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Meine Ohrwürmer (5): e““

 

Unser Autor hat einen neuen Ohrwurm. Es ist ein Tinnitus mit kryptischer Botschaft: Der Krieg in der Ukraine ist lauter als alle Lieder.

Beschreibung: Streng genommen handelt es sich um keinen Ohrwurm, sondern eher um ein Insekt. Es nistet in meinem linken Mittelohr und lässt in unvorhersehbaren Momenten ein hohes, glänzendes Sirren ertönen. Vielleicht versucht es zu singen, vielleicht zu fliegen, vielleicht reibt es auch einfach die Kanten seiner Vorderflügel gegeneinander wie eine Grille. Wenn ich für einige Sekunden mit dem Zeigefinger das betroffene Ohr verstopfe, verstummt es und schläft auf unbestimmte Zeit wieder ein.

Vorkommen: Unregelmäßig. Zum letzten Mal gestern Nacht, 4.33 Uhr.

Bedeutung: Eigentlich gaben sich in letzter Zeit in meinem Mittelohr eine Reihe angenehm verstrahlter, psychedelischer Rock-Ohrwürmer die Klinke in die Hand; vor allem No One Knows von den Queens of the Stone Age sowie Happy Idiot von TV On The Radio verdienen hier lobende Erwähnung. Aber als ich gestern Nacht oder besser gesagt heute Morgen längere Zeit wach lag und dem munteren musikalischen Treiben lauschte, wurde diese Playlist jäh von besagtem Pfeifton unterbrochen. Wie im Finale von Bedřich Smetanas Streichquartett Nr. 1 ertönte plötzlich ein nervenzermürbendes viergestrichenes e. Naturwissenschaftlich geneigte Geister würden wahrscheinlich von einem Tinnitus sprechen.

Nachdem ich den Ohrkäfer durch sanften Druck und Sauerstoffentzug endlich zum Schweigen gebracht hatte, konnte ich nicht mehr richtig einschlafen. Warum hatte sich das Tierchen mit solchem Nachdruck zu Wort gemeldet, dass es alle Würmer in seiner Umgebung sofort verdrängte, verscheuchte, übertönte? Was wollte es mir sagen, wovor warnen? Erst als die matte Februardämmerung einsetzte, dämmerte es auch mir. Das Wort Tinnitus heißt soviel wie Klingeln. Ich weiß nicht, ob diese Herleitung etymologisch korrekt ist, aber im Halbschlaf schien mir mit einem Mal mondenklar zu sein, dass das lateinische tinnitus mit dem englischen Wort tin verwandt sein muss, das auf Deutsch Zinn bedeutet. Und mit Zinn verbinde ich im Geiste die kleinen Soldatenfigürchen, mit denen wir als Kinder früher manchmal spielten.

Zugegebenermaßen: eine lange, verhedderte Assoziationskette. Aber als ich von meinem Wecker mit zinnglöckchenhellem Geläut aus halbgaren Gedanken gerissen wurde, begriff ich, dass mein Ohrkäfer etwas mit dem Konflikt in der Ukraine zu tun hatte − und dass das e““, obwohl nur ein einziger, langgezogener Ton, ausnehmend vieles bedeuten konnte: die Kämpfer und Zivilisten, die in der Ostukraine von höherer Hand umhergeschoben werden wie Zinnfiguren. Das Heulen der Raketen über den Dörfern und Städten. Das Säbelrasseln der Amerikaner. Nicht zuletzt das Wortgeklingel der Diplomaten, die von neuen militärischen Eskalationsstufen sprechen, als handelte es sich um Preissteigerungen. Inzwischen ist mein Tinnitus, wie gesagt, verstummt. Aber wer ein solches Insekt sein eigen nennt, der weiß, dass es nicht so schnell Frieden gibt.