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Meine Ohrwürmer (2): Das Wandern ist des Müllers Lust

 

Unser Autor Florian Werner wird andauernd von Ohrwürmern heimgesucht. Sein neuer will ihn ideologisch beeinflussen: Migranten verließen ihre Heimat aus Lust, nicht aus Not. Wer’s glaubt.

Beschreibung: Nicht etwa das bekannte Volkslied gleichen Namens, sondern die Vertonung in B-Dur aus dem Zyklus Die schöne Müllerin von Franz Schubert; der Text stammt passenderweise von Wilhelm Müller. Allerdings kennt mein Ohrwurm nur die erste Strophe, die nicht minder schönen Strophen über „das Wasser“, „die Räder“ und „die Steine“ lässt er einfach weg. Stimmlich ahmt mein Ohrwurm täuschend echt den jungen Dietrich Fischer-Dieskau nach; wie dieser hält er sich brav an die Tempobezeichnung: „mäßig geschwind“.

Vorkommen: Mäßig häufig. Auslöser sind in der Regel − wenig überraschend − Wanderungen.

Caspar David Friedrichs "Wanderer über dem Nebelmeer" @ Wikimedia Commons
Caspar David Friedrichs „Wanderer über dem Nebelmeer“ @ Wikimedia Commons

Bedeutung: Eigentlich ein angenehmer Ohrwurm, vor allem beim Bergwandern. Die zackig zunächst auf die Quart, dann auf die kleine Septime und schließlich auf die Oktav kletternde Melodielinie ahmt eine schrofige Gebirgslandschaft nach, der beschwingte Viervierteltakt beschleunigt das Gehen: Solange die Steigung nicht zu groß und die Atemfrequenz nicht zu hoch ist, möchte man mitsingen.

Problematisch erscheint allerdings der Text: Dass das Wandern eine „Lust“ sei, geht meinem Ohrwurm − wie auch mir als modernem Freizeitwanderer − trügerisch leicht über die Lippen. Aber war die Walz, auf die sich zünftige Handwerker früher begeben mussten, tatsächlich so lustvoll und beschwingt? War es nicht vielmehr entbehrungsreich, strapaziös, kalt und oft deprimierend, drei Jahre und einen Tag lang über die Lande tippeln und um Arbeit, Unterkunft, Nahrung bitten zu müssen? Endet der Liederzyklus, von dem mein Ohrwurm immer nur die ersten paar Verse singt, nicht sogar mit dem Selbstmord des Gesellen?

Vielleicht ist dieser Ohrwurm − der vermutlich nicht nur mich befällt, sondern im deutschen Sprachraum weit verbreitet ist − für ein gängiges Vorurteil verantwortlich: nämlich dass Menschen, die ihre Heimat verlassen, dies nicht etwa aus Not tun, sondern aus Neigung, freien Stücken. Und dass man mit ihnen daher verfahren müsse wie mit dem Wasser, das neben dem Müllergesellen dahinplätschert: In der deutschen Asyldebatte feiert die Metaphorik von Wasser, Zustrom, Überschwemmung, Eindämmung seit Jahrzehnten fröhliche Urständ: Erst Ende September sprach der CSU-Chef Seehofer davon, dass man dem nach Deutschland drängenden Flüchtlingsstrom mit einer „große[n] nationale[n] Kraftanstrengung“ begegnen müsse − wie einem „Hochwasser“.

Wie aber kann man den Indoktrinationsversuchen dieses ideologisch fragwürdigen Schubert-Ohrwurms begegnen? Vielleicht kann man ihn loswerden, indem man sich Wasser ins Ohr gießt. Vielleicht wird ihm dann das Habitat zu nass, und er begibt sich auf Wanderschaft. Mal sehen, wie ihm das gefällt.