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Das novembrigste aller Gefühle

 

Besser, wir verzweifeln am Verlust der Welt als an unserem Bruttoeinkommen. Die Melancholie ist eine sanfte Rebellion. Sie bringt unseren Kummer zum Tanzen.

Im November hört die Liebe auf, die Liebe zum Herbst, die Liebe zur Gemütlichkeit, bei manchen sogar die Liebe zu sich selbst und die schlechte Laune kippt sacht in eine Winterdepression. Draußen ist es so dunkel, als sei das Tageslicht nur eine vorübergehende Flause des Sommers gewesen, es ist nasskalt, windig und die Weihnachtsbeleuchtung hängt noch ausgeschaltet an den Balkonen der Nachbarn.

Auf dem Schreibtisch sieht es nicht besser aus, dort liegen die Unterlagen für den Steuerberater. Philanthropie nirgends, stattdessen Steuerklassen und Zettelwirtschaft. Es gibt nichts Novembrigeres, nichts, was den Unterschied zwischen schwarzer und weißer Galle besser fassen könnte, zwischen der alles abschnürenden Tristesse und der die Wahrnehmung schmerzlich und mitunter genialisch verfeinernden Melancholie.

Was jetzt bleibt, ist zu entscheiden, welches von beiden man mit dem anderen überdecken will: Trauern wir lieber um das zu geringe Einkommen, das wir uns am Schreibtisch ins Bewusstsein rechnen oder um das Zuwenig an Leben, das uns die immer früher hereinbrechende Dämmerung vor Augen führt? Möchten wir lieber an einer Reduzierung des Bruttoeinkommens verzweifeln oder am Verlust von Welt? Das eine weiß um Zahlen und Wert, das andere um Symbole und Sinn. Beides schrumpft vor uns weg. Beides vermögen wir nicht zu halten. Auf das eine folgt sackleinener Kummer, auf das andere caspardavidfriedrichblaue Schwermut.

Wenn wir leiden, soll es sich auch lohnen, wissen die Gefühlsaristokraten und die Stimmungssnobisten unter uns, all jene, die sich immer ein bisschen zu gut gefühlt haben für das schnöde Mittelmaß, für die Sorge, den Kummer, für die kleinkrämerischen unter den dunklen Gefühlen. All jene, die sich gleichwohl auch entscheiden können. Melancholie in ihrer schönsten Form ist eine schöpferische, schwelgende Lust am Leiden. Ein Leiden, dem man sich aber immer noch entziehen, zu dem man sich ins Verhältnis setzen kann. Ein Leiden, das man wie eine Aufführung betrachtet, wie ein Buch liest, das einen zwar tatsächlich berührt und bis ins Innerste reicht, gleichwohl lässt sich die Vorstellung verlassen, das Buch zuklappen. Es ist nicht das eigene. Oder genauer: Man ist es nicht selbst. Es ist die Welt. Laut Theoprast sind übrigens die meisten Melancholiker wollüstig. Es hat angeblich mit Luft zu tun, und die wiederum bläst, Prinzip Schlauchboot, das männliche Glied auf. So stellte man es sich zur Zeit der Viersäftelehre vor. Anatomie hin oder her, wer von der Trauer gänzlich zerstört ist, wird zu schwach atmen für derlei. Der Melancholiker scheint eher der Voyeur zu sein, dem das, was dort an dunkler Tiefe im menschlichen Inneren liegt, einen lustvollen Schauer über den Rücken jagt. Er ist Beobachter mit Höhenangst: Derjenige, den es hinabzieht und der doch nicht springt.

Es gibt Menschen, die für die Melancholie ganz und gar unempfindlich sind, deren Gefühlskurven nur eine schwache Wellenbewegung formen und die für die nun so rasch hereinbrechende Dämmerung nur ein Achselzucken übrighaben, und allenfalls die pragmatische Anmerkung, Strom würden die in Brüssel durch die Zeitumstellung auch nicht sparen. Die sitzen über der Steuererklärung, ärgern sich über die Höhe ihrer Abgaben und dass der Staat wieder einmal das Falsche damit anstellen wird, und sehen nicht hinaus, wo die sich entlaubenden Blätter kostenlose Vanitas-Darbietungen geben während es dunkel wird. Irgendwann schalten sie ihre Halogen-Schreibtischlampe ein. Und dann gibt es jene, denen das Geländer abhandengekommen ist und die von ihrem Aussichtspunkt dort am Abgrund, von der Melancholie aus hinabstürzen in eine vollkommene Leere, die weder traurig noch fröhlich ist, sondern einfach: Nichts.

Wahnsinn ist Kummer, der sich nicht mehr weiterentwickelt, schreibt E. M. Cioran. Melancholie, könnte man hinzufügen, ist Kummer, der seine Schönheit entfaltet. Der Sinn für Melancholie befähigt uns zu etwas, das vielen Menschen verschlossen bleibt: Der Trauer, dem Leiden, dem Verfall einen Genuss abzugewinnen, jenem doch großen Teil des Lebens, den die Einen leugnen, vor dem die Anderen davonlaufen, dem die Dritten vollkommen ausgeliefert sind, all jene, deren Kummer sich nicht weiterentwickelt, der nicht mehr atmet und alsbald versteinert, während die Melancholiker gelernt haben, mit ihm zu tanzen.

Was für eine sanfte Rebellion in einer Welt, in der uns das Streben nach Glück geradezu abgenötigt wird.