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Der Garten

 

Eine Reise in die USA, eine Begegnung mit imaginären und echten Freunden und einem Ort in den Tiefen des eigenen Geistes.

Im Sommer war ich zu Gast in einer Wohnung in Chicago. In einem Haus an einer vielbefahrenen Straße. Vor den Fenstern war Amerika. Zuvor war ich eine Woche lang durch New York gelaufen und hatte mich immer wieder dazu überreden müssen, Interesse für die Stadt aufzubringen. Am Ende dachte ich dann doch jedes Mal, dass man diesen Ort getrost sich selbst überlassen kann. Da muss eigentlich niemand mehr hin. Am wenigsten ich selbst.

Ich nahm einen Flug nach Chicago und blieb den Rest meiner Zeit in Amerika in dem Haus an der vielbefahrenen Straße. Manchmal ging ich zu einem Supermarkt und selten traf ich jemanden in einer Bar oder machte einen Spaziergang am See. Hinter dem Haus gab es einen kleinen Garten, in dem ich oft saß, mit meinen Gastgebern, meinen Freunden, und wenig sprach, kühlen Whiskey trank und dem Kater dabei zusah, wie er durch den Farn strich.

Ich hatte die erste Hälfte des Jahres damit verbracht, jemand zu sein, der ein Buch veröffentlicht und ein zweites gerade zu Ende gebracht hat. Ich war schließlich an dem Punkt angekommen, an dem ich vorkam in einer Welt, auf die ich mich lange Zeit schreibend zubewegt hatte (nicht inhaltlich, aber im Kontext der Veröffentlichung, dessen also, was allgemein als Erfolg meiner Arbeit begriffen wird, nicht zuletzt von mir selbst).

In der Wohnung meiner Gastgeber war ich einquartiert in einem kleinen Raum, der das restliche Jahr über ein begehbarer Kleiderschrank ist. Ich hatte schon oft in diesem Zimmer geschlafen, das zu allen Seiten vollgehängt ist mit Hemden und Jacken und Hosen, in dem sich Schuhregale befinden und große Stapel T-Shirts und Pullover. Wenn ich am Morgen aus diesem Raum heraustrat, saß mindestens einer der beiden Freunde auf dem Sofa im Wohnzimmer und rauchte eine Zigarette.

Zwischen den Freunden, die ein Paar sind und seit langen Jahren zusammenleben, gibt es eine Vereinbarung, die vorsieht, dass sie abwechselnd Arbeit nachgehen, um füreinander die Lebenskosten zu bestreiten. Auf diese Art ist gewährleistet, dass meistens einer der beiden zu Hause bleiben kann und frei über seine Zeit und seine Energie verfügen.

An jedem Morgen in diesem Sommer brach der eine der beiden, der gerade mit Arbeiten an der Reihe war, auf, und fuhr mit dem Zug an den Rand der Stadt, wo er in einem Großraumbüro in einem würfelförmigen Separee saß und telefonische Anfragen von Kunden eines Reisedienstleisters bearbeitete. Für mich und den Freund mit der Freizeit blieb der Tag in allen Möglichkeiten offen. Jeden Morgen lag kurz etwas in der Luft – eine Art Spannung, das Unbekannte, erwartungsvoll vor uns ausgebreitet, obwohl eigentlich schon klar war, dass nichts Besonderes passieren würde. Wir schauten uns Filme an, hörten Musik und setzten uns in den Garten hinter dem Haus. Gegen Abend wurde Essen gekocht, das fertig war, wenn der arbeitende Freund nach Hause kam.

Ich lernte viel über die Filme von Fred Astaire und die Musik des Great American Songbook, über Irving Berlin und Ella Fitzgerald und die Kompositionen von Bernard Herrmann. Die Wohnung der beiden Freunde ist ein unerschöpfliches Archiv der Film- und Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts und die Freunde selbst seine liebevollen Archivare.

Der Freund, der in diesem Sommer das Privileg der freien Zeit hatte, ist einmal ein sehr erfolgreicher Kinderschauspieler gewesen. Er spielte am Theater und in Kinofilmen, bis er irgendwann aus den Kinderrollen herausgewachsen war und den Sprung in die Welt der Erwachsenenschauspieler nicht schaffte oder nicht schaffen wollte. An einem der Tage in diesem Sommer, als wir im Wohnzimmer saßen und überlegten, welchen Film wir als nächstes anschauen oder ob wir vorher noch draußen irgendwo etwas zu essen besorgen wollten, erzählte er mir, dass er als Junge bei derselben Agentin unter Vertrag war wie der ebenfalls aus Chicago stammende Danny Lloyd, der in der Romanadaption The Shining von Stanley Kubrick aus dem Jahr 1980 die Rolle des Jungen Danny Torrance spielte.
Lloyd und er seien beide zum Casting für die Rolle eingeladen worden und seien die letzten zwei Kinderdarsteller gewesen, zwischen denen sich Kubrick entscheiden musste. Der Freund erzählte mir, er habe damals einen imaginären Freund gehabt, den er Pika nannte und mit dem er sich oft unterhielt, während er im richtigen Leben ein eher verschwiegenes Kind war. Wenn er sich mit Pika unterhielt, erzählte der Freund, sprach er zu seinem Zeigefinger – der Zeigefinger war die Verkörperung des imaginären Freundes, und immer wenn Pika etwas sagte, bog der Freund den Finger ein im Rhythmus des Gesagten.

Das Vorsprechen für die Rolle des Danny Torrance dauerte nach Aussage des Freundes sehr lange. Kubrick wollte von den Kindern, dass sie improvisierten, dass sie ihm erzählten und dass sie sich vor der Kamera, die alles aufzeichnete, möglichst natürlich verhielten. Der Freund erzählte mir, er habe damals angefangen, mit Pika zu sprechen, weil ihn das beruhigte und weil er sich so mit jemandem unterhalten konnte, ohne laufend in die Kamera oder in das Gesicht des Regisseurs schauen zu müssen.

Der Ausgang des Castings ist bekannt: Danny Lloyd wurde für die Rolle ausgewählt und spielte den Jungen Danny Torrance in The Shining. Es blieb der letzte Kinofilm, in dem er vor der Kamera stand. Was nicht bekannt ist, ist die Tatsache, dass Kubrick die Art, wie Pika über den sich biegenden Zeigefinger damals zu dem Freund gesprochen hatte, später im Film übernahm.

In der Romanvorlage von Stephen King spricht Danny Torrance ebenfalls mit einem imaginären Freund, Tony, der im Film bezeichnet wird als „the little boy who lives inside my mouth„. Im Buch erscheint Tony dem Jungen leibhaftig und sagt Sätze wie: „Danny… you’re in a place deep down in your own mind. The place where I am. I’m a part of you, Danny.“ Im Film aber spricht Tony nur aus dem Mund des Jungen, der dabei seinen Zeigefinger ansieht und ihn im Rhythmus des Gesagten abknickt, genau wie der Freund es beim Casting gemacht hat, als er sich mit Pika unterhielt.

Danny Lloyd im Film "The Shining"
Danny Lloyd im Film „The Shining“

Der Freund und ich holten uns an diesem Tag jeder ein Sandwich in einem polnischen Lebensmittelladen, aßen schweigend auf einer Bank hinterm Haus und schauten am Nachmittag den Dokumentarfilm Grey Gardens von Albert und David Maysles über Edith Ewing Bouvier Beale und Edith Bouvier Beale – „Big Edie“ und „Little Edie“, dafür bekannt geworden, dass sie als die verwahrlosten Verwandten von Jacqueline Lee Bouvier Kennedy Onassis, der Witwe von John F. Kennedy, in einem verfallenen Haus im Familienbesitz auf den Hamptons als Mutter und Tochter abgeschieden lebten, ohne Kontakt zur Außenwelt, von einem verwilderten Garten umwuchert, mit Katzen und Waschbären, in einer Art Traumwelt den eigenen verpassten Chancen und vergangenen Leben nachhängend und nachträumend, abwechselnd einander die Schuld dafür zuschiebend, dass aus dem Ruhm, der für sie vorgesehen war, nichts geworden ist.

Ich erinnere mich, dass ich in diesen Film hinein die Fragen zu der vorher von meinem Freund erzählten Geschichte stellte, die mich immer noch beschäftigte. Ich schaute auf den Fernseher, wo Little Edie mit einem Fliegennetz um den Kopf und einem Kleid aus Vorhangstoff mit der amerikanischen Flagge vor der Kamera herumwedelte, und fragte den Freund, ob er je gekränkt darüber war, dass ihm Pika für den Film geklaut wurde. Der Freund sagte, nein, er finde das eigentlich ganz richtig so. Es sei ihm lieber, sein imaginärer Freund sei für immer in diesem Film konserviert, als er selbst. Wenn er als Siebenjähriger monatelang mit Stanley Kubrick in England an einem Horrorfilm hätte arbeiten müssen, meinte er, würde er wahrscheinlich heute noch mit seinem Finger sprechen.

Wir redeten dann den Rest des Films nicht mehr, schauten uns die beiden Frauen an, die auf schimmligen Matratzen mit ihren Katzen sprachen und in die Kamera erzählten, wie vielversprechend ihre Leben begonnen hatten. Und ich glaubte, zu begreifen. Ich hatte einen ganz deutlichen Moment des Begreifens der Situation, in der sich diese Frauen im Film befanden, meine Freunde in dem Haus an der vielbefahrenen Straße und ich selbst in Amerika.

Ich sah das Haus, in dem wir saßen, ein Schiff sein, auf eine Sandbank aufgelaufen und festgefahren. Die ursprüngliche Bestimmung, das Ziel der Reise, war noch irgendwo auf den Fahnen abzulesen, aber es war lange schon klar, dass es seinen Hafen niemals erreichen würde. Die Freunde, deren Leben diese Schifffahrt ist, haben sich auf dem gestrandeten Schiff eingerichtet. Ich sah Big Edie Schallplatten auflegen und zu ihrer eigenen Stimme schief aus einer müden Brust singen.

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Das Schiff bleibt seiner Ursprungsbestimmung treu – es geht jeden Tag weiterhin darum, sich selbst in ein Leben hineinzudenken und sich die Welt dieses Lebens auszumalen, in Visionen, die unbeschadet von den realen Härten bestehen können. Ich fand das kein bisschen traurig, während ich auf der Couch im Wohnzimmer vor dem Fernseher saß. Vielmehr dachte ich über den Freund, der konzentriert den Film ansah, auf der Suche nach Dingen, die er bei den letzten Malen noch nicht entdeckt hatte, vielleicht ein wenig zu feierlich: Das ist das wahrhaft ewige Studium des Lebens durch die Kunst. So sieht das aus, wenn es auf der Welt Wirklichkeit wird. Sein Gegenstand muss ein Traum sein und es liegt in der Verantwortung der Studierenden, dafür zu sorgen, dass es ein Traum bleibt. Ich fragte mich, ob man im Sehnen eine Art Professionalität erreichen konnte und dachte wieder an Pika, an Tony, an den „place deep down in your own mind“ und daran, dass mit der Geste in dem Film wahrscheinlich das verewigt wurde, was ohnehin schon unsterblich ist.