig schicken die Vereinigten Staaten 2500 Soldaten ins deutsche Zuständigkeitsgebiet. Können es die Deutschen einfach nicht?

So würde ich es nicht sagen. Aber: Bei uns in Deutschland sind Entscheidungen zum Einsatz in Afghanistan zum Teil entlang innenpolitischer Verträglichkeiten gefällt worden. Es ging, auch jüngst bei der Londoner Konferenz, in erster Linie darum, wie Entscheidungen der Bevölkerung vermittelt werden konnten. Erst in zweiter Linie interessiert, was für unseren Auftrag in Afghanistan tatsächlich notwendig ist.

Was wäre denn notwendig?

Notwendig wäre, wenn wir in die Fläche gehen wollen, den Soldaten entsprechende Fähigkeiten mitzugeben, zum Beispiel Aufklärungsmittel wie moderne Drohnen und ausreichend viele Transporthubschrauber. Jetzt bekommen wir Letztere von den Amerikanern. Deutschland trägt im Norden die Führungsverantwortung. Die Bundesregierung muss den Soldaten die Wahrnehmung dieser Rolle auch ermöglichen.

Das klingt, als hätten Sie Verständnis für den oft gehörten Vorwurf innerhalb der Nato, die Deutschen seien eine Drückeberger-Nation.

Nein. Vor ein paar Jahren mag der Vorwurf teilweise berechtigt gewesen sein. Mittlerweile führen wir im Norden Aktiv-Operationen zusammen mit den afghanischen Streitkräften. Was nach wie vor stimmt, ist, dass wir mehr rechtliche Klarheit darüber brauchen, was die deutschen Soldaten im Einsatz dürfen und was nicht. Die Rechtslage für die Bundeswehr stammt noch aus dem Kalten Krieg. Damals waren solche Szenarien, wie wir sie heute erleben, nicht vorauszusehen. Auch nach der für mich unerwarteten Klarstellung durch den Außenminister, dass es sich in Afghanistan um einen Bürgerkrieg handelt, eine Klarstellung, die ich sehr begrüße, gibt es noch weiteren Handlungsbedarf. Was bedeutet das für die Soldaten? Sie brauchen konkrete neue Anweisungen.

Wann war Ihnen eigentlich klar, dass die Lage im Norden keineswegs so ruhig war, wie dies das Verteidigungsministerium in den vergangenen Jahren vermitteln wollte?

Ich hatte im Mai 2007 ein Gespräch mit dem Kommandeur des Wiederaufbauteams in Kundus, und er hat mir erklärt, dass es notwendig sei, gegen die Aufständischen in dem Gebiet vorzugehen. Später, so seine Einschätzung, würden wir dazu wesentlich mehr Kräfte brauchen. Die Erkenntnis über die Lage dort oben hatten wir also schon damals.

Hat die Bundesregierung auf diese Lage aus Ihrer Sicht angemessen reagiert?

Im Jahr 2007 habe ich keine Reaktion feststellen können. 2008 und 2009 ist dann durch Truppenverstärkungen und durch die Entsendung der Quick Reaction Force der Entwicklung, ich möchte mal sagen, zu Teilen Rechnung getragen worden.

Nur zu Teilen? Heißt das, der Luftangriff auf die beiden Tanklaster im vergangenen September wäre vermeidbar gewesen, wenn der deutsche Oberst Klein andere Einsatzmittel zur Verfügung gehabt hätte? Kampfhubschrauber zum Beispiel?

Ich möchte nicht in eine laufende Untersuchung eingreifen. Selbstverständlich könnte die Palette der Wirkungsmöglichkeiten deutlich erweitert werden. Möglicherweise helfen uns jetzt die Amerikaner weiter. Sie bringen Gerät in den Norden mit, das helfen kann, Kollateralschäden in der Bevölkerung deutlich zu minimieren.

Wie empfänglich war das Bundesverteidigungsministerium in der Vergangenheit eigentlich für Ihre Expertise?

Ich würde mir wünschen, dass man – gerade mit Blick auf meine Erfahrungen in ganz Afghanistan und mit den Menschen und ihrem Verhalten – das Ohr für meine Beiträge manchmal etwas weiter öffnen würde. Ich sehe einen Teil meiner Aufgabe auch darin, meinem Land sowie auch allen anderen beteiligten Nationen als Berater zur Seite zu stehen.

Mit welchen Gefühlen verfolgen Sie die deutsche Debatte um einen Rückzug aus Afghanistan?

Um ganz ehrlich zu sein: Als ich im Jahr 2007 meine Aufgabe in diesem Hauptquartier übernommen habe, habe ich den Gebrauch des Wortes Exit Strategy verboten. Ich habe es verboten, weil es an die Afghanen, an unsere Gegner aber auch an unsere eigene Bevölkerung die falschen Botschaften sendet. Die Afghanen empfangen die Botschaft ,Die wollen uns verlassen’, und die Aufständischen empfangen die Botschaft ,Die gehen bald – wir müssen nur warten’, und unsere eigene Bevölkerung glaubt ‚Diese lästige Angelegenheit ist bald vorbei!‘ Alle diese Botschaften vermitteln falsche, unrealistische Eindrücke.

Statt abzuziehen, soll das Bundeswehrkontingent nun erst einmal um 500 Soldaten aufgestockt werden, und die Soldaten sollen auch wieder Fußpatrouillen im Norden unternehmen. Bedeutet das nicht, dass es zwangsläufig mehr Tote geben wird?

Nicht zwangsläufig, nein. Das hängt von der Herangehensweise ab. Richtig ist aber: Das Risiko erhöht sich deutlich.

Ist das Isaf-Mandat eigentlich weit genug gefasst, um den selbst gesetzten Ansprüchen des „umfassenden Ansatzes“ gerecht zu werden? Gegenüber Drogenhandel und Korruption sind Nato-Soldaten machtlos.

Die Uhr in Afghanistan läuft gegen uns. Wenn andere Organisationen, die eigentlich zivile Aufbauarbeit leisten sollten, die gewünschten und erwarteten Ergebnisse nicht erzielen, kann Nicht-Handeln keine Alternative sein. Ich würde mir wünschen, dass die Nato in etlichen Bereichen politisch besser dazu befähigt würde, dieses Aufgabenspektrum abzudecken. Die Nato ist – leider – immer noch ein überwiegend militärisches Bündnis. Ich würde gerne Bataillone von zivilen Beratern in Nordafghanistan sehen, die den Einheimischen bei der Entwicklung und den Aufbau ihres Landes helfen. In Afghanistan bräuchten wir 5000 Polizeiausbilder, um das Ziel zu erreichen, das wir uns vorgenommen haben.

Moment mal – ein Top-Militär plädiert für weniger Militär?

Was mich in der Tat stört, ist, dass wenn wir über Afghanistan sprechen, sich der Blick immer reflexartig auf das Verteidigungsministerium und die Soldaten richtet. Das ist verkehrt. Der Anteil des Militärischen, an dem Ziel, das wir dort zu erreichen suchen, beträgt vielleicht 25 Prozent. Die anderen Anteile sind zivile Anteile. Bloß, für die ist den vergangenen Jahren nicht genug Personal zur Verfügung gestellt worden, und niemand hat sich wirklich verantwortlich gezeigt.

Präsident Karsai sagte bei der Münchner Sicherheitskonferenz, es werde nur noch fünf Jahre dauern, bis Afghanistan für seine eigene Sicherheit sorgen könne. Glauben Sie das?

Was die Sicherheit angeht ja. Aber wird Afghanistan bis dahin als Staat funktionieren? Nein.

Wäre es dann nicht sinnvoll, die Bundeswehr grundlegend umzubauen, hin zur einer Gendarmie-Armee, die beides kann: zivilen Aufbau und Kampfeinsatz?

Mit Blick auf den Bedarf in Afghanistan ist diese Frage mit einem eindeutigen Ja zu beantworten. Mit Blick auf das Grundgesetz und die außenpolitische Rolle, die ein Land wie die wiedervereinigte Bundesrepublik Deutschland eigentlich spielen müsste, muss man sagen: Nein. Vielleicht aber sollte die Weltgemeinschaft nach den Erfahrungen der vergangenen zwanzig Jahre, sei es Afghanistan, in Bosnien, im Kosovo oder jetzt in Haiti, darüber nachdenken, ob wir in Zukunft nicht generell viel mehr zivile Wiederaufbau-Kräfte vorhalten müssen.

Die Fragen stellte Jochen Bittner

Fotos: Carl Brunn für DIE ZEIT/www.carlbrunn.de

 

Haubitzen statt Bambis

In der Bundeswehr tobt ein Kampf der Generationen. So geht es nicht weiter mit den deutschen Streitkräften, räumt das Verteidigungsministerium ein

Ein Report

Im Besucherfoyer des Verteidigungsministeriums in Berlin steht ein goldenes Rehlein. Es ist ein Bambi, verliehen an die Bundeswehr in der Preiskategorie „Engagement“. Vor seiner Vitrine hält der Offizier aus der Abteilung Öffentlichkeitsarbeit gerne an, wenn er Touristengruppen durch den Bendlerblock führt. „Wir wurden damit ausgezeichnet für den Einsatz nach dem Tsunami 2005 in Indonesien“, erklärt der freundliche Uniformierte. Wenn dann die Leute ihre Köpfe näher ranrücken an das funkelnde Tierchen, fügt er hinzu: „Es ist nur etwas scheu, deswegen steht’s hinter Glas.“

Gleich neben dem Bambi führen zwei Flügeltüren in den Pressebriefing-Raum des Hauses. Hierher kann der Verteidigungsminister jederzeit die Hauptstadtjournalisten zusammentrommeln. „Meist“, sagt der Besucheroffizier mit plötzlich betretenem Gesicht, „passiert das eher aus traurigem Anlass.“ Wenn deutsche Soldaten sterben und sterben lassen, eben. Kundus war so ein Fall. Da wollte das Bambi vorm Eingang so gar nicht mehr bambihaft gucken.

Die Bundeswehr im Jahr 20 nach der Wiedervereinigung. Ideell hängen die deutschen Streitkräfte noch am Wunschbild einer Armee, die nur aus den Kasernen ausrückt, wenn das Gute lockt. Reell steht sie im Krieg.

Seit 1990 ist der Personalbestand der bundesdeutschen Streitkräfte trotz der Verschmelzung mit der Nationalen Volksarmee der Ex-DDR von 500 000 auf 240 000 abgeschmolzen, und mit der Schlankheitskur sind sie beweglicher geworden. Es ist eine Wandlung, welche die Armeen benachbarter Nachbarstaaten, vor allem in Osteuropa, ebenfalls durchmachen.

Doch die Bundeswehr unterscheidet sich in einem wesentlichen Punkt von allen anderen vergleichbaren Armeen, die dem Gefrierzustand des Kalten Krieges entwachsen. Ihre entscheidenden Lernerfahrungen sammelt sie nicht aufgrund politischer Entscheidungen, sondern trotz ihnen. In ihrer Fortentwicklung ist sie heute unten weiter als oben, sowohl psychologisch wie philosophisch. 15 Jahre Auslandseinsätze haben eine Generation von Offizieren hervorgebracht, deren Erfahrungswelt bisher kaum Entsprechung auf der Berliner Ministeretage fand.

Es sind diejenigen Männer und Frauen aus dem 37 000köpfigen Offizierskorps, die oft das Wort „Idealismus“ benutzen, wenn sie begründen, warum sie zu Berufssoldaten geworden sind. Ihre Wut wächst. Auf der anderen Seite steht eine Generation von Wehrbeamten, die sich an die eine Vergangenheit klammern, in der die Bundeswehr ein Leben in heimischer Gartenzaunidylle verhieß. In weiten Teilen der Truppe herrscht eine Stimmung wie im Dampfkochtopf.

 „Was wir in den vergangenen Jahren im Ministerium erlebt haben, war fortgesetzte Wirklichkeitsverweigerung“, sagt ein erfahrener Bundeswehrmann in einer ruhigen Minute in Kabul.

„Alles, was der Minister von sich gegeben hat, war doch ausgerichtet auf die deutsche öffentliche Meinung“, sagt einer im Nato-Hauptquartier in Brüssel.

„Es war“, sagt ein ranghoher Militär in Berlin, „im Kabinett nicht opportun, die Dinge auszusprechen. Wir haben uns jahrelang etwas vorgemacht.“

 „Ausschließlich terroristische Taliban“ sagte Franz-Josef Jung, seien bei dem Luftangriff auf zwei Tanklaster in Afghanistan am 4. September 2009 ums Leben gekommen.

Der Bombardierungsbefehl des Oberst Klein war nicht nur die tödlichste Order, den je ein Soldat in der Geschichte der Bundeswehr gegeben hat. Er könnte sich auch als Wendepunkt bundesdeutscher Verteidigungspolitik erweisen. Was bei Kundus geschah, darin stimmen viele Offiziere überein, kam dem der Höhepunkt einer klassischen Trägödie gleich. Je krampfhafter das Verteidigungsministerium in den Jahren zuvor an dem Versuch festhielt, die Bundeswehr aus der Brutalität des Krieges herauszuhalten, desto unentrinnlicher versank sie darin.

Wird Kundus tatsächlich zu einen Wendepunkt in der deutschen Verteidigungspolitik? Führt die Katastrophe dazu, dass die Ministeretage im Bendlerblock sich ehrlich macht über die Kosten und Folgen, die Auslandseinsätze gegen Islamisten mit sich bringen?

Die Bilanz der bisherigen Verdrängungsleistung jedenfalls ist eindrucksvoll.

● 2006 kamen mehrere Bundeswehrsoldaten in Afghanistan durch Anschläge ums Leben. Verteidigungsminister Jung befahl daraufhin, dass die Truppe sich nur noch in geschützten Fahrzeugen durchs Land bewegen dürfe. „Das war die sicherste Methode, uns von der Bevölkerung zu entfremden“, sagt ein Praktiker des Einsatzes. „Genau das Gegenteil wäre nötig gewesen, um die Taliban zu bekämpfen. Wir hätten ran gehen müssen an die Leute.“

● 2007 legte eine Gruppe Generale um den der ehemaligen Oberbefehlshaber der Afghanistan-Schutztruppe Isaf, Norbert van Heyst, im Bendlerblock einen Bilanz über die Auslandseinsätze vor. Die Bundeswehr, so ihr Fazit, leide unter einem Mangel an kohärenter Führung, fehlender strategischer Planung, bizarrer Bürokratie und politisch motivierter Kontrollwut des Berliner Ministeriums. Um die Einsätze effizient führen zu können, sei »eine in der Hierarchie des BMVg höher angesiedelte Operationsabteilung« zu bilden. Statt die Vorschläge diskutieren zu lassen, wurde der Bericht als geheim eingestuft und weggeschlossen.

● 2008 forderten Kommandeure in Afghanistan „andere Wirkmittel“ an, unter anderem Bodenstreitkräfte, Kampfhubschrauber vom Typ Tiger und die Panzerhaubitze 2000. Diese moderne Kanone könnte Raketenbeschuss aus den Bergen in die Feldlager mit zielgenauem Feuer erwidern. „Dieses Gerät hätte schon vor dem ersten Schuss abschreckende Wirkung auf die Taliban gehabt“, sagt ein Mitte dreißig jähriger Hauptmann, der in Kundus eingesetzt war. Andere Nationen, unter anderen die Franzosen, nutzen die deutsche Entwicklung. Allein, den Deutschen wurde die Haubitze nicht geliefert. Der Grund dafür sei gewesen, sagt einer, dessen Hauptjob im Vorbringen entsprechender Anliegen bestand, „dass man keine falschen Signal nach Deutschland hinein senden wollte.“

● 2009 hielt Schwarz-Gelb im Koalitionsvertrag gegen jede militärische Vernunft an der Wehrpflicht fest. In der Praxis ist der (von 2011 an auf sechs Monate reduzierte) Zwangsdienst längst mehr zur Last als zum Gewinn geworden. Die Ausbildung der Wehrpflichtigen bindet wertvolle Ressourcen – und erzeugt 50 000 Rekruten, die im Ausland nicht zu gebrauchen sind. „Eine Armee von 160 000 bis 180 000 Berufs- und Zeitsoldaten würde weniger kosten als die gegenwärtige, zugleich aber einsatzfähiger sein“, rechnete die regierungsnahe Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) im Januar 2010 vor.

Die Gefahren und Lasten, die mit dieser Beharrungspolitik verbunden sind, tragen die Soldaten jeden Tag in den Einsätzen. Warum eigentlich regt sich in der Truppe keine Rebellion? „Wir sind ein Offiziercorps von Mitläufern“, sagt ein Oberstleutnant, der seit langem frustriert ist vom trägen, bürokratischen Apparat der Streitkräfte. Defizite würden nicht nach oben geleitet, weil jeder Angst habe, für die Mängel selbst verantwortlicht gemacht zu werden. Auf den Gängen von Kasernen und im Ministerium würden kritische Gespräche abgebrochen, sobald ein Vorgesetzter den Weg kreuze, bestätigen selbst ranghohe Führungskräfte.

„Das schweigsame Folgen aus den 30er und 40er Jahren macht sich heute wieder breit“, urteilt ein Offizier harsch. Gerade wegen der Transformation habe sich in der Truppe eine verhängnisvolle „Gefallsucht“ breitgemacht – denn Einheiten, die Probleme zugeben, müssten Angst haben, die nächsten zu sein, die aufgelöst würden. Es herrsche eine Stimmung, sagt der Karriere-Offizier, wie im Baumarkt: „Geht nicht gibt’s nicht.“

In Afghanistan etwa müssten die Soldaten heikelste Gefechtssituation ohne die erforderliche Ausrüstung bestehen, schildert ein Aussteiger. Marc Lindemann, 33, ein ehemaliger Nachrichtenoffizier, diente bis Ende 2009 im PRT Kundus. Eine Methode, die dort seit 2008 angewandt wird, um Taliban-Guerillas aufzuspüren, sei es, solange Patrouille durchs feindliche Gebiet zu fahren, bis der Gegner angreife. Allerdings, schreibt Lindemann in seinem gerade erschienen Buch „Unter Beschuss“ (Econ 2010), verfügten die Fahrzeuge des PRT Kundus „bis heute weder über eine Reaktivpanzerung, die einem gute Chancen einräumt, den Treffer zu überstehen, noch über eine 30-Millimeter-Bordmaschinenkanone oder gar eine 120-Millimeter-Waffe, die wiederum die Überlebenschancen des Angreifers auf ein Minimum reduzieren. Unsere Soldaten müssen diesen gefährlichen Auftrag mit ungeeigneten Dingos, Mungos und Füchsen durchführen.“ In der Folge seien in den Monaten vor dem Luftangriff auf die Tanklaster vier Bundeswehrsoldaten bei solchen Patrouillenfahrten ums Leben gekommen.

Auch rechtlich sieht sich die Bundeswehr ungenügend gepanzert für die raue Realität der Einsätze. Laut der Einsatzregeln, die jeder Soldat auf einer Taschenkarte mit sich führt, darf erst geschossen werden, nachdem andere das Feuer eröffnet haben. Zwar wurde die Taschenkarte im Sommer 2009 überarbeitet – aber mehr als redaktionelle Veränderungen sind dabei nicht herausgekommen. Die Befugnisse der Bundeswehr bleiben noch immer hinter denen des Kapitels VII der UN-Charta („Robustes Mandat“) zurück, auf dessen Grundlage der Isaf-Einsatz legitimiert ist.

Marc Lindemanns (dem „Unter Beschuss“-Autor) besonderer Zorn gilt dem ehemaligen Generalinspekteur der Bundeswehr, Wolfgang Schneiderhan. Der Vier-Sterne-General sei es gewesen, „der die immer häufiger aufkeimenden Forderungen nach stärkeren Waffensystemen und Truppenaufstockungen abwiegelte und auf den ,zivilen Charakter’ des Auftrags verwies.“

In der Tat, bestätigt ein ranghoher Mitarbeiter des Verteidigungsministeriums auf diese Vorhaltung, sei ein „militärischer Ratschlag, schweres Gerät wie die Panzerhaubitze einzusetzen, bisher nicht erfolgt.“

Nach Kundus macht sich nun Ernüchterung breit im Bendlerbock. Die Fliegerbomben trafen auch den Faradayschen Käfig, der zum Schutz vor geladenen Nachrichten um das Ministerbüro herum errichtet worden war. „Es war“, sagt etwa rückblickend ein ranghoher Ministeriumsvertreter, „von Anfang an ein Webfehler, die Zahl der eingesetzten Soldaten in den einzelnen Regionen entlang parteipolitischer Schmerzgrenzen festgelegt zu haben statt entlang militärischer Erfordernisse.“

Trotz all dieser Unzulänglichkeiten sahen es bisher offenbar viele Verantwortliche als ihre Aufgabe an, nach oben heile Welt vorzuspielen. Im Verteidigungsministerium hätten unter Franz-Josef Jung Referenten häufig nur solche Berichte geschrieben, von denen sie wussten, dass sie der Spitze des Hauses gefallen würden. Kritische Stimmen, wie etwa die des deutschen Generals Egon Ramms, dem Leiter des Operations-Hauptquartiers der Nato in Brunssum (mit ihm folgt ein Interview an dieser Stelle), wurden nach Darstellung von Insidern systematisch abgeblockt. „Jung hat sich nie wohl gefühlt in seinem Amt“, sagt ein General, der Zugang hatte, „er war überfordert und verkrampft und hat schwierige Fragen von sich weg gehalten, weil sie die psychologischen Schwierigkeiten nur vergrößert hätten.“

„Ich habe den Eindruck, viele Führungskräfte wollen überhaupt nicht sehen, was in der Armee los ist“, sagt ein junger Offizier im Generalstab, der daran denkt, seine Bundeswehr-Karriere an den Nagel zu hängen. „Ihnen geht es nur darum, nach oben gut auszusehen, um bloß nicht Opfer der nächsten Sparrunde zu werden.“

Die Hoffnung auf eine Wende verkörpert für viele Bundeswehrangehörige Karl-Theodor zu Guttenberg. Mit ihm könnte ein Minister an der Stauffenberg-Straße eingezogen sein, der seine erste Aufgabe nicht in der Selbstverteidigung sieht. Biographisch und intellektuell gehört der 38jährige zur Generation der neuen Realisten. Nichts anderes als die Wahrheit über den Krieg zu sagen, das hat er sich denn auch gleich nach seinem Amtsantritt vorgenommen.

Guttenbergs Staatssekretär Christian Schmidt räumt gegenüber der ZEIT ein, der „Generationen- und Mentalitätsbruch“ sei noch nicht genug verarbeitet. „Vielleicht“, sagt er, „haben wir uns dem notwendigen Dialog nicht stark genug gestellt.“ Es müsse darauf geachtet werden, „dass sich die Mentalitäten nicht zu stark auseinander entwickeln zwischen den jüngeren Offizieren, die im Einsatz sozialisiert wurden und den Dienstposteninhabern zuhause.“

Bleibt die Frage: Wie viel Wahrheit kann der neue Minister der deutschen Öffentlichkeit zumuten? Wollen die Deutschen eine Armee von Kämpfern? Wollen sie ein Verteidigungsministerium, das nicht mehr für jede Truppenverstärkung den Bundestag anrufen muss? Wollen sie einen Generalstab? Einer aus der neuen Realisten-Riege im Bendlerbock glaubt ja: „Ich habe den Eindruck, die Bevölkerung ist schon weiter als wir im politischen Berlin.“

Fotos: Szenen aus Kundus und Feysabad, (c) BMVg

 

Das Hau-Drauf-Parlament

Der Paukenschlag wird lange nachhallen. Das Europäische Parlament hat mit deutlicher Mehrheit (378 Nein-, 196 Ja-Stimmen, 31 Enthaltungen) das SWIFT-Abkommen mit den USA verworfen.

Auf den ersten Blick erscheint das Votum wie ein Sieg der Bürgerrechte über die Datensammelwut der US-Terrorfahnder. Und um keinen Zweifel an der Sachfrage aufkommen zu lassen: Das bestehende Abkommen ist schlecht und muss ersetzt werden.

Aber was ist seit heute wirklich gewonnen?

SWIFT, die belgische Überweisung-Management-Firma, hat (AKTUALISIERUNG) seit dem 1. Februar keine Daten an die USA geliefert. Hätte das Europaparlament dem Interimsabkommen zugestimmt, hätte der Fluß wieder eingesetzt. Die Position der konservativen EVP-Fraktion hatte gelautet, das Abkommen durch Zusätze binnen vier Wochen mit europäischen Datenschutzstandards auszustatten. Die Gefahr von massenhaftem, unkontrolliertem Datenklau (er findet laut Versicherung von SWIFT schon jetzt nicht statt) wäre äußerst gering gewesen. Jedenfalls hätte er nicht offenkundig außer Verhältnis zum erklärten Ziel gestanden, Terrorangriffe zu verhindern.  

Bis zum Oktober sollte ein Langfrist-Abkommen den Interimsvertrag ersetzen, den die EU-Abgeordneten jetzt abgewiesen haben. Neuverhandlungen unter voller Beteiligung des Parlaments standen also ohnehin an.

Der einschneidendste Effekt, für den das Votum des EU-Parlaments jetzt sorgt, dürfte sein, dass es sich die Vereinigten Staaten dreimal überlegen werden, ob sie über künftige Abkommen mit einem Parlament verhandeln wollen, das es offenbar als seine Hauptaufgabe ansieht, effekthascherisch seine neugewonnenen Muskeln spielen zu lassen.

Einlassungen wie die der SPD-Abgeordneten Birgit Sippel stehen exemplarisch für die Mischung aus Gefallsucht und moralischer Selbstüberhöhung, die die Straßburger Versammlung in der Post-Lissabon-Phase an den Tag legt. „Das Europäische Parlament zeigt Zähne“, sagt die Innenexpertin. Und: „Ein Kniefall (…) vor den USA wäre ein Zeichen der Schwäche gewesen.“

Stärke hat das Parlament mit seiner Entscheidung in der Tat bewiesen. Sippel und ihre Kollegen müssen jetzt bloß noch merken, dass Außenpolitik kein Hau-den-Lukas-Wettbewerb ist. Der Sache der europäischen Bürgerrechte wäre langfristig besser gedient, wenn das Europäische Parlament beweisen würde, dass es seine Macht ebenso verantwortungsvoll einzusetzen versteht wie europäische Nationalstaaten. Ansonsten nämlich gibt es für fremde Mächte wenig Grund, sich mit dem neuen Lissabon-Europa einzulassen.

 

Was SWIFT verhindert hat

Es gibt eine Liste der Anti-Terror-Erfolge. Warum hat das Europäische Parlament sie nicht diskutiert?

Es ist die vielleicht wichtigste Abstimmung, die es je abzuhalten hatte. Das Europäische Parlament will morgen darüber entscheiden, ob weiterhin SWIFT-Überweisungsdaten aus Europa an die Vereinigten Staaten übermittelt werden dürfen.

Die Frage der Bankdatenübermittlung ist von einer rechtpolitischen Diskussion zu einer transatlantischen Grundsatzangelegenheit aufgewachsen. Während der Münchner Sicherheitskonferenz am Wochenende appellierte Barack Obamas Sicherheitsberater James Jones an die Parlamentarier, das SWIFT-Abkommen nicht zu torpedieren; es unverzichtbar für die Terrorismusabwehr sowohl in den USA wie auch in der EU. Außenminister Hillary Clinton lud die EU-Politiker nach Washington ein. Dort wolle sie ihnen die Nutzen der Datenanalyse erläutern.

Doch um genau diesen Nutzen in Augenschein zu nehmen, hätten die EU-Abgeordneten nur wenige Meter zu Fuß gehen müssen. Im Brüsseler Ratsgebäue lag seit dem 1. Februar ein geheim gehaltener Bericht aus, der zehn Fälle auflistet, in denen SWIFT-Daten angeblich zur Aufklärung von Terrorangriffen oder islamistischen Netzwerken beigetragen haben. Zusammengetragen wurde die Liste von dem französischen Ermittlungsrichter Jean-Louis Bruguière, einem hartleibigen Terroristenjäger. Anders als die europäische Öffentlichkeit hatten EU-Parlamentarier Zugang zu dem Dokument. Doch in keiner der Debatten im EU-Parlament spielten die Fälle, die es auflistet, eine Rolle.

Der ZEIT liegt die Brugière-Liste vor. Die zehn Fälle, bei denen SWIFT-Daten demnach zu Ermittlungserfolgen geführt haben, sind:

1. Im Jahr 2006, zum 5. Jahrestag des 11. September, wollten islamistische Terroristen 12 Flugzeuge aus Europa über New York, San Francisco, Boston und Los Angeles zum Absturz bringen. SWIFT-Daten, so der Rats-Bericht, hätten nach den Anschlagversuchen „zu neuen Spuren geführt, Identitäten bestätigt sowie Beziehungen zwischen den einzelnen Verantwortlichen der Terrorplanung ausgemacht.“

2. Trotz gegenteiliger Behauptungen des Bundeskriminalamtes (BKA) und des Bundesinnenministers hätten im Sommer 2007 SWIFT-Daten noch vor der Festnahme der „Sauerland-Gruppe“ nicht nur die Konto- und Überweisungsdaten eines ihrer Mitglieder ermittelt, sondern auch ergeben, dass der Verdächtige Konten im Ausland unterhielt. Ebenfalls vor der Festnahme sei festgestellt worden, dass ein zweites Mitglied der Gruppe Finanzbeziehungen „mit Personen im Ausland“ unterhielt. Diese Informationen seien der Bundesregierung übermittelt worden.

3. Im Januar 2009 stellten US-Behörden Ermittlungen über eine Gruppe Amerikaner an, die mit Hilfe von al-Qaida einen Anschlag in der Vereinigten Staaten geplant haben sollen. Die Personen sollen mit einem mutmaßlichen al-Qaida-Mitglied in Dänemark in Verbindung gestanden haben. SWIFT-Daten hätten „Geldflüsse von und zu den drei Personen in den USA gezeigt.“ Sie hätten „wichtige Informationen enthalten, um neue Untersuchungsrichtungen zu eröffnen. Europäische Partner haben die Informationen auch für eigene Ermittlungen genutzt.“

4. Nach der Terrorattacke auf ein Hotel in Mumbai im November 2008 hätten SWIFT-Daten ergeben, dass mehrere Mitglieder der Lashkar-e-Tayyiba (LeT) „Verbindungen zu Personen und Organisationen in den USA und Europa“ unterhielten. Die Informationen seien den entsprechenden Regierungen zugeleitet worden.

5. SWIFT-Daten hätten einen Indonesier als Finanzchef der Terrorgruppe Jemaah Islamyah „entlarvt“. Sie hätten auch gezeigt, dass die Gruppe, die unter anderem bei einem Anschlag auf ein Hotel in Jakarta am 17. Juli 2009 neun Menschen tötete, Geldgeber in der Golfregion habe.

6. Als Reaktion auf einen Interpol-Sicherheitsalarm am 10. Februar 2009 seien SWIFT-Daten auf  „85 Terroristen“ überprüft worden, die von der Regierung von Saudi-Arabien wegen Verbindungen „zu al-Qaida in Saudi-Arabien, dem Irak und Afghanistan“ gesucht wurden. „Die Ergebnisse entlarvten Decknamen, Namensvariationen und Finanznetzwerke von mindestens neun der Gesuchten. Mindestens eine der Personen könnte Finanzkontakte in mehrere europäische Länder unterhalten.“

7. Anfang 2009 hätten SWIFT-Informationen auf die Spur einer Person „in einem nordeuropäischen Land“ geführt, die Verbindungen zu al-Qaida unterhalten habe. Die Person habe einen Angriff auf ein Flugzeug geplant.

8. Ebenfalls 2009 hätten SWIFT-Daten zur Aufklärung eines Unterstützernetzwerks der asiatischen LeT gedient.

9. Ende 2008 seien SWIFT-Daten genutzt worden, um „Beziehungen erkenntlich zu machen“ zwischen ranghohen Mitgliedern von al-Qaida-affiliierten Gruppen in Südost-Asien.

10. Mitte 2009 hätten SWIFT-Daten Informationen über Mitglieder der baskischen Terrorgruppe Eta ergeben. Diese Informationen seien „europäischen Regierungen“ zugeleitet worden.

Warum haben die Europa-Parlamentarier nicht auf Basis dieser (angeblichen) Fakten über das Swift-Abkommen diskutiert? Wie belastbar die Liste ist, insbesondere wie maßgeblich der Anteil von SWIFT-Erkenntnissen an den Ermittlungserfolgen wirklich war, wie neutral ein Gutachter wie Bruguière ist, wäre weitere Fragen wert. Sie wurden bis heute nicht gestellt, weder in Brüssel noch in Straßburg.

Das EU-Parlament verknüpft ein höheres Interesse mit der SWIFT-Abstimmung als ein rein datenschutzrechtliches. Viele seiner Mitglieder wollen die Gelegenheit nutzen, um zu zeigen, dass das Parlament unter den Regeln des Lissabon-Vertrages ein vollwertiger Mitspieler im europäischen Gesetzgebungsprozess sein muss. Dieses Interesse ist berechtigt. Die Art und Weise aber, wie das Parlament versucht sich zu emanzipieren, spricht nicht für seine Reife.

 

Zur Sache, bitte

Wo blieb die Ehrlichkeit in München?

Karl-Theodor zu Guttenberg traf einen tieferen Nerv als er wollte. „Wir reden zu viel und wir erreichen zu wenig“, sagte derVerteidigungsminister heute morgen vor der Münchner Sicherheitskonferenz. Eigentlich hatte er mit der Bemerkung nur die Reform der Nato gemeint. Doch der Befund gilt über einzelne Themen der Tagung hinaus. In München wurde mehr gebetet als bewegt. Die Konferenz, in anderen Jahren sehr wohl ein Klartext-Forum, geriet in wesentlichen Teilen zur Drum-herum-rede-Runde.

Weder im Atom-Streit mit Iran noch bei der neuen Weltbewegung Global Zero gab es mehr als rhetorisches Geruckel zu besichtigen. Im Falle des Iran mag man den Mangel an Ehrlichkeit noch der Teheraner Seite ankreiden; sein Außenminister gab schlicht keine belastbaren Signale von sich, die den Schluss erlauben könnten, Iran meine es ernst mit der Auslagerung der Urananreicherung.

Die Idee der weltweiten nuklearen Totalabrüstung derweil ist im Begriff  zum Opfer westlicher Denkfaulheit zu werden. Global Zero, das zeigte München, droht sich von einer ambitionierten Initiative zum Sekularreligions-Ersatz der Klimadebatte zu entwickeln. Das ist mindestens schade, denn die Bedrohlichkeit von sich verchaotisierenden nuklearen Abschreckungsmechaniken rund im die Welt steht außer Frage. Doch wenn die Reduzierungs-Bekenntnisse so leer bleiben wie bisher, werden sie bestenfalls in einem Nuklear-Kopenhagen enden.

Drei Jahre ist es her, dass Henry Kissinger und andere Elder Statesmen den Anstoß gaben, „das nukleare Feuer zu bändigen, bevor es uns verzehrt.“ Seitdem haben sich zwar immer mehr Staatschefs und Prominente von Hollywood bis Peking zu dem Ziel bekannt – doch mit eben so beeindruckender Beharrlichkeit weigert sich die vielleicht größte Friedensbewegung aller Zeiten, ihre Ambitionen zu rationalisieren und operationalisieren.

Ein Klang von Stings „Russians“-Song lag in der Luft, als in München auch der russische Außenminister Sergej Iwanow (5200 Sprengköpfe) versicherte, er wolle die Overkill-Potenziale vom Planeten zu verbannen. „Glaube ich wirklich an Global Zero?“, kam er schnell zum Kern der Sache. „Nicht in meiner Lebensspanne. Aber ist das ein Grund, uns nicht zu bewegen?“ John Kerry, Senator der anderen Nukleargroßmacht (5400 Sprengköpfe) sah das ebenso, gleichfalls Frank-Walter Steinmeier (0 Sprengköpfe). Bloß, wie lässt sich ein Spiel stoppen, deren Attraktivität andere Player entweder weiterhin anhängen oder die sie gerade erst entdecken?

Iran entzieht sich ganz offenbar der gewünschten Dynamik, sich von westlicher Abrüstung „nach unten mitreißen“ zu lassen. Das Regime schraubt, glaubt man jüngsten Medienberichten, vielmehr an moderner Sprengkopftechnik. Aus nämlichem Grund wird erstens Israel keine der Bomben, die es offiziell nicht besitzt, nicht aufgeben. Zweitens wird das sunnitische Saudi-Arabien (vielleicht auch Kuwait) einem nuklearen Shiiten-Hegemon eigene Raketen entgegensetzen wollen. Der Markt für den entsprechenden Einkaufszug steht offen; Atomphysiker aus Russland, Raketentechnik aus Nord-Korea, Zentrifugen aus Pakistan.

Apropos Pakistan: Der islamisische Staat (60 Sprengköpfe) setzt den regionalen Rüstungswettlauf mit Indien (50 – 60 Sprengköpfe, alle Schätzungen IISS) unbeeindruckt vom globalen Zero Talk fort. Beide Seiten sagen, sie würde ja gerne abrüsten – sofern die andere Seite anfange. Ägypten, um auf den Nahen Osten zurückzukommen, sagt derweil, es würde seine Atomwaffen-Absichten jederzeit begraben. Sobald Israel abrüste.

Global Zero würde also vor allem eins erfordern: Diplomatische Kärrnerarbeit in jedem einzelnen Schauplatz, wo Arsenale entweder wachsen oder zum betonierten regionalstrategischen Kalkül gehören.

Der Schlüssel zum einem glaubwürdigen Anfang liegt in Iran. Rüstet er auf, rüstet die Region auf. Rüstet die Region auf, ist das historisch-politische Momentum, das sich für die Totalabrüstung bietet, verloren. „Die Straße zu Global Zero führt nicht durch ein nukleares Teheran“, formulierte es John Kerry vorsichtig in München. Schon wahr. Aber welche Straße führt zu einem nicht-nuklearen Teheran? Vielleicht, hoffentlich, sind wir nächstes Jahr ein paar Meter weiter.

 

„Wer das Gesetz bricht, muss sich dafür verantworten“

Es wäre die Gelegenheit gewesen, den Atomstreit zu entschärfen. Als der iranische Außenminister Manuschehr Mottaki gestern das Podium der Münchner Sicherheitskonferenz betrat, hoffte der Saal, er würde den neuesten, hoffnungsvollen Vorschlag seines Präsidenten erläutern. Ahmadinedschad hatte angekündigt, Iran könne Uran künftig im Ausland anreichern lassen. Damit würde die Gefahr, dass das Land mit Hilfe eigener Zentrifugenanlagen Atomwaffen entwickelt, deutlich schwinden. Doch statt die Chance zur Annäherung zu nutzen, stieß Mottaki dem Münchner Publikum vor den Kopf.

Im Gespräch mit dem schwedischen Außenminister Carl Bildt behauptete er, nicht Iran habe ein Problem mit der Demokratie, sondern Europa. Wer der mitternächtlichen Diskussion im Königssaal des Hotels Bayerischer Hof lauschte, konnte nicht anders als Mitleid zu entwickeln für all jene Politiker, die seit Jahren mit einer Figur wie Mottaki verhandeln müssen. Die Runde führte emblematisch vor Augen, worin das anhaltende Problem mit der islamischen Republik liegt. Die Beziehungen zwischen dem Westen und Iran bestehen darin, dass der Westen Fragen stellt und Iran sie nicht beantwortet.

Die Hauptfrage, die Mottaki unbeantwortet ließ, stellte Carl Bildt gleich mehrmals. „Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hat Iran aufgefordert, die Urananreicherung auszusetzen. Warum kommen Sie dieser Forderung nicht nach?“

Nicht-Antwort Mottaki: „Ich arbeite seit 26 Jahren als Diplomat.“ Mit Carl Bildt, „meinem guten Freund, habe ich immer klar und offen geredet.“ Es müsse gleiches Recht für alle gelten. Iran habe nun einmal, wie alle anderen Nationen auch, das Recht auf friedliche Nutzung der Kernenergie.

Neuer Versuch Carl Bildt: „Sie betreiben ein Anreicherungsprogramm, ohne ein Energieprogramm zu betreiben. Wozu brauchen Sie Uran, wenn Sie gar keinen Kernreaktor besitzen? Das wirft Verdachtsmomente auf.“

Nicht-Antwort Mottaki: „Wir brauchen Kernforschung und Isotope für medizinische Zwecke.“

Gänzlich zur Farce geriet die Veranstaltung, als Carl Bildt und andere Mottaki auf die Menschenrechtsverletzungen in Iran ansprachen. „Wir können diese Frage nicht vermeiden“, sagte Bildt (der, nebenbei bemerkt erneut bewies, dass er eine glänzende Wahl für das Amt des Europäischen Außenministers gewesen wäre. Hart in der Sache, freundlich im Ton, konfrontierte er den Iraner mit den entscheidenden Sorgen des Westens und erntete mehrmals Beifall für seine klare, unirritierte Art.) Der Schwede warnte Mottaki vor den Konsequenzen, die es mit sich brächte, wenn die iranische Justiz in den nächsten Tagen tatsächlich neun Oppositionelle hinrichten würde. Sie waren wegen der Unruhen nach der Präsidentenwahl am 12. Juni zum Tode verurteilt worden.

Darauf entgegnete Mottaki, es habe sich um „freie und faire Wahlen“ gehandelt. Wer Iran wirklich kenne, wisse: „Alles, was die Regierung tut, entspricht dem Willen des Volkes.“ Die iranische Führung, ließ der Außenminister durchblicken, sei demokratisch besser legitimiert als beispielsweise das Europäische Parlament. „In einigen EU-Staaten haben sich nur 25 Prozent der Menschen an dessen Wahl beteiligt. Bei uns waren es 85 Prozent!“

Was die Todesurteile betreffe, so träfen sie keine Oppositionellen, sondern Verbrecher. „Sind Sie in Ihren Ländern“, fragte Mottaki ins Publikum, „etwa tolerant gegenüber Gewalttätern?“ Im Übrigen könnten die Verurteilten Berufung einlegen, wenn sie wollten.

Darauf platzte der Grünen-Chefin Claudia Roth, die ebenfalls an der Konferenz teilnahm, der Kragen. In einer couragierten Intervention fragte sie Mottaki, wie er die willkürlichen Verhaftungen, die Misshandlungen durch Revolutionswächter und die Knebelung von Journalisten rechtfertige, die seit dem 12. Juni in Iran geschähen.

Nicht-Antwort Mottaki: „Wir sollten uns auf gemeinsame Grundlagen verständigen. Vor dem Gesetz sind alle gleich. Wer es bricht, muss sich dafür verantworten.“

Ganz am Ende, schon nach Mitternacht, hatte Mottaki allerdings noch eine Frage an Carl Bildt. Es gebe im Nahen Osten, sagte er unter Anspielung auf Israel, nur ein Land, das Atomwaffen besitze. „Was hat der Westen eigentlich getan, um diese Waffen abzurüsten?“

Und diesmal war es Bildt, der mit einer Nicht-Antwort reagierte: „Unser Ziel bleibt eine Welt ohne Atomwaffen.“

Vielleicht wäre eine andere Entgegnung ehrlicher gewesen. Der Westen betrachtet das israelische Atomarsenal aus drei Gründen nicht als akut bedrohlich. Weil Israel, erstens, nicht, wie Iran, mit der Auslöschung anderer Staaten droht. Weil Israel, zweitens, keine islamistischen Terrorgruppen in anderen Ländern unterstützt. Und weil, drittens, im Gegensatz zu Iran, keine Zweifel daran bestehen, dass seine Regierungsvertreter für die Mehrheit des Volkes sprechen.

Der Westen, ja, verhält sich doppelmoralisch. Aber der gestrige Abend lieferte einen weiteren Beweis dafür, dass er es zu Recht tut.

Foto: Harald Dettenborn / MSC