Dichter Dunst, der Himmel braun, kein Vogel singt. Im November droht die große Melancholie. Zum Glück hat Feridun Zaimoglu uns auch diese Woche wieder ein Fax geschickt: eine Suada zur Verdrussbekämpfung.
Eine Frau, Melancholia. Sie bewohnt den äußeren Rand des Randstreifens eines Landes, das sie sieht, wenn sie blinzelt. Das nur sie sieht, an Tagen des schnell schwindenden Lichts, Luft, Leere, Libellenflug. Grüner Chemieschaum. Taube Daumenkuppen: ihre Zeichen. Was versteht man, wenn man sie verstanden zu haben glaubt? Nichts und Nichtigkeit. Löste sie doch das Haarband, in der Nacht, kämmte sie sich doch das Haar in langen Strichen. Tauchte sie doch die Bürste in das Wasser in der Kupferschale. In ihren Augen helle Splitter aus zerträumtem Haß. In ihrem Mund schmeckt sie, schmeckt nur sie, zerbissene Zähne.
Morgens am Fenster: dort unten der Gehweg, dort oben nasse Dachpfannen. Ein Trara, ein Bumtschatscha, das man unten Leben nennt. Es entweicht. Es friert fest. Es verpockt an Zweigspitzen zu Salzkrusten. Wenn es doch einen Raben noch gäbe, in ihrem Land der verschwiegenen Morgengrüße, er wäre im Flug ein schwarzer Fächer. Er wetzte den Schnabel, sein Schnabel bisse. Der Mann, der aus dem Wagen steigt: Tinnefhöker, Krempelkasper, er ist so viel wert wie anderthalb Männer, trotzdem. Frau, Melancholia, Grazie, zum vierundzwanzigsten Mann sagt er ihre Namen auf. Seligkeitsvernichterin.
Zauberbespuckende. Hurenspeichel. Keinerliebewert. Götzenweib. Dort unten an der Kreuzung, am Ampelmast, steht der hundsgemeine Kerl. Menschenzeug schimpft er alles Volk, weil ihm die Liebe aufklappte wie eine Börse, und alle Münzen fielen heraus. So spricht man im dicht besiedelten Randstreifen. Es gibt keinen Anfang, kein Ende, es gibt den Fluch, Flüche sind Mundmunition. Dort oben ist dichter Dunst, kein Nebel. Stumpfer Farbe wie verbräunter Pferdehuf ist der Himmel, ohne zu blinzeln schaut sie hinauf. Frau, noch ungekämmt, sichtbar für die blank geschorenen Männer. Sichtbar für die Schulkinder, die kleine tote Tiere im Ranzen tragen.
Geheimnis ist Geistesglut. Fürchte sie nicht. Du, die du am Fensterglas reibst. Verschlucktest du doch nur nicht die Vogellaute, die Phosphorklänge der Erheiterung, das Gekreisch der alten Tanten, die um das letzte Zwiebelbrot streiten. Gepfiffene Lieder der Hurenböcke, dort unten im Randbereich, ihre Schnapsmünder sind schmutzige Löcher. Erhebt sie sich endlich? Wer fragt das, wer hat sie erblickt? Die Blinden versorgen die Sehenden mit dem heißesten Klatsch. Ein Blinder lächelt seine Unschuld weg, stößt an sein sehendes Eheweib, er sagt: Dort oben ist eine Luftbewegung. Ist sie das, die einen Filzmantel trägt, um nicht zu frieren in der Morgenkühle?
Sie aber zerrt ihn in den Eingang eines Hauses, vor Eifersucht rot gescheckt, eine Missgönnende. Frau, Melancholia, sie ruft und die Rufe verschluckt sie. Soll ihnen allen schwindlig werden, sollen sie in die Hölle fallen. Kostüm und Maske, Pastellschminke, Karnevalglitzer, Raupenglanz: ihre Zeichen. Blinde scharen sich um das, was die Kinder aus dem Ranzen packten: Stoffpuppen mit Tiergesicht. Der Postbote in kurzen Hosen treibt sie auseinander, und den Blinden zeigt er die tintenblauen Bilder an seinen Waden. Schöne Hexerei, gestochene Hexerflüche.
Sieh hin, Frau am offenen Fenster, die du deine Fingerspitzen in Essig getaucht hast. Dein letzter Traum wirkt nach und krümmt und beugt die Straße, er verkehrt uns ins Widersinnige, er bräunt uns. Wir beten heute nicht um die Wiederkunft des Herrn. Wir himmeln heute nicht dich an. Der Hurenbock klappt die Börse zu. Die Blinden stecken die Briefe ein. Ein herrlich Ding, dass wir vergesslichkeitskrank sind. Dass wir Melancholia, Frau, vergessen, da sie das Fenster schließt. Spiegelscherbe, an der ich mich nicht schneide, Blut, das nicht quillt.