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Wir leben von der Verdrängung

 

Über die historische Bedeutung des Mauerfalls herrscht Einigkeit – womöglich zu viel. Ob wir wollen oder nicht: Wir müssen weiterreden. Über falsche Selbstverständlichkeiten zum Beispiel, die sich nach 1989 eingeschlichen haben.

Wo ich denn am 9. November 1989 gewesen sei, ist die mir am häufigsten gestellte Frage. In aller Regel strahlen die Fragenden mich dabei fröhlich an, als erwiesen sie damit auch mir einen Gefallen. Denn bei diesem Datum lässt sich Persönliches wie Historisches auf glückliche Art und Weise verbinden und zur Sprache zu bringen. Wenn ich dann bekenne, an jenem Herbstabend früh ins Bett gegangen zu sein und deshalb nur sagen kann: „Als ich aufwachte, war die Mauer weg“, ist man doch etwas enttäuscht.

Auf Nachfragen sage ich gern, dass der eigentliche Mauerfall bereits die Grenzöffnung der Ungarn am 10. September gewesen sei. Und selbstverständlich hat mich der Fall der Berliner Mauer überrascht, ja, und natürlich habe ich mich gefreut, was denn sonst? Als ich kurz darauf vor dem „Volkspolizeikreisamt“ die Menschenschlange sah, die nach dem Stempel anstand, der zum legalen Besuch im Westen berechtigte, machte ich mir Sorgen: Wenn jetzt alle in den Westen fahren, wer kommt dann noch zu unseren Demos?

Warum aber bin ich mittlerweile so unwillig geworden, über den 9. November zu sprechen? Weil ich absolut nichts zu erzählen habe? Weil ich erst Ende November 1989 zum ersten Mal in den Westen fuhr? Weil es Wichtigeres gab?

November 1989 in Berlin. (Gerard Malie/AFP/Getty Images)
November 1989 in Berlin (Gerard Malie/AFP/Getty Images)

Der Mauerfall ist unbestritten eine historische Zäsur! In der offiziellen Erinnerung überdeckt und dominiert er den Herbst 1989 und darüber hinaus sogar jene anderen, die 9. November von 1938 und 1918. Der Mauerfall erscheint so eindeutig. Menschen strömen von Ost nach West, aus der Diktatur in die Freiheit. Und man weiß ja, worauf die Veränderungen hinausliefen. Das schließt auch ein: So hatte es kommen müssen. Und: So war es gewollt.

Für mich war der Mauerfall eine Sensation unter anderen. Und er hatte nichts, absolut nichts mit nationalen Erwägungen zu tun. Ein Zusammengehen, gar eine Vereinigung von DDR und BRD? Wie sollte denn das gehen? Lachhaft!

Wie viel lieber würde ich nach dem 9. Oktober gefragt. Und das nicht nur, weil ich da etwas zu erzählen hätte. Aber schon das muss man erklären: Der 9. Oktober war jener Tag, an dem sich womöglich alles entschied, jener erste Montag nach dem 40. Jahrestag der DDR am 7. Oktober, als die Staatsgäste abgereist waren und die Drohung einer „chinesischen Lösung“ über Leipzig lag. Trotz aller Einschüchterungsversuche kamen 70.000 Demonstranten in der Innenstadt zusammen. Zum ersten Mal gab es keine Uniformierten, die den Weg versperrten und die Demonstranten auseinandertrieben. Und zum ersten Mal wurde der Innenstadtring umrundet. Erst vom 9. Oktober an wurde der Ruf „Keine Gewalt!“ von beiden Seiten praktiziert. Selbst wenn einem das Goethesche „Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus, und ihr könnt sagen, ihr seid dabei gewesen“, nicht auf der Zunge lag, etwas in dieser Art meinte man dennoch zu spüren. Denn ganz gleich, was käme, wir konnten es mit dem 17. Juni 1953 aufnehmen.

Das Land in die eigenen Hände nehmen

Bereits am Montag, dem 2. Oktober, als die wenigen Spruchbänder noch klein waren, damit sie eingerollt unter der Jacke getragen werden konnten, um später über den Köpfen von Hand zu Hand zu wandern, gab es die Parole: „Visafrei bis Shanghai!“ Es ging von Anfang an um die ganze Welt! Und es ging um die Zulassung des Neuen Forums und neuer Parteien, um Zugang zu den Medien, um freie Wahlen und vor allem darum, die eigene Welt zu demokratisieren. Der Ruf: „Wir sind das Volk!“ war die entscheidende Parole. Es ging tatsächlich darum, das Land in die eigenen Hände zu nehmen. In Betrieben, Schulen, Universitäten, an Theatern und Instituten wurde begonnen, jene in Führungspositionen zu wählen, die das Vertrauen der Mehrheit genossen. Das war die eigentliche Revolution. Wer sollte uns jetzt noch aufhalten? Mit jedem neuen Tag schien die Verwirklichung eines „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ immer unausweichlicher.

Von den Leipziger Demonstrationen, diesem Akt der Souveränität, gibt es kaum Bilder, und die wenigen sind dunkel, verwackelt und unspektakulär. So unspektakulär wie die Bilder vom polnischen Runden Tisch oder den ungarischen Reformen. Die Bilder von Botschaftsflüchtlingen oder auf der Mauer tanzenden Menschen sind dagegen jedem präsent.

Fährt man heute am Deutschen Historischen Museum in Berlin vorbei, so sieht man dort die Kopie eines sehr späten Plakates, das die Umrisse von BRD und DDR zeigt, samt dem Slogan: „Wir sind ein Volk“.

Ich weiß nicht mehr, wann genau dieser Spruch von einem CDU(West)-Aufkleber den Weg in die Demonstrationen fand, aber das war erst Wochen nach dem Mauerfall. „Ein Volk“ war dazu angetan, die Souveränitätserklärung und damit die Revolution zurückzunehmen. „Wir sind das Volk“ versus „Wir sind ein Volk“. Nicht das eine löste das andere ab, sondern das eine kämpfte gegen das andere als Sprechchor auf der Straße. Das Museum zeigt die siegreiche Parole.

Westen war richtig, Osten war falsch

In der Woche vor den Wahlen am 18. März 1990 tourte Helmut Kohl unermüdlich durch Ostdeutschland. Sein Coup bestand darin, die völlig diskreditierte Ost-CDU an sein Herz zu drücken: Wählt ihr die, wählt ihr mich. Die Sirupspur in den Westen war da. Sein Erfolg war gigantisch, unsere Niederlage absolut. 2,9 Prozent stimmten für das Neue Forum, 48 Prozent für das von Kohl gezimmerte Wahlbündnis, davon allein 40,6 Prozent für die „Blockflöten“, wie man die sogenannten Blockparteien der DDR nannte, von der CDU. Nun war klar, wohin die Reise gehen würde. Die Mehrheit hatte entschieden. War es nicht das, was ich immer gewollt hatte?

Zusammen mit Freunden hatte ich im Februar 1990 eine wöchentlich erscheinende Zeitung gegründet, um die Demokratisierung des Landes (jeder an seinem Platz) zu begleiten. Wir schrieben und trommelten noch, dass, wenn es schon keine Selbständigkeit geben würde, es zumindest zu einer Vereinigung beider Staaten kommen würde, nicht nur zu einem Beitritt. Das wäre auch eine Chance für den Westen gewesen, das eigene System zu reformieren. Aber auch das war chancenlos. Was der Westen gemacht hatte, war richtig, was der Osten gemacht hatte, war falsch. Fortan würde nur noch gemacht, was richtig war. Wir konnten froh sein, die Klippe der Währungsunion zu überspringen und nicht, wie alle Großbetriebe der Stadt Altenburg, innerhalb weniger Wochen Konkurs anmelden zu müssen. Ein Jahr nach dem grandiosen Herbst kämpfte unsere Zeitung ums Überleben. Statt für die Demokratie zu streiten oder für „das Recht auf Arbeit“, das mit dem Beitritt erloschen war, trieb ich mich bald nur noch in neugegründeten Möbelhäusern und bei Autovertragshändlern herum. Ich musste ja versuchen, die sogenannten Mitbewerber auszustechen, die anderen Zeitungen und Werbeblättchen, die ebenfalls um Anzeigen buhlten und sogar unsere Sekretärin angestellt hatten und unsere Kundendatei besaßen, die wir vermissten. Ganz gleich, ob man die anderen nun Mitbewerber oder Konkurrenten nannte, ich hasste sie alle, weil sie uns an die berufliche Existenz, an unsere Existenz schlechthin wollten – wie wir an ihre. Ich hatte im Herbst 1989 erlebt, wie Anspruch und Praxis zusammengefunden hatten. Es ging, wie gesagt, um das menschliche Antlitz der Gesellschaft, also um die Würde von uns allen, um eine bessere Welt. Wie aber sah mein Antlitz jetzt aus? Wutverzerrt? Panisch? Ratlos? Gehetzt? Stand nicht das, was ich da Tag für Tag trieb, allem entgegen, was ich gut und richtig fand? Hatte ich mich je vor einem Funktionär so gewunden wie vor dem Besitzer des größten Möbelhauses in der Region?

Unsere neuen Selbstverständlichkeiten

Darüber zu sprechen und zu schreiben halte ich vor allem deshalb für notwendig, weil in der Folge von 1989 weltweit neue Selbstverständlichkeiten entstanden sind, die unsere Gegenwart prägen. Und weil es Selbstverständlichkeiten sind, sprechen wir nicht mehr darüber, ja wir nehmen sie als gegeben hin, als sei es nie anders gewesen. Selbstverständlich ist, dass es Wachstum geben muss (neuerdings wird sogar der geschätzte Umsatz beim Zigaretten- und Drogenschmuggel als Schätzwert in das BIP einbezogen), selbstverständlich ist, dass der privatwirtschaftliche Gewinn die ultima ratio ist. Es geht nicht darum, was gebraucht wird, was ein ökologisches, ökonomisches, soziales und ethisches Überleben ermöglicht. Wenn 60 Prozent der Umweltzerstörung, die die Schweizer anrichten, im Ausland stattfindet (bei den Deutschen wird es nicht anders sein), dann zeigt das, dass wir von der Verdrängung im wortwörtlichen Sinne leben. Es ist kaum möglich, eine Woche lang einkaufen zu gehen, ohne irgendeine Schweinerei zu begehen, die, würden wir unmittelbar damit konfrontiert, unsere Abscheu hervorrufen würde. Völlig bodenlos, also absurd, sind die nur noch virtuell vorhandenen Zahlen und Beträge der Finanzindustrie. Und obwohl diese längst jede Deckung in der Realität verloren haben, entscheidet deren Imperativ der weiteren exponentiellen Vermehrung über Wohl und Wehe der Menschheit.

Lange war ich mir sicher gewesen, im Goetheschen Brustton von 1989 und den Folgen sprechen zu können. Sehr viel näher ist mir heute aber die Unsicherheit und Irritation des jungen Fabrizio del Dongo, des Protagonisten von Stendhals Die Kartause von Parma, der, während er über das Schlachtfeld von Waterloo irrt, fragt: „… ist das auch eine richtige Schlacht?“ Denn was die Veränderungen von damals tatsächlich bewirkten, beginne ich erst allmählich zu begreifen.