In kaum einem Sport kann man so verloren gehen wie im Schach. Es ist wunderschön und wild. Und man fängt an, zwischen den Figuren zu leben, zu denken.
Schach lernt man als Kind vom Vater oder vom Großvater, und man ist ein Junge. Nicht viele Frauen spielen Schach. Die besten Frauen der Welt sind Judith Polgar und Hou Yifan. In der Weltrangliste stehen sie auf Platz 68 und 69. Dass Frauen weder in der Spitze noch in der Breite die Stärke von Männern erreichen, liegt nicht daran, dass sie weniger talentiert wären, sondern daran, dass sie in der Regel zu intelligent sind, um ihr Leben auf ein Spiel zu setzen. Denn das muss man, um ganz nach oben zu kommen. Es gibt nichts als Schach. Jeden Tag. Schach. Sieben Stunden. Acht Stunden. Mit Computer, ohne Computer, allein oder mit dem Trainer. Frauen haben in der Regel Besseres zu tun und mehr zu tun, sie interessieren sich für Unterschiedliches und verbeißen sich nicht in eine einzige Sache.
Ich war fünf oder sechs, als ich Schach lernte. Mein Großvater brachte es mir bei. Ab zwölf nahm ich das Spiel ernst. Gegen meinen Vater und meinen Großvater verlor ich zwar noch, aber es wurde langsam eng. Ich meldete mich für die Stadtmeisterschaft an. Ich wurde Mitglied in einem Schachclub. Ich spielte und spielte, lernte Eröffnungstheorie und Strategie und dann war es soweit: Ich war stärker als mein Vater, mein Großvater und mein Urgroßvater. Ich besiegte sie in acht von zehn Partien. Da war ich 13. Sie waren ebenfalls Clubspieler, das bedeutete also etwas.
Vor allem jedoch bedeutete es für mich etwas. Ein Sieg gegen Vater und Großvater in einer für uns alle so wichtigen Sache war ein Meilenstein für mich, eines der wichtigsten Ereignisse meiner Jugend: Ich war stärker als die, die sonst stärker waren als ich. Es war ein Triumph. Es gab etwas, in dem ich besser war als alle, die mir nahestanden.
Und ich hatte Idole. Die Schachgeschichte ist reich an illustren Persönlichkeiten. Emanuel Lasker, Weltmeister von 1894 bis 1921. Wilhelm Steinitz, sein Vorgänger, gegen Ende seines Lebens lief er barfuß im Garten umher, um sich elektrisch aufzuladen und so mit allen Menschen auf der Welt telefonieren zu können. Kurz darauf forderte er Gott zu einer Partie heraus, bei der er Ihm Bauer und Zug vorgeben wollte, er hielt sich für den klar Besseren der beiden. Paul Morphy, um 1860 unbestritten der beste Spieler der Welt, ein einzigartiges Genie, seiner Zeit weit voraus, begann das Spiel zu hassen, wurde verrückt, starb mit 47. Alexander Aljechin, ein Schwerstalkoholiker, der dem Vernehmen nach einmal nicht zu einer Weltmeisterschaftspartie erschien, weil er außerhalb der Stadt betrunken in einem Feld lag, und der einmal die Bühne eines Turniers mit einer Bedürfnisanstalt verwechselte, der angeblich an einem Stück rohen Fleischs erstickte und ein wüster Antisemit war, am Brett jedoch ein aggressiver Gigant. Bobby Fischer natürlich, leider auch kein einfacher Geselle, leider auch Antisemit, das sogar als Sohn einer jüdischen Mutter, Weltmeister von 1972 bis 1975. Und noch viele, viele andere, mit denen ich mich beschäftigte, ja die mir näher waren als die meisten Menschen in meiner Umgebung. Schach war Flucht, Schach war mein eigenes Reich.
Es folgten Landesmeisterschaften, Staatsmeisterschaften, internationale Turniere. Mit 16 wollte ich nicht mehr. Denn ich musste nicht mehr. Ich hatte etwas hinter mir gelassen, für das das Schach als Abwehr essenziell gewesen war. Ich wollte Spaß haben, ausgehen, Mädchen kennenlernen. Vorbei war es mit dem Vereinsspiel.
Ich bin trotzdem immer noch ein Schachspieler. Ich werde nie aufhören, einer zu sein. Schach gehört zu mir wie Lesen. Ich nehme mir nach wie vor für jede Schachzeitung, die mir unterkommt, mehrere Stunden Zeit, ich besuche täglich die wichtigsten Websites, ich bin über jedes größere Turnier informiert, das irgendwo auf der Welt stattfindet, ich spiele Partien nach, nebenbei, während ich warte, dass das Wasser für die Nudeln kocht oder meine Lieblingsserie beginnt. Auf meinem iPhone habe ich vier verschiedene Schach-Apps zur Auswahl, falls mich an der Bushaltestelle einen Anfall von Selbstzweifeln oder Depression überkommt. Ich stelle den Computer auf schwach und gewinne. Es ist trotzdem schön. Nicht der Sieg, sondern das Spiel an sich. Für mich hat jede Schachpartie einen ästhetischen Gehalt. Für mich ist Schach immer präsent. Schach ist ein nicht unwesentlicher Teil meines Lebens. Aber ich will nie wieder eine Turnierpartie spielen.
Eine Schachpartie, ob für den eigenen Verein oder in einem Einzelturnier, bedeutet vor allem eines: harte Arbeit. Stundenlanges Nachdenken. Anspannung. Nervosität. Kampf. Sieg, Unentschieden oder Niederlage. Das ist mir schlicht zu anstrengend, zu zeitraubend, mein Leben ist voll mit anderen Dingen, die weniger nervenaufreibend sind und mindestens ebenso wichtig, eher noch wichtiger. Schach ist nichts weiter als ein Spiel. Ein wunderschönes Spiel, aber ein Spiel.
Natürlich gibt es Menschen, denen dieses Spiel noch ungleich mehr bedeutet als mir. Es gibt Schachspieler, nicht nur in der Weltspitze, für die Schach das Leben ist. Sie leben im Schach. Sie leben Schach. Ich kann sie verstehen, aber ich bin dankbar, dass ich einen anderen Lebensinhalt gefunden habe. Ich muss nicht gewinnen oder verlieren. Ich will auch nicht gewinnen oder verlieren. Mein wichtigster Gegner bin ich selbst. Es geht immer Unentschieden aus.
Derzeit spielt in Sotschi der Titelverteidiger Magnus Carlsen, 23, Norweger, gegen seinen Herausforderer Viswanathan Anand, 44, Inder, um die Weltmeisterschaft. Beide sind Genies. Das Wort Genie wird sehr oft auf Menschen angewendet, über deren Genialität sich streiten lässt. Bei den beiden besteht kein Zweifel. Sie gehören in ihrem Fach zu den besten der Welt. Carlsen wird die Schachwelt vermutlich in den nächsten Jahren dominieren. Er führt die Weltrangliste mit großem Vorsprung an. Deswegen fände ich es interessant, wenn er seinen Titel wieder verliert. Ich habe nichts gegen ihn, ich glaube nur, dass sich bei den meisten Menschen, die ein wirklich großes Talent haben, dieses Talent erst nach großen Niederlagen ganz entfalten kann. Carlsen könnte noch besser sein. Aber dafür braucht er jemanden, der ihn zunächst einmal besiegt.
Schach ist ein wunderschönes, wildes, einzigartiges, nicht ungefährliches Spiel. Ich glaube, ich weiß, warum ich nicht mehr intensiv Schach spielen wollte. Ich hatte Angst, mich in diesem Spiel zu verlieren. Es sind schon ziemlich viele Menschen in diesem Spiel verloren gegangen. Ich wäre auf alle Fälle ein Kandidat. Ich gehe sowieso leicht verloren.