In der Bundeswehr tobt ein Kampf der Generationen. So geht es nicht weiter mit den deutschen Streitkräften, räumt das Verteidigungsministerium ein
Ein Report
Im Besucherfoyer des Verteidigungsministeriums in Berlin steht ein goldenes Rehlein. Es ist ein Bambi, verliehen an die Bundeswehr in der Preiskategorie „Engagement“. Vor seiner Vitrine hält der Offizier aus der Abteilung Öffentlichkeitsarbeit gerne an, wenn er Touristengruppen durch den Bendlerblock führt. „Wir wurden damit ausgezeichnet für den Einsatz nach dem Tsunami 2005 in Indonesien“, erklärt der freundliche Uniformierte. Wenn dann die Leute ihre Köpfe näher ranrücken an das funkelnde Tierchen, fügt er hinzu: „Es ist nur etwas scheu, deswegen steht’s hinter Glas.“
Gleich neben dem Bambi führen zwei Flügeltüren in den Pressebriefing-Raum des Hauses. Hierher kann der Verteidigungsminister jederzeit die Hauptstadtjournalisten zusammentrommeln. „Meist“, sagt der Besucheroffizier mit plötzlich betretenem Gesicht, „passiert das eher aus traurigem Anlass.“ Wenn deutsche Soldaten sterben und sterben lassen, eben. Kundus war so ein Fall. Da wollte das Bambi vorm Eingang so gar nicht mehr bambihaft gucken.
Die Bundeswehr im Jahr 20 nach der Wiedervereinigung. Ideell hängen die deutschen Streitkräfte noch am Wunschbild einer Armee, die nur aus den Kasernen ausrückt, wenn das Gute lockt. Reell steht sie im Krieg.
Seit 1990 ist der Personalbestand der bundesdeutschen Streitkräfte trotz der Verschmelzung mit der Nationalen Volksarmee der Ex-DDR von 500 000 auf 240 000 abgeschmolzen, und mit der Schlankheitskur sind sie beweglicher geworden. Es ist eine Wandlung, welche die Armeen benachbarter Nachbarstaaten, vor allem in Osteuropa, ebenfalls durchmachen.
Doch die Bundeswehr unterscheidet sich in einem wesentlichen Punkt von allen anderen vergleichbaren Armeen, die dem Gefrierzustand des Kalten Krieges entwachsen. Ihre entscheidenden Lernerfahrungen sammelt sie nicht aufgrund politischer Entscheidungen, sondern trotz ihnen. In ihrer Fortentwicklung ist sie heute unten weiter als oben, sowohl psychologisch wie philosophisch. 15 Jahre Auslandseinsätze haben eine Generation von Offizieren hervorgebracht, deren Erfahrungswelt bisher kaum Entsprechung auf der Berliner Ministeretage fand.
Es sind diejenigen Männer und Frauen aus dem 37 000köpfigen Offizierskorps, die oft das Wort „Idealismus“ benutzen, wenn sie begründen, warum sie zu Berufssoldaten geworden sind. Ihre Wut wächst. Auf der anderen Seite steht eine Generation von Wehrbeamten, die sich an die eine Vergangenheit klammern, in der die Bundeswehr ein Leben in heimischer Gartenzaunidylle verhieß. In weiten Teilen der Truppe herrscht eine Stimmung wie im Dampfkochtopf.
„Was wir in den vergangenen Jahren im Ministerium erlebt haben, war fortgesetzte Wirklichkeitsverweigerung“, sagt ein erfahrener Bundeswehrmann in einer ruhigen Minute in Kabul.
„Alles, was der Minister von sich gegeben hat, war doch ausgerichtet auf die deutsche öffentliche Meinung“, sagt einer im Nato-Hauptquartier in Brüssel.
„Es war“, sagt ein ranghoher Militär in Berlin, „im Kabinett nicht opportun, die Dinge auszusprechen. Wir haben uns jahrelang etwas vorgemacht.“
„Ausschließlich terroristische Taliban“ sagte Franz-Josef Jung, seien bei dem Luftangriff auf zwei Tanklaster in Afghanistan am 4. September 2009 ums Leben gekommen.
Der Bombardierungsbefehl des Oberst Klein war nicht nur die tödlichste Order, den je ein Soldat in der Geschichte der Bundeswehr gegeben hat. Er könnte sich auch als Wendepunkt bundesdeutscher Verteidigungspolitik erweisen. Was bei Kundus geschah, darin stimmen viele Offiziere überein, kam dem der Höhepunkt einer klassischen Trägödie gleich. Je krampfhafter das Verteidigungsministerium in den Jahren zuvor an dem Versuch festhielt, die Bundeswehr aus der Brutalität des Krieges herauszuhalten, desto unentrinnlicher versank sie darin.
Wird Kundus tatsächlich zu einen Wendepunkt in der deutschen Verteidigungspolitik? Führt die Katastrophe dazu, dass die Ministeretage im Bendlerblock sich ehrlich macht über die Kosten und Folgen, die Auslandseinsätze gegen Islamisten mit sich bringen?
Die Bilanz der bisherigen Verdrängungsleistung jedenfalls ist eindrucksvoll.
● 2006 kamen mehrere Bundeswehrsoldaten in Afghanistan durch Anschläge ums Leben. Verteidigungsminister Jung befahl daraufhin, dass die Truppe sich nur noch in geschützten Fahrzeugen durchs Land bewegen dürfe. „Das war die sicherste Methode, uns von der Bevölkerung zu entfremden“, sagt ein Praktiker des Einsatzes. „Genau das Gegenteil wäre nötig gewesen, um die Taliban zu bekämpfen. Wir hätten ran gehen müssen an die Leute.“
● 2007 legte eine Gruppe Generale um den der ehemaligen Oberbefehlshaber der Afghanistan-Schutztruppe Isaf, Norbert van Heyst, im Bendlerblock einen Bilanz über die Auslandseinsätze vor. Die Bundeswehr, so ihr Fazit, leide unter einem Mangel an kohärenter Führung, fehlender strategischer Planung, bizarrer Bürokratie und politisch motivierter Kontrollwut des Berliner Ministeriums. Um die Einsätze effizient führen zu können, sei »eine in der Hierarchie des BMVg höher angesiedelte Operationsabteilung« zu bilden. Statt die Vorschläge diskutieren zu lassen, wurde der Bericht als geheim eingestuft und weggeschlossen.
● 2008 forderten Kommandeure in Afghanistan „andere Wirkmittel“ an, unter anderem Bodenstreitkräfte, Kampfhubschrauber vom Typ Tiger und die Panzerhaubitze 2000. Diese moderne Kanone könnte Raketenbeschuss aus den Bergen in die Feldlager mit zielgenauem Feuer erwidern. „Dieses Gerät hätte schon vor dem ersten Schuss abschreckende Wirkung auf die Taliban gehabt“, sagt ein Mitte dreißig jähriger Hauptmann, der in Kundus eingesetzt war. Andere Nationen, unter anderen die Franzosen, nutzen die deutsche Entwicklung. Allein, den Deutschen wurde die Haubitze nicht geliefert. Der Grund dafür sei gewesen, sagt einer, dessen Hauptjob im Vorbringen entsprechender Anliegen bestand, „dass man keine falschen Signal nach Deutschland hinein senden wollte.“
● 2009 hielt Schwarz-Gelb im Koalitionsvertrag gegen jede militärische Vernunft an der Wehrpflicht fest. In der Praxis ist der (von 2011 an auf sechs Monate reduzierte) Zwangsdienst längst mehr zur Last als zum Gewinn geworden. Die Ausbildung der Wehrpflichtigen bindet wertvolle Ressourcen – und erzeugt 50 000 Rekruten, die im Ausland nicht zu gebrauchen sind. „Eine Armee von 160 000 bis 180 000 Berufs- und Zeitsoldaten würde weniger kosten als die gegenwärtige, zugleich aber einsatzfähiger sein“, rechnete die regierungsnahe Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) im Januar 2010 vor.
Die Gefahren und Lasten, die mit dieser Beharrungspolitik verbunden sind, tragen die Soldaten jeden Tag in den Einsätzen. Warum eigentlich regt sich in der Truppe keine Rebellion? „Wir sind ein Offiziercorps von Mitläufern“, sagt ein Oberstleutnant, der seit langem frustriert ist vom trägen, bürokratischen Apparat der Streitkräfte. Defizite würden nicht nach oben geleitet, weil jeder Angst habe, für die Mängel selbst verantwortlicht gemacht zu werden. Auf den Gängen von Kasernen und im Ministerium würden kritische Gespräche abgebrochen, sobald ein Vorgesetzter den Weg kreuze, bestätigen selbst ranghohe Führungskräfte.
„Das schweigsame Folgen aus den 30er und 40er Jahren macht sich heute wieder breit“, urteilt ein Offizier harsch. Gerade wegen der Transformation habe sich in der Truppe eine verhängnisvolle „Gefallsucht“ breitgemacht – denn Einheiten, die Probleme zugeben, müssten Angst haben, die nächsten zu sein, die aufgelöst würden. Es herrsche eine Stimmung, sagt der Karriere-Offizier, wie im Baumarkt: „Geht nicht gibt’s nicht.“
In Afghanistan etwa müssten die Soldaten heikelste Gefechtssituation ohne die erforderliche Ausrüstung bestehen, schildert ein Aussteiger. Marc Lindemann, 33, ein ehemaliger Nachrichtenoffizier, diente bis Ende 2009 im PRT Kundus. Eine Methode, die dort seit 2008 angewandt wird, um Taliban-Guerillas aufzuspüren, sei es, solange Patrouille durchs feindliche Gebiet zu fahren, bis der Gegner angreife. Allerdings, schreibt Lindemann in seinem gerade erschienen Buch „Unter Beschuss“ (Econ 2010), verfügten die Fahrzeuge des PRT Kundus „bis heute weder über eine Reaktivpanzerung, die einem gute Chancen einräumt, den Treffer zu überstehen, noch über eine 30-Millimeter-Bordmaschinenkanone oder gar eine 120-Millimeter-Waffe, die wiederum die Überlebenschancen des Angreifers auf ein Minimum reduzieren. Unsere Soldaten müssen diesen gefährlichen Auftrag mit ungeeigneten Dingos, Mungos und Füchsen durchführen.“ In der Folge seien in den Monaten vor dem Luftangriff auf die Tanklaster vier Bundeswehrsoldaten bei solchen Patrouillenfahrten ums Leben gekommen.
Auch rechtlich sieht sich die Bundeswehr ungenügend gepanzert für die raue Realität der Einsätze. Laut der Einsatzregeln, die jeder Soldat auf einer Taschenkarte mit sich führt, darf erst geschossen werden, nachdem andere das Feuer eröffnet haben. Zwar wurde die Taschenkarte im Sommer 2009 überarbeitet – aber mehr als redaktionelle Veränderungen sind dabei nicht herausgekommen. Die Befugnisse der Bundeswehr bleiben noch immer hinter denen des Kapitels VII der UN-Charta („Robustes Mandat“) zurück, auf dessen Grundlage der Isaf-Einsatz legitimiert ist.
Marc Lindemanns (dem „Unter Beschuss“-Autor) besonderer Zorn gilt dem ehemaligen Generalinspekteur der Bundeswehr, Wolfgang Schneiderhan. Der Vier-Sterne-General sei es gewesen, „der die immer häufiger aufkeimenden Forderungen nach stärkeren Waffensystemen und Truppenaufstockungen abwiegelte und auf den ,zivilen Charakter’ des Auftrags verwies.“
In der Tat, bestätigt ein ranghoher Mitarbeiter des Verteidigungsministeriums auf diese Vorhaltung, sei ein „militärischer Ratschlag, schweres Gerät wie die Panzerhaubitze einzusetzen, bisher nicht erfolgt.“
Nach Kundus macht sich nun Ernüchterung breit im Bendlerbock. Die Fliegerbomben trafen auch den Faradayschen Käfig, der zum Schutz vor geladenen Nachrichten um das Ministerbüro herum errichtet worden war. „Es war“, sagt etwa rückblickend ein ranghoher Ministeriumsvertreter, „von Anfang an ein Webfehler, die Zahl der eingesetzten Soldaten in den einzelnen Regionen entlang parteipolitischer Schmerzgrenzen festgelegt zu haben statt entlang militärischer Erfordernisse.“
Trotz all dieser Unzulänglichkeiten sahen es bisher offenbar viele Verantwortliche als ihre Aufgabe an, nach oben heile Welt vorzuspielen. Im Verteidigungsministerium hätten unter Franz-Josef Jung Referenten häufig nur solche Berichte geschrieben, von denen sie wussten, dass sie der Spitze des Hauses gefallen würden. Kritische Stimmen, wie etwa die des deutschen Generals Egon Ramms, dem Leiter des Operations-Hauptquartiers der Nato in Brunssum (mit ihm folgt ein Interview an dieser Stelle), wurden nach Darstellung von Insidern systematisch abgeblockt. „Jung hat sich nie wohl gefühlt in seinem Amt“, sagt ein General, der Zugang hatte, „er war überfordert und verkrampft und hat schwierige Fragen von sich weg gehalten, weil sie die psychologischen Schwierigkeiten nur vergrößert hätten.“
„Ich habe den Eindruck, viele Führungskräfte wollen überhaupt nicht sehen, was in der Armee los ist“, sagt ein junger Offizier im Generalstab, der daran denkt, seine Bundeswehr-Karriere an den Nagel zu hängen. „Ihnen geht es nur darum, nach oben gut auszusehen, um bloß nicht Opfer der nächsten Sparrunde zu werden.“
Die Hoffnung auf eine Wende verkörpert für viele Bundeswehrangehörige Karl-Theodor zu Guttenberg. Mit ihm könnte ein Minister an der Stauffenberg-Straße eingezogen sein, der seine erste Aufgabe nicht in der Selbstverteidigung sieht. Biographisch und intellektuell gehört der 38jährige zur Generation der neuen Realisten. Nichts anderes als die Wahrheit über den Krieg zu sagen, das hat er sich denn auch gleich nach seinem Amtsantritt vorgenommen.
Guttenbergs Staatssekretär Christian Schmidt räumt gegenüber der ZEIT ein, der „Generationen- und Mentalitätsbruch“ sei noch nicht genug verarbeitet. „Vielleicht“, sagt er, „haben wir uns dem notwendigen Dialog nicht stark genug gestellt.“ Es müsse darauf geachtet werden, „dass sich die Mentalitäten nicht zu stark auseinander entwickeln zwischen den jüngeren Offizieren, die im Einsatz sozialisiert wurden und den Dienstposteninhabern zuhause.“
Bleibt die Frage: Wie viel Wahrheit kann der neue Minister der deutschen Öffentlichkeit zumuten? Wollen die Deutschen eine Armee von Kämpfern? Wollen sie ein Verteidigungsministerium, das nicht mehr für jede Truppenverstärkung den Bundestag anrufen muss? Wollen sie einen Generalstab? Einer aus der neuen Realisten-Riege im Bendlerbock glaubt ja: „Ich habe den Eindruck, die Bevölkerung ist schon weiter als wir im politischen Berlin.“
Fotos: Szenen aus Kundus und Feysabad, (c) BMVg