Die offene Gesellschaft und ihre Freunde: Nach der Häme, nach ihrem vermuteten Ende will die FDP zurück ins politische Geschäft. Brauchen wir ihren Liberalismus nicht mehr denn je?
Jetzt soll also alles anders sein. Die FDP hat sich neu-, sie hat sich wiedergefunden. Dem Klientelismus werde abgeschworen, die Freiheit als Markenzeichen in den Vordergrund gestellt, so lautet das Versprechen. Schlechte Stimmung kann man den Liberalen jedenfalls nicht vorwerfen. Der traditionelle Ball am Vorabend des Dreikönigstreffens ist zu einer liberalen Lounge im Stuttgarter Maritim-Hotel zusammengeschrumpft, aber der Optimismus scheint hier vorab als Wunderpille verabreicht worden zu sein. In den Gesprächen wird enthusiastisch von der aktiven Teilnahme der Mitglieder bei der Katastropheninventur der Partei erzählt.
Dirk Niebel steht am Buffet, Hermann Otto Solms vor der legendären Dirndl-Bar. Ein Pianist spielt Evergreens, die Lampen verströmen magentafarbenes Licht. Alles wirkt wie auf einer Kreuzfahrt. Traumschiff oder Titanic, fragt man sich – oder doch nur die Dänemark-Fähre, auf der man sich gleich mit zollfreier Ware eindecken wird? Gegen zehn verbreitet sich die Nachricht, das neue Parteilogo sei bereits an die Presse durchgesickert. Nicht einmal davon lässt sich die Stimmung trüben. So ganz stimme die Farbe ja nicht, die Bild im Netz veröffentlicht habe, meint man gelassen. Um zwölf klimpert der Traumschiff-Pianist ein Geburtstagsständchen, zwei ältere Paare swingen ausgelassen im Foyer.
Das Dirndl-Gespräch, das 2012 hier stattgefunden hat, blieb das Lauteste, was man in den letzten Jahren von der FDP noch gehört hat. Ansonsten begleitete ihren Abstieg hauptsächlich eins: Häme. Hämisch ist man, wenn man jemanden blöd, aber eigentlich auch harmlos findet. Dass diese Partei nichts hinbekommt, daran hatte man sich so gewöhnt, dass es nicht einmal mehr für Witze reichte und der Versuch, die aus dem Bundestag ausgeschiedene Truppe jetzt auf dem liberalen Dreikönigstreffen in ernstzunehmende Mitspieler der deutschen Politik zu verwandeln, schien etwa so aussichtsreich, als wolle man einen Archaeopteryx wieder flugtauglich machen. Wozu überhaupt? Nicht einmal Ornithologen haben ihn zwischen den heimischen Vögeln vermisst.
Dabei ist Liberalismus derzeit alles andere als überflüssig. Wir nähern uns einer Wohlfühldemokratie an, die niemanden belästigt. Das Sichtbare wirkt wohlgeordnet, die Bedrohung hingegen nicht mehr greifbar und somit kaum zu verarbeiten. Schläfrigkeit auf der einen Seite mischt sich mit Furcht und Vorurteil auf der anderen, jedes Engagement erstickende Alternativlosigkeit mit aufhetzendem „Das wird man wohl noch sagen dürfen“. Liberales Denken könnte Antworten aufzeigen. Dann jedenfalls, wenn man darunter eine Selbstermächtigung der Bürger versteht, die Demokratie gestalten und sie nicht bloß erleiden oder zertrümmern wollen.
Wenn man darunter eine Politik der Toleranz und des Respekts begreift, verbunden mit furchtloser Weltoffenheit. Wenn man daran glaubt, dass es besser ist, dem erwachsenen Menschen so viele Entscheidungen wie möglich selbst zu überlassen, solange sie nicht mit der Freiheit eines anderen in Konflikt geraten. Wenn man auf klassische liberale Wirtschaftskompetenz der klaren, nicht überbordenden Regeln vertraut. „Wer den Nutzen hat, muß auch den Schaden tragen“, so simpel formulierte es vor mehr als 60 Jahren Walter Eucken, Nestor des Ordoliberalismus, und auch heute wäre mit einfachen, aber konsequenten Haftungsregelungen oft mehr gewonnen als mit moralisierenden oder Ängste mobilisierenden Erklärungen, warum man dieses oder jenes nicht wollen soll. Würde man – nur ein Beispiel – bei Produkten die Kosten der Umweltschäden und Risiken mit einpreisen, stellten sich Atomstrom, konventionelle Landwirtschaft und Flugreisen in der Rentabilität als gar nicht mehr so überlegen gegenüber ihrer Konkurrenz dar. Die FDP tönte bislang aber doch lieber von Versprechen privatistischer Vorteile. Mehr Netto vom Brutto. Wer den Bürger für dümmer nimmt, als er ist, wird liberale Politik ganz sicher nicht machen können.
Die Sternsinger sind wieder zum Staatstheater gekommen, im letzten Jahr waren sie fern geblieben, hatte man doch angenommen, die FDP gäbe es nicht mehr. Im prunkvollen Saal des Theaters fühlt man sich in die Hochzeit des selbstbewussten Bürgertums zurückversetzt. Es könnte Ende des 19. Jahrhunderts sein und wäre das hier Lübeck, säße in einer der Logen Christian Buddenbrook und jubelte einer Schauspielerin auf der Bühne zu, fast schon zu viel der Schwärmerei. Kunst mag man, aber doch eher als repräsentatives Herrschaftszeichen.
Blickt man auf die Bühne, ist man schnell wieder im 21. Jahrhundert. Die Aufmachung erinnert an bekannte Talkshowformate: Sechs weiße Sessel stehen auf der Bühne, die Gäste des Vormittags nehmen dort Platz. Michael Theurer, Vorsitzender der baden-württembergischen FDP, stellt sich als Erster in den Ring und begrüßt die anwesenden Politiker, dann folgt ein Kniefall vor einigen Gästen aus der Wirtschaft, was nicht so ganz zusammenpassen will mit dem Versprechen, dem Klientelismus abgeschworen zu haben. Nach ihm spricht Hans-Ulrich Rülke, designierter Spitzenkandidat der Landespartei, eine gute Politcomedy, aber sollte es hier nicht um eine politische Richtungsansage gehen? Als sich der Bundesvorsitzende Christian Lindner erhebt, ist gewiss, dass die folgenden sechzig Minuten spannend werden, denn jetzt wird sich zeigen, ob dies die letzte FDP-Veranstaltung ist, von der überregionale Medien berichten.
Natürlich ist einiges erwartbar: Lindner schimpft gegen den Mindestlohn, Soli und Rente mit 63, er wirbt für mehr Wettbewerb und Mut zur Unternehmensgründung, er spricht von liberalen Grundwerten und Tradition. Seine Hauptthemen sind neben Integration Wirtschaft und Bildung, das eine wichtig im Bundes-, das andere im Landeswahlkampf. Mit gewissem Pathos greift Lindner die AfD und Pegida an und hält sich mit Kritik an der Union zurück, „wer nur die Schwächen anderer betont, scheint sich seiner eigenen Stärken nicht sicher zu sein.“ Selbstkritisch zählt er begangene Fehler auf: kein FDP-Finanzministerium, keine Steuerreform. Aus dem Namen der Partei ist der Liberalismus im Übrigen verschwunden. „FDP. Die Liberalen“ wurde zu „Freie Demokraten. FDP“. Das ist die deutlichste Umbenennung im Rahmen dessen, was noch als Treue zum Vorherigen durchgeht. Man hat die Erinnerungen an das Verheerende, was uns „Die Liberalen“ eingebrockt oder vielmehr, was sie wieder einmal nicht hinbekommen haben, zumindest sprachlich von sich gerückt. Zudem sehen sie nicht mehr nach einem Edeka-Ableger aus.
„Wer andere für die Freiheit begeistern will, der muss sich zuerst einmal wieder selbst befreien“, sagt Lindner über den Selbstzweifel seiner Partei, der ihr das unabhängige Urteil genommen habe. Warum sich die Partei so lange jede vernünftige Idee verkniffen hat, weil sie Angst hatte, damit die Stammwähler zu verprellen, hat man sich ja selbst schon gefragt – und für wie blöd die Partei ihre eigenen Wähler damit offensichtlich gehalten hat. Nun ist ein unabhängiges Urteil ja immer dann besonders leicht, wenn man nichts mehr zu verlieren hat. „Freedom’s just another word for nothing left to loose„, wusste schon Janis Joplin. Bleibt zu hoffen, dass Lindner sich an seine Worte noch erinnert, falls er doch mal wieder etwas aus dem Bundeshaushalt zu verteilen hat.
„FDP setzt auf Steuersenkung“ wird die Süddeutsche Zeitung am nächsten Tag dann auch schon vorauseilend titeln. Das kann man so sehen, muss es aber nicht, ganz sicher nicht ausschließlich. Immerhin wirbt Lindner dafür, die liberale Erzählung damit zu beginnen, was den Menschen größer mache, nämlich Bildung und Emanzipation des freien Individuums. Freiheit sei nichts, was man in den Glaspalästen der Banken sähe, sondern ein inneres Gefühl. „Klar kannst Du, und wir vertrauen auf Deine Fähigkeiten!“, sagt Lindner. Er kritisiert die entfesselten Kapitalmärkte und den Meinungsdruck, die den Einzelnen kleiner machen, als er ist. „Wir machen Dich größer, Dich und nicht den Staat.“ Ein bisschen viel Ikea-Du vielleicht, aber Lindners Enthusiamus ist ja auch mindestens so charmant wie ein schwedischer Akzent.
Mit einer grellen Rückprojektion geht es zur Erkundung der Vereinigten Staaten, die Lindner in seiner Rede immer wieder als klaren Bündnispartner Deutschlands und Europas betont, inklusive Freihandelsabkommen, sogar dem vielgescholtenen Fracking wünscht er eine vorurteilsfreiere Bewertung. Nun ist der Blick Richtung USA für einen Liberalen nicht gerade überraschend. Der Liberalismus dort nicht nur politisch, sondern auch gesellschaftlich und akademisch mehr beheimatet als hierzulande. Vor 180 Jahren schon staunte der Franzose Alexis de Tocqueville über die Gleichheit der gesellschaftlichen Bedingungen, in denen er ein schöpferisches Prinzip erkannte.
Während Tocqueville sich damals die dortigen Gefängnisse beschauen wollte und Demokratie fand, nimmt Lindner sich die Garagen vor und findet Gründergeist. Unternehmen wie Apple, Google und Amazon wurden in solch meist unbeheizten Kästen geboren, die einer nach dem anderen, mit recht ähnlichem Antlitz, auf der Leinwand erscheinen. Auch in der Gleichheit der Behausungen kann man offensichtlich ein schöpferisches Prinzip erkennen. „Der deutsche Steve Jobs wäre bereits an der Baunutzungsordnung seiner Garage gescheitert“, sagt Lindner und erntet tosenden Beifall, dabei unterschlägt er, dass die Liebe zum Carport es den Deutschen ohnehin schon schwer macht, Meilensteine in der IT-Branche zu setzen, zu schnell sind da mal die Dioden eingeregnet.
Trotzdem ist das Beispiel treffend. Es kommt aus der Wirtschaft, klar, und Lindner geht es hier in erster Linie genau darum, aber man kann es ebenso stellvertretend für deutsche Umständlichkeit im Allgemeinen sehen, die Menschen das Leben verkompliziert und so manches verhindert, ob das nun Innovation, Engagement oder schlicht Lebensfreude ist. Man wechsle nur von der Bau- zur Bibliotheksnutzungsordnung und schon weiß jeder, wie es sich anfühlt, wenn Gängelung den Weg zu großen Gedanken verstellt. Der Nutzer gilt hier schließlich als natürlicher Feind der Institution. Schon die notorische Phobie der Angestellten vor Flüssigkeiten, die etwas anderes als pures Leitungswasser sind, lässt vermuten, jeder zweite Besucher plane insgeheim einen Coca-Cola-Überfall auf den Handapparat. Wenn man in der Bibliothek trotz Leitungswasser genug gelernt hat, schließlich aber das Bestehen der Prüfungsanmeldung nervenaufreibender wird als die Prüfung selbst, dann liegt wirklich etwas im Argen.
Im Gegensatz zu seinem Vorredner hält sich Lindner mit Zitaten zurück. Theodor Heuss kommt zu Wort, Ralf Dahrendorf natürlich und dann noch Franz Kafka. Der ist gut gewählt, denn womit sonst könnte man das Gefühl von Ohnmacht und Unmündigkeit angesichts von Bürokratie und Staatsmacht eindringlicher als mit dessen Erzählung Vor dem Gesetz illustrieren, in der ein Mensch sein Leben darauf verwendet, untertänig vor einem Tor auf Einlass zum Gesetz zu warten, bis er kurz vor seinem Tod erfährt, dass der Zugang die ganze Zeit über gar nicht verschlossen gewesen ist?
Die wichtigste Frage aber dürfte sein, wie sich die offene Gesellschaft heute behaupten kann, und zwar gegen ihre inneren und ihre äußeren Feinde. Freilich konnte Lindner noch nicht ahnen, was sich einen Tag später in Paris ereignen würde, wo mutmaßlich islamistische Terroristen die Redaktion der Satirezeitschrift Charlie Hebdo stürmten und zwölf Menschen erschossen. Lindner sprach davon, sich gegen jede Form des Extremismus zu wenden, gegen Rechtspopulisten ebenso wie gegen militante Salafisten. Er nannte Lessings Ringparabel, in der Toleranz über den Streit zwischen den drei monotheistischen Religionen siegt. Literaturhistorische Verweise sind immer lehrreich, reichen als Antwort aber doch noch nicht aus. Belohnt für das Massaker wird wohl die Rechtspopulistin Marine Le Pen mit steigender Wählerzustimmung, die nun als Reaktion auf das Attentat die Wiedereinführung der Todesstrafe fordert – dies ein weiterer Angriff auf freiheitliche Lebensform. Eine Partei, die auf diese doppelte Notlage schlüssige Antworten fände, bräuchte es dringend im Bundestag.