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IS NICH DIS WAT NICH IS

 

Wir fürchten den Blick der Fremden, weil wir uns durch ihn selbst sehen: übergewichtige, kleinliche, gefühlskalte Maden. Was hat die schmerzhafte Zehengicht Podagra eigentlich damit zu tun?

Eine Weile hab ich nicht aufgepasst, und plötzlich reden alle von Podagra, ich schlage also nach, was das noch mal genau ist. Es ist Zehengicht. Gicht ist, für die Jüngeren, Ungebildeteren unter uns, die das wie ich nicht ganz genau wissen, eine schmerzhafte Ablagerung von Harnsäure in den Gelenken und hängt mit der Niere zusammen. Die Ablagerung und Entzündung erfolgt meist in Anfällen. Vor einem solchen Anfall fühlen sich die Kranken häufig abgespannt; ihr Schlaf ist unruhig, ihre Verdauung gestört, der Appetit vermindert; sie klagen über Beengung, schwitzen stark und entleeren einen spärlichen, konzentrierten Harn. Der Anfall selbst stellt sich trotzdem unerwartet und plötzlich, meist nachts mit heftigen bohrenden und brennenden Schmerzen in dem ersten Gelenk der großen Zehe ein. Die Haut über dem Gelenk rötet sich, und letzteres schwillt an. Häufig besteht Fieber.

Gegen Morgen macht sich ein starker Nachlaß der Schmerzen bemerkbar. In der nächsten Nacht erfolgt ein neuer, gleich heftiger oder etwas schwächerer Anfall, und so wechseln erträgliche Tage mit schlechten Nächten ab, bis etwa nach Ablauf einer Woche der Kranke von seinen Schmerzen befreit ist. Der Patient fühlt sich nun oft wohler als vor dem ersten Anfall. Nach Monaten oder erst nach Jahren tritt gewöhnlich die Krankheit von neuem in der gleichen Art hervor und kann in relativ harmloser Form und mit seltenen Anfällen weiter fortbestehen, in andern folgen die Anfälle mit der Zeit schneller aufeinander; die Zwischenzeiten sind nicht mehr beschwerdefrei, und so geht mit der Zeit die akute Gicht in die chronische Gicht über. Bei dieser werden allmählich immer mehr Gelenke befallen und dieselben mehr und mehr durch massenhafte Ablagerung von harnsauren Salzen geschädigt und verunstaltet. Die mit diesen Salzen durchtränkten Gewebe neigen zum Absterben und zur Erweichung, und die erweichten Massen brechen nicht selten zur Haut durch, wodurch die Gichtgeschwüre entstehen, die Eiter und harnsaure Salze zusammen als mörtelartige Massen entleeren. Auch unter der Haut, in der Umgebung der Gelenke und besonders an den Ohrknorpeln finden sich Ablagerungen von harnsauren Salzen, sogenannte Gichtknoten (tophi). Die Gelenke bleiben schließlich fast anhaltend schmerzhaft, schwer beweglich und mißgestaltet, so daß die Kranken im Gebrauch ihrer Glieder bald mehr, bald weniger erheblich beeinträchtigt werden. Nun treten noch zahlreiche Krankheitserscheinungen seitens der inneren Organe auf, … (Meyers Konversationslexikon, Leipzig 1910)

Wie leicht sich die Beschreibung einer Nierenkrankheit auf schädliche Weisen der Informationsverarbeitung mappen lässt, soll am Beispiel zeigen, wie die gewöhnlichen Ausdrucksweisen schon bei der neutralstmöglichen Schilderung von Sachverhalten und Zusammenhängen Parallelismen herausarbeiten, Kausalitäten, Mengen- und Kräfteverhältnisse andeutend, die wir – sie sind nützlich zum raschen Verständnis – gierig aufschnappen und dann als Teil der Information speichern. Diese Parallelismen sind meistens irgendwie schief, unüberlegt oder liegen ganz daneben. Es sind hauptsächlich sie, die unser Denken gestalten.

Genius hieß ursprünglich jemand, dessen Urteilskraft von Situation und Naturell irgendwie begnadet war. Diese Bedeutung lebt noch im guten Genius, der über einer Sache segnend schweben mag, sodass sie gelingt. Hingegen hat das Genie mittlerweile, also seit dem Sturm und Drang, ja eher den Ruf des Irrationalen; ein fast besinnungslos Handelnder, der dabei hoffentlich von Gott, einem starken Dämon oder einer schönen Seele gesteuert wird. Während wir bei Tag beteuern, Genies weder zu brauchen noch sonderlich zu bewundern, bevölkern sie doch inoffiziell unsere Träume, Schwärmereien und Hoffnungen, zumal wir nach wirksamen Göttern, einem Talisman, einer Mama oder sonstigem irrationalen Trost weit und lange zu suchen hätten. Vielleicht stimmt das nicht. Aber ich bin mir sicher, dass sich die Selbsteinschätzung eines und einer jeden, in den guten Momenten, irgendwo im Spektrum zwischen drei Modellen von Genius befindet: der klug urteilenden Pragmatikerin; der mit schlafwandlerischen Sicherheit aus dem Bauch handelnden Psyche; dem Gedichte gegen Einfamilienhäuser tauschenden Götterliebling. Das Leben gelingt und man verdankt dies, kann man sich weltanschaulich quasi aussuchen, entweder sich selbst oder dem Schicksal.

In schlechten Momenten freilich: Scheiße. Da fehlt alles Göttliche, fehlt der Glaube an etwas Weiseres als man selbst – ohne welches man in den guten Zeiten problemlos auskommt. Und wenn so eine göttliche Position noch rudimentär vorhanden ist, ist sie so vage, so unartikuliert, so fern vom bekannten Leben, dass sie nicht wirklich konkrete Ratschläge, Hinweise und Ermahnungen formuliert. Man muss im vollen geistigen Elend selbst an die Analyse und fängt an, die Fäden zu irgendwelchen Schlussfolgerungen zusammenzuklauben. Die Weltsicht gerät wirr, denn es fehlen jegliche Kriterien für die relative Gewichtung verschiedener Informationen. Ich meine, das ist vor allem ein sprachliches Problem.

Das Geschmacksurteil verhilft zu Distanz zu den bei emotionalem Stress oft durchdrehenden moralischen Argumentationen (indem es sie, die Distanz, erfordert). Der Geschmack ist wie die Ethik eigentlich ein Instrument für Hellhörigkeit, für sensiblen Vergleich zwischen unterschiedlichen Kategorien. Ebenso wie das Kriterum der Gerechtigkeit ist er in einer globalisierten Welt absurd oder in seinem Gültigkeitsausmaß beliebig. Während aber die Gerechtigkeit mit ihrer Eichung als Waage sich nur auf geschlossene Mikrosysteme beziehen kann, die sich so, wie es jetzt steht, in einer schreiend ungerechten Globalsituation befinden, ist der Geschmack sehr wohl imstande, mit Inkommensurablem umzugehen. Der Geschmack bezeichnet ja genau den Umgang mit einer zu Geschmackssünden verführenden Vielfalt an Möglichkeiten und bezeichnet durchaus nicht (also nur in der allerdümmsten Comic-Version) eine universelle Fixierung von richtig und falsch. Das wäre bei der Mode ja ganz widersinnig. Auch wenn er in Gestalt von Ja/Nein-Urteilen auftritt, geht es dabei (vgl. die Dos and Don’ts des Vice-Magazins) eher um die wendige und souveräne Wahrnehmungsfähigkeit, die offen bleiben kann, ohne beliebig zu werden. Was aber sind die Gründe für diese Jas und Neins? Darin besteht eben die Kunst des Geschmacks.

Der Geschmack ist also ein komplexes relatives System, in dem Moral, Quantität und Distanz oder Ort miteinander in Bezug gesetzt werden. Man sieht zum Beispiel Menschen, die Kleidung anhaben, die sie „nicht tragen können“. Der Anzug bzw. der Porsche ist leider stärker als er, sieht man. Oder aber man ist bloß am falschen Ort. Und so weiter. Wenn man sich wenig leisten kann, zeigt der Geschmack sich in der Wahl und im Verhalten. Wenn man sich mehr leisten kann, als man braucht oder überhaupt wirklich wollen kann, zeigt er sich auch in den Handlungen, zusätzlich muss man mithilfe von Geschmack entscheiden, wann man Halt macht. Der Körper hilft dabei, und das ästhetisch geschulte Auge. Das heißt eines, das nicht trainiert wird, von allem wegzuschauen, was unbedingt durchgehen soll, aus Gründen etwa der Gier oder der Ängstlichkeit, dem Klammern an Prinzipien oder der Gewohnheit, alles, was man tut, als Prinzip gutzuheißen. Wo keine Beschränkung von außen erfolgt, muss man sich selbst beschränken. Das ist ziemlich zermürbend, der Mensch ist nicht unbedingt dafür gebaut.

Seit ein paar Generationen ist das einzige weltweit gültige Prinzip die Anhäufung von Geld bei Beachtung einiger formalistisch festgelegter Tabus – the pursuit of happiness, wie es in der amerikanischen Konstitution heißt. Es klingt so harmlos. Aber als höchstes Ideal ist es, glaube ich, zu leer: Es kann einen nicht zum Aushalten von Unangenehmem motivieren. Die Obszönität der globalen Güterverteilung ist aber so durchorganisiert, dass man sich von der begünstigten Seite her bemühen muss, um überhaupt in die Verlegenheit zu kommen, wahrzunehmen, was man indirekt und mehr oder weniger unschuldig anrichtet. Dieser so bequeme, biegsame, moderne, abstrakte, milde Gott wird uns kaum dazu bringen können, den eigenen Charakter, die eigenen Gewohnheiten in einem global relevanten Ausmaß zu korrigieren. Was tun?

Ich glaube noch immer an die Idee des Epikur von Geschmack als der feineren, weniger verwechslungsanfälligen Moral. Man muss nur die Augen weit aufreißen und auch ungelegene Wahrnehmungen nicht unterdrücken. Was leicht gesagt ist. Deswegen muss so ein Ideal wie „Geschmack“ genug narzisstische Motivation bieten, dass man sich noch oder gerade bei Erledigung der unangenehmen Teile der Angelegenheit gut vorkommt. Sich oft möglichst nüchtern und unerschrocken von außen betrachten, aus einer sympathielosen Perspektive. Wenn man alles in Ordnung findet, stimmt wahrscheinlich irgendwas Größeres nicht. Deswegen ist die Befreiung von der fixen Idee Schuld wichtig. Ich kann mich mit ruhigem Blut kritisieren, wenn das nicht mit über die Maßen quälenden Schuldgefühlen verbunden ist. Dann brauche ich keine Scheuklappen, um mich als Vehikel meines Lebens brauchbar zu finden und vor allem Spaß an meiner Verwendung zu haben.

Am wertvollsten ist die Perspektive von jemandem mit ganz anderen Lebenssituationen, Gewohnheitswerten und Ästhetiken. Unter anderem deswegen sind, glaube ich, übrigens, Ausländer und Flüchtlinge in einem wohlhabenden Land so unpopulär: nicht, weil man wirklich gar so viel Angst um Arbeitsplätze oder mögliche Notwendigkeit von Hilfeleistung hätte, das sind nur die Deckphrasen – sondern wegen ihres Blicks. Durch den Blick der Fremden sehen wir uns selbst: übergewichtige, kleinliche, gefühlskalte Maden, die nie wirklich gelebt haben, nur sich um Sicherheiten und Verbesserungen der eigenen Interessen gekümmert. Das gilt ja bei uns als Vernunft.

Wir müssen uns also, vielleicht ein bisschen plötzlich, so benehmen, dass wir nicht alle, die uns mit ungepolstertem Auge sehen, niederbrüllen und wegschicken müssen. Den Vorwurf der Dekadenz, der uns gemacht wird (ich sage uns, weil ich mich als Teil einer etwas verdorbenen Generation fühle, die gelernt hat, dass sich mit Bullshit eher überleben lässt als mit schlichter oder sozusagen ehrlicher Arbeit) von vielleicht etwas durchgedrehten Reaktionen darauf (на права, на лева, из-за буркы), muss man ernst nehmen. Ich bin ja nicht bereit, aus Reaktion wiederum darauf mich mit irgendeiner Gesamtheit von europäischer Kultur zu solidarisieren, die ich kritisch sehe. I refuse to take sides. Ich spüre aber, dass ich in Zeiten solchen Drucks, zwischen auf nicht mal so verschiedene Weise idiotischen Bewegungen Stellung zu beziehen, meinen individuellen Geschmack irgendwie festigen muss, damit ich in schwierigen Gelegenheiten nicht die Contenance verliere, vor allem mich nicht zu irgendwelchen Stellungnahmen drängen lasse. Ich will auch sagen können, dass ich für etwas kämpfe, will auch erklären können, wofür, und ich denke, am besten ist, ich sage, für den Geschmack.

Und dazu muss ich gleich hinzufügen, dass er mir seit jeher schwerfällt, insbesondere der Aspekt mit dem Maßhalten, und der Kampf also bei mir, wie man vielleicht auch meinem Schreibstil anmerkt, ein alter ist.

Geschmack in der Sprache

Das Unheimliche an jedem Streit, auch dem häuslich-individuellen, ist seine Doppelgesichtigkeit. Die gute Puppe meint, sich für den Erhalt von Bastelkreisen einzusetzen, ihr Hinterkopf, der SS-Kommandant, weiß, dass sie im Rahmen dieser Verteidigungshaltung meuchelt, Gift und Landminen streut. Vermutlich wird das immer so funktionieren, die familiäre, angstorientierte menschliche Psyche scheint zu solchem Verhalten programmiert und entschlossen. Es ginge diskurstechnisch also nur um eine Schadensminimierung, eine besänftigende Luft, Erinnerung an die gemeinsame Abhängigkeit von gegenseitiger Hilfe. Das geht, glaube ich, am besten durch höhere Durchlässigkeit der Sprache für die Wirklichkeit.

Die Rhetorik ist ja in ihrer sophistischen Kultur ein Bollwerk gegen die Wahrnehmung. Nur dadurch motiviert man sich zu Handlungsweisen, die sich, von Hybris geprägt, zu herrischen Gestaltungen der Welt durchringen. Man kann das diskursive Spiel als solches nicht verurteilen, braucht es auch nicht, es genügt der Blick auf das von ihm verdeckte Leben. Die rechte Diskurstradition, wie man sie in der Blauen Narzisse zum Beispiel gut analysieren kann, ist eine sophistische. Sie verwandelt panische und gierige und sonstige Impulse, derer man sich aus gutem Grund oder aus welchem auch immer schämt, auch wenn sie jeder kennt, in abstrakte Sätze, die man vollmundig verteidigen kann; dies mischt sich bei intelligenten, diskursfreudigen Subjekten oft mit reiner Freude am Funktionieren, mit Spiellust. Solche Felder ermöglichen also, niedere Impulse in unpersönlich wirkende Spiele zu läutern, bei denen man zur eigenen und gegenseitigen Freude Überlegenheitsgesten produziert. Das passiert nicht nur dort, sondern in fast jedem künstlerischen, literarischen, publizistischen Spielfeld. Die Frage ist nicht, ob es ohne „dreckige“ Psychomotoren geht, geht es wahrscheinlich nicht (wobei ich nichts Dreckiges dran sehen will, was passiert, ist offenbar menschlich, wer wäre ich, das zu verurteilen, ich sage nur, es ist schlecht). Die Frage ist nur, ob es ein glaubwürdiges Korrektiv gibt, ein Licht, in dem man schreibt, eine Instanz, die von einem fordert und erwartet, keine denkerischen Schweinereien zu begehen.

An mir schon erkenne ich ja einige massive Neigungen zum schlechten Denken, zum Beispiel:

Ich bewerte gern als entscheidend einen Zusammenhang, der mir ganz einleuchtet und ein angenehmes Gefühl des Verständnisses gibt. Sehr viel unbefriedigender ist eine unvollständige Erklärung, auch wenn die Reste nur Banalitäten betreffen. Und ich bevorzuge diese „hübschen“ Erklärungen und nenne und nehme sie daher wichtiger als andere, obwohl ich genau weiß, dass es sich in der Wirklichkeit meistens nicht so verhält. Ich brauche scheinbar eine künstlich geordnete Scheinwelt, um mich wohlzufühlen. Die Frage ist, ob es unbedingt so sein müsste. Wenn ich mich nicht zu einem gewissen Souveränitätsgefühl verpflichtet fühlte (im Grunde nur, weil noch größere Vollkoffer in meiner Umgebung es zu haben scheinen und ich nicht dümmer als sie erscheinen will) müsste mich das realistische Gefühl, von undurchschaubaren Geflechten umgeben zu sein, nicht so stören.

Erscheinungen, die mir unangenehm sind, rechne ich gern zur bösen Seite. Eh normal, oder? Aber auf die Dauer werde ich dann meine Meinung aus den Abfallprodukten meiner Faulheit gestaltet haben.

Besonders weg müssen Erscheinungen, die mir unangenehm sind und gegen die ich ohnmächtig bin.

Zoom auf die Ohnmacht.

Es ist durchaus nicht verkehrt, meine ich, gegen gefühlte Ohnmacht diskursiv vorzugehen. Der Feminismus hat hier einige für alle Geschlechter brauchbare Tricks entwickelt. Man braucht zum Beispiel gar keine Meinung über Islam oder Frauen oder Russen im Allgemeinen – das festzustellen ist ein Sprechakt, der eine Diskursblase platzen lassen kann, und wenn das nicht Macht ist, was sonst. Und man kann da sehr viel umstoßen und aufkehren. Bei immateriellen Diskursen, wo man keinen Krach hört, läuft aber bald der Streit darüber, ob jetzt die Idee überhaupt umgestoßen ist oder nicht. In diesem Fall kann man nur mit Taten antworten, die beweisen müssen, dass man den ganzen Diskurs nicht anerkennt. Ignorieren, knutschen, weggehen – es kann ein langwieriger Stellungskrieg werden. Bei Gesprächen mit leicht ideologischen oder romantischen (das mischte sich) Muslimen hatte ich zum Beispiel oft umgekehrt die Schwierigkeit, dass sie mir bei aufkommenden feministischen Ansichten das Wort abschnitten, um kitschige Gedichte zu rezitieren. Dieser Taktik muss man mit ebenbürtiger Wendigkeit begegnen, ich empfehle Das Buch der fünf Ringe von Miyamoto Musashi, das neben verschiedenen Arten von Gewalt auch viele gewaltlose Umgangsformen charakterisiert.

Schwierig bleibt das Lesen von Meinungsartikeln. Sie scheinen eigentlich fast alle weniger von besoffenen Narzissten als von analen Krampfcharakteren als Ersatz für das Onanieren geschrieben zu sein. Aber auch mit anwesenden Menschen zu sprechen ist nicht einfach. Es herrscht eine so haarsträubende Wirrnis im Denken und Argumentieren, ein so kindisches Gemisch aus Imitation von Gediegenheit und Kompetenz, assoziativem Geraune, willkürlichen Gewichtungen, torkelnden Emphasen und Brusttönen sowie kolportierten Kürzeln für komplexe oder auch in Wirklichkeit ganz anders beschaffene Sachverhalte – man kann es eigentlich nur ansehen und in irgendeine schon vorbestimmte Richtung losjohlen oder, wie ich, böse werden auf das abstrakte Geplappere der Deutschen ganz im Allgemeinen.

Die Abstraktion ist schuld

Als Übersetzerin ins Englische, häufig von Kunstpressetexten, die zu den schlimmsten dieser Gattung gehören, ist mir aufgefallen, wie die Übersetzung zu Entscheidungen zwingt, die einen Text entscheidend verbessern. In seiner Relevanz, seinem kräftigen Bezug zur Welt. Insbesondere kann man im Englischen nicht so leicht Abstrakta als Subjekte setzen und das Passiv klingt furchtbar angestrengt; man muss viel näher am Konkreten bleiben, um halbwegs zurechnungsfähig zu klingen. „Die Verhohnepiepelung von Afrika“ müsste zum Beispiel auf Englisch mit einem Präsenspartizip wiedergegeben werden als „Making fun of Africa“ – und oft deutet sich hier schon dringender die Frage an, wer das eigentlich tut. Das heißt, es ist nicht ganz so leicht, in Artikeln einem abstrakten Prinzip die Schuld zuzuschieben, wie im Deutschen.

Das ist an sich kein großes Problem, man erfindet Institutionen mit Abkürzungen bzw. verwendet englische Ironie und Zurückhaltung in den Verben, um zu deutliche Aussagen zu vermeiden. Meistens weiß man ja wirklich nicht, wer Schuld ist, oder der ist über Umwege an der Finanzierung der Zeitung beteiligt.

Während umgekehrt die Beschuldigung von Abstrakta ja offensichtlich nur Schaufeuer sind, um die Blicke des Pöbels auf falsche Fährten zu bringen oder ein Problem politisierbar zu machen, ohne gefährliche Schritte zu einer Lösung zu setzen, die niemand will.

Die Abstrakta sind die Scharniere oder besser Blackboxes, die zwischen, sozusagen, den Generälen und der Infanterie geschaltet sind, um die Interessenslagen in moralisch-idealistische Kategorien zu verschlüsseln. Die eigentlichen Massen müssen unbedingt an diese Mythen glauben, insbesondere an Notwendigkeit und an Heldentum, da sie in Wirklichkeit gar kein Interesse haben können, an so breit abgestumpften Fronten zu kämpfen, da beim Kampf einfach alles zerstört wird, vor allem sie selbst. Die Sprachen aller Länder, die jemals ein Heer und eine Regierung hatten, speichern also unter anderem eine Rhetorik, mit der dumme und auch irgendwie intelligente Leute von der Notwendigkeit von Maßnahmen überzeugt werden sollen, die ihnen selbst und vielem, was sie lieben, schaden. Hetze, Aufwiegelei, wer nicht für mich ist, ist gegen mich – unsere ganze Literatur ist voll davon, teils aufrichtigsten Herzens. (Wogegen das Singen von Weihnachtsliedern einfach nur Terror und sinnlose Gewalt ist.)

((Interessanterweise stammen diese idealistischen Abstrakta ja gerade von einer schönen Blüte der deutschen Fakultät zur Selbstvergessenheit, der Griechenschwärmerei im Klassizismus, die sich ein paar Jahrhunderte lang vorbereitete mit Störungen durch die Religions- und Bauernkriege. Die Abstrakta wurden gebraucht, um sich international kulturell zu verständigen, und das ganze hat die Atmosphäre ziemlich aufgehellt und war notwendig für die Entwicklung von Wissenschaft und Technik. Im Englischen ist es vielleicht Shakespeare zu verdanken, in neuerer Zeit aber auch einigen Amerikanern wie William James, Laura Riding, Ezra Pound, Edna St Vincent Millay, Langston Hughes, dass die Sprache immer wieder sozusagen auf den Boden der Wirklichkeit geholt wird, indem mit dem Blick des bürgerbildungsfernen Gewitzten (eines Idealtypus des Amerikaners schlechthin, von daher sind’s auch faktisch hochgebildete Leute) mit dem des belesenen Literaturfreaks zusammengefügt wird, dass ein Korrektiv gegen zu große Abgehobenheit in der Stilistik zu finden ist, ohne im Geringsten das Niveau an Feinsinn zu senken. Im Deutschen fallen mir weniger ein, deren Humor sowohl der ärgsten Ästhetin als auch dem Blick eines Menschen standhält, dessen Psyche nicht durch die Mangel der bürgerlichen Bildung gejagt wurde: Grimmelshausen, Wezel, Heinse, Büchner, Brecht, es möge ergänzt werden. Ich will damit die Hypothese wagen, dass im Moment die deutsche Sprache mehr ungestochene Abstraktionsblasen beinhaltet als die Englische. Was die Mythen anbelangt, das ist eine andere Geschichte – da sind sie ebenbürtig, scheint mir, wenn ich die englisch- und deutschsprachigen Finanzblätter vergleiche.))

Es macht jedenfalls keinen Sinn, am Mysterium festzuhalten, dass die Podagras blöd sind und die Nicht-Podagras nicht, aus unerklärlichen, nicht argumentierbaren Gründen. Die Podagras sind die Islamisten der Zeitungsmoralisten, die Zeitungsmoralisten sind die Podagras der Lyriker, die Lyriker die Zeitungsmoralisten der Islamisten, und so weiter. Man muss irgendwie so sprechen, dass sich die Gruppen auflösen. Durchsichtig sprechen, kristallin, mit Absicht widersprechbar, beurteilbar, konkret. Das ist eigentlich die Kunst eines guten, „geniusbegabten“, ciceronischen Stils. (Ich schreibe eher aus der Position einer Sehnsucht danach als eines Könnens, muss ich noch einmal dazusagen. Es ist ja schwer, im Geschrei der Phrasen den Kopf zu bewahren, alle Emphasen schmiegen sich der Hand an, wollen verwendet werden…)

Es ist auch eine gute Tradition der Linguae francae, keines Menschen Muttersprache, eine im besten Fall über die uns viszeral zur Sprache treibenden Ängste und Eitelkeiten erhabene Wahrnehmung zu befördern. Die ist nicht von selbst da! Das heißt, die Abstraktion kann sowohl obskurantierend als auch schlicht hilfreich sein. Es kommt darauf an, wie man sie verwendet. Also auf den Stil.

Das Aufhetzende der Sprache der Islamisten und der Europoschwurbelisten ist ja der ungelenke Versuch einer Art Pas-de-deux der geistigen Selbstverstümmler, und nun schunkeln die besorgten Antipodagristen als etwas schüchternerer Chor mit auf der Suche nach dem dritten Gegenteil. Aber die Dummheit, das Hinken der Argumentationen aller Seiten bietet keine Substanz zum Angriff. Der Inhalt ist nicht zu fassen, nicht alle Beteiligten sind direkt dumm, und alle Seiten verwenden hoch bewertete abstrakte Begriffe. Etwas, was mich schon ewig an Deutschland bzw. Europa, aber auch an allen Religionen nervt, die verlogene Höherstellung von Moral über Ästhetik (die doch eigentlich gar nicht in Konkurrenz stehen), geht so nicht mehr weiter, ist als Scheindiskurs nun endgültig am Ende seiner Funktionstüchtigkeit angelangt, ausgelaugt, greift nicht mehr, dreht durch.