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Wenn die alten Damen nicht wären

 

Am Tisch mit Püree, Kondensmilch und Marmorkuchen. Unser Kolumnist entdeckt, dass ohne die betagten Nachbarinnen in seinem Viertel gar nichts läuft und schickt uns ein Fax.

Die alten Damen meines Viertels haben keinen Witwenbuckel. Ihre Männer gingen in Rente, im zweiten oder dritten oder fünften Jahr fielen sie tot um: im Garten vor dem Schuppen, im Wohnzimmer zwischen Sessel und Beistelltisch. Ein Rentner wurde vom herabfallenden Ast erschlagen, er wagte sich im Sturm hinaus. Tod ist nicht schön, sagt die Witwe, sie starrt auf die Kondensmilch im Sahnekännchen: weißes Porzellan, fahlgelbe Wohlstandsmilch. Sie empfängt mich zur späten Morgenstunde, wir essen. Fleisch in Scheiben, Püree. Krieg überlebt, Politik überlebt, Arbeit überlebt. Für bisschen Geld wäscht sie Kleider anderer Leute. Arbeiterinnenhände, wenige Altersflecken, Haar hochgesteckt, stolze Dame. Ihre Tüten trägt sie allein nach Haus. Sie ist eine empfindsame Herrin.

Faksimile des Faksimiles von Feridun Zaimoglu
Faksimile des Faksimiles von Feridun Zaimoglu

Laubschlamm an meinen Sohlen, ich zog die Stiefel vor ihrer Schwelle aus, sie duldet keinen Dreck auf der Schmutzfangmatte. Ihre polnische Mutter lehrte sie Reinlichkeit, ihr Vater Gefühlehaben ohne Bekundung und Bekenntnis. Die Dame liest gerne. Letztes Jahr schlug sie ein Buch von mir auf, und schlug es wieder zu. Tadelte ihre jüngste Tochter: Pöbeljargon, das Alphabet der Meuten, junger Männer Mauldreck ist nix für sie. Nie wieder wird sie sich von der Tochter mit einem Buch beschenken lassen.

Sie sagt: Junger Herr, was sind Sie doch finster! Ich sage: Ich werde noch in diesem Jahr fünfzig, jung bin ich mal gewesen…

Die alte Dame ohne Witwenbuckel sprach mich auf offener Straße an. Ich folgte ihrer Einladung, jetzt schimpft sie mit mir. Sie will sich nicht grämen, sie will nicht schaudern, sie hofft auf keine Erlösung, nicht von einem Schreiber, noch von der Nachbarin, dieser falschen Person, sie wirft kirschsaftgetränkte Wattebäusche auf den Balkon der Dame.

Ich frage, ob ich ihre Toilette benutzen darf. Im Bad wasche ich mir das Gesicht, reibe mich mit dem gestärkten Handtuch trocken, klappe aus Versehen das Oberlid um. Ich laufe aus dem Bad, furchtbarer Schmerz, sie starrt auf mein Glotzauge, zupft am Lid, alles wieder gut. Sie sagt: Sie sind schon ein bisschen blöd? Ich will den kleinen Zwischenfall übergehen. Sie aber besteht darauf, dass ich ihr genau schildere, wie es dazu kommen konnte. Nun ja, sage ich, ich habe mich mit dem Handtuch getrocknet… Ach, ruft sie aus, ach! Das Handtuch ist also schuld?! Schauen Sie sich mal im Spiegel an. Sie haben jetzt ein Auge wie ein Vampir… Sie reicht mir ihren Handspiegel, ich klappe ihn auf, nach einem flüchtigen Blick klappe ich den Spiegel zu und bedanke mich.

Ihr selbstgemachter Marmorkuchen schmeckt gut. Es klingelt an der Tür, die Frau Nachbarin hat gelauscht und stellt klar: Nein, ich werfe keine Wattebäusche auf fremder Leute Balkone. Nein, ich bin das üble Terrortäntchen nicht, als das Du mich darstellst. Nein… was ist mit dem Auge des Jungen, hast Du ihn geschlagen?

Bald essen die Dame und die Nachbarin ohne Witwenbuckel den Marmorkuchen, und ich erzähle auf Wunsch von den ausbleibenden Einbrüchen im Keller des Hauses, von der hochnervösen Hündin des Masseurs, der mir hinter der Tür auflauert, um sich halbtot zu bellen. Nach einer halben Stunde werde ich entlassen, die alte Dame empfiehlt mich dem Heiland.

Auf dem Heimweg treffe ich Manni. Ich frage, wie es ihm geht. Er sagt: Arbeit zieht Arbeit nach. Ich sage: Der Bart steht Dir gut. Er sagt: Kein Geld für Klingen… Norbert stellt sich dazu, er ist auf dem Weg zu einer anderen alten Dame des Viertels, der er im Haushalt hilft. Er sagt: Hast was auffe Fresse gekriegt? Ich sage: Nö. Hab mir das Gesicht getrocknet, das Lid klappte um… Sie glotzen, dann gehen sie wortlos davon.

Zu Hause drücke ich einen kalten Löffel aufs Auge, bis es mich anödet. Schlagartig wird es draußen dunkel, der Sohn der Frau Hausmeisterin steigt die Treppen herunter, er wird von der feinen Dame zum Abendessen erwartet.