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Macht sie doch zu Märtyrern!

 

Zum Auftakt von „Freitext“ haben wir einige unserer Autoren gefragt, worüber sie sich wirklich aufregen, was sie empört. Thomas Glavinic antwortet als Erster.

Ich empöre mich über gar nichts. Ich habe es fast verlernt, mich zu empören. Hin und wieder ärgere ich mich über ein Unrecht, das mir oder jemand anderem zugefügt wird, aber ich empöre mich nicht. Empörung würde bedeuten, dass ich aktiv werden könnte oder müsste. Aktiv bedeutet, ich wäre nicht nur bereit, etwas zu ändern, sondern ich wäre bereits aktiv. Aufstehen ist bereits Aktivität. Aber ich bevorzuge es, auf Facebook Kommentare zum Weltgeschehen abzugeben, das geht per Knopfdruck. Ich like. Ich sitze hier und bestätige, das genügt mir. Das mache ich ein paar Stunden lang. Früher hätte ich in dieser Zeit ein Buch gelesen.

Nein, das stimmt nicht ganz. Kopfabschneider empören mich. Ich bin zwar gegen die Todesstrafe, aber bei den Leuten von diesem „Islamischen Staat“ handelt es sich um Kombattanten in einer militärischen Auseinandersetzung und allen Kriegsregeln (allerdings ein perverser Begriff, so wie „Landkriegsordnung“) zufolge darf man diese töten. In diesem Fall finde ich Töten sehr begrüßenswert. Ich finde, Menschen, die Frauen bis zum Hals eingraben und dann steinigen oder Entwicklungshelfer und Bergführer enthaupten, sollten in ihrem Bestreben, Märtyrer zu werden, mit aller Kraft unterstützt werden. Aber all das passiert weit weg.

Demonstration in Frankfurt gegen den IS (© Reuters/Ralph Orlowski)
Demonstration in Frankfurt gegen den IS (© Reuters/Ralph Orlowski)

Gibt es etwas, das mich aufstehen und aktiv werden ließe? Allerdings. Wenn ich meine Freiheit bedroht sähe. Wenn ich merken würde, dass die Wertordnung unserer Gesellschaft, die unser Zusammenleben ermöglicht, von Menschen angegriffen wird, die radikal andere Werte haben und andere Ziele verfolgen und für diese auf die Straße gehen, um mich einzuschüchtern. Dann würde ich aufstehen und beim Aufstehen würde es diesmal nicht bleiben, denn wenn ich schon mal stehe, muss ich mich auch nicht gleich wieder hinsetzen.

Als ich vor einigen Wochen einen Artikel über die selbsternannte Scharia-Polizei in Wuppertal las, dachte ich, das wäre es wohl. Hier hätte ich meine höchstpersönliche, unmittelbare Empörung, lebte ich in diesem Ort.

Die echte Polizei hat keine Handhabe, denn: „Das bloße Empfehlen religiöser Regeln ist nicht strafbar.“ So stand es in dem Artikel.

Ich weiß nicht, wie lange ich meinem Rechtsstaat bei seiner Übertoleranz gegenüber der Intoleranz zusehen kann, ohne mich zu empören. Ebenso wenig, wie ich uns allen noch lange dabei zusehen kann, wie wir alles auf den Staat abwälzen, wie wir davon ausgehen, dass andere die Probleme für uns lösen werden, ebenjener „Staat“, über den wir so gern schimpfen, wenn wir Steuern oder Radarstrafen bezahlen müssen. Dieser Staat soll diese Angelegenheiten lösen. Dass dieser Staat ein Koloss ist, langsam und behäbig, der sich genauso ungern bewegt wie wir und noch schwerfälliger ist als wir, übersehen wir. Dass wir manchmal unsere Probleme selbst lösen müssen, wollen wir nicht wahrhaben. So wie die Thailand-Urlauber beim Tsunami 2004, die sich darüber beschwerten, nicht sofort Hilfe von der Botschaft oder vom Konsulat erhalten zu haben. Wir fliegen um die Welt und erwarten mit größter Selbstverständlichkeit, dass der 8.000 Kilometer entfernte Staat sofort parat steht, um uns in einer Notlage zu helfen. Aber manchmal kann er uns offenbar nicht helfen, weder in Thailand noch in Wuppertal.

Zum Glück lebe ich nicht in Wuppertal. Oder leider. Manchmal macht ein bisschen Empörung munter.