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Die Freiheit ist dem Menschen zumutbar

 

Den Bürger entmündigen zu wollen, ehe er Schaden anrichtet, ist voraufklärerisch und antidemokratisch. Eine Antwort auf Ann Cottens Schelte des Liberalismus

© AFP/Getty Images/Montage: ZEIT ONLINE
© AFP/Getty Images/Montage: ZEIT ONLINE

Klar, den Liberalismus muss man nicht mögen. Man muss sich nicht einmal mit ihm beschäftigen. Wenn man allerdings öffentlich gegen ihn zu Felde zieht, dann sollte man sich nicht allein auf Ressentiments verlassen. Anders gesagt: Die Freiheit ist dem Menschen zumutbar – mit Wasser können wir dann immer noch kochen. Ann Cotten verspürt ein Unbehagen ob einer Welt, in der die Entscheidungsvielfalt im Alltäglichen nicht mehr befreit, sondern überfordert, ambivalente Verhaltensweisen aus dem zugrundeliegenden Menschenbild herausretuschiert wurden und die Gerechtigkeit nicht immer zur Stelle ist, wenn man sie braucht. Als teils dafür verantwortliche, teils davon profitierende Geisteshaltung sieht sie den Liberalismus. Nun ja, welchen eigentlich genau?

In ihrem Beitrag rennt Ann Cotten gegen ein Liberalismusbild an, das ein Potpourri teils aus dem Neoliberalismus einer Margaret Thatcher und der Chicago Boys, teils aus einem Liberalismus des 18. Jahrhunderts, teils aus einem fiktionalen Wild-West-Liberalismus ist, der gleich ganz auf staatliche Rahmenrichtlinien verzichtet. Zuordnen kann sie das alles leider nicht. Das ist etwa so überzeugend, als werfe man den Sozialdemokraten einen Turbo-Revisionismus im Erfurter Programm von 1891 vor, wenn man eigentlich Gerhard Schröders Agenda 2010 kritisieren will. Irgendwo, weit entfernt in Raum und Zeit, gibt es da einen Zusammenhang, aber dort ist auch alles mit allem verbunden. Auf der Suche nach dem Sinn, Freiheit und Scientology in einen Topf zu werfen, gebe ich schließlich auf. Steile Thesen klingen zwar oft gut, aber eine Steilheit, die 90 Grad übersteigt, tendiert dazu, wieder flach zu werden.

Im US-amerikanischen Gründungsmythos findet Cotten jedenfalls nicht hinlänglich berücksichtigt, dass sie bereits bei ihrer Kleiderwahl und beim Satzbau daneben liegen kann. Das ist zwar problematisch, noch problematischer aber ist es, wenn man in einem politischen Pamphlet die Ebenen völlig vermischt und zum Staatsakt erklärt, was private Überforderung ist. Den Wunsch, Entscheidungen abgenommen zu bekommen, kennt wohl jeder, es ist eine im Grunde regressive Sehnsucht, wieder in die Unmündigkeit, ja vielleicht Unschuld, um nicht zu sagen ins Paradies zurückzukehren. Aus dem Paradies aber sind wir vertrieben worden und damit setzte der freie Wille des Menschen ein. Wer sich entscheiden kann, kann sich eben auch falsch entscheiden. Dieses Dilemma ist ungefähr so alt wie die Menschheitsgeschichte.

Natürlich fehlen wir, wir hadern und zögern, wir verwickeln uns in widersinnige Handlungen, wir sind ambivalent und das nicht nur in einer, sondern in vielerlei Hinsicht. Selbst die Wirtschaftswissenschaften gehen lange schon nicht mehr von durchgängig rational agierenden Marktteilnehmern aus und an Mythen zu glauben, ob nun an griechische oder US-amerikanische, empfiehlt der Liberalismus nicht. Er schlägt auch nicht, wie Cotten meint, die perfekte Welt vor. Ganz im Gegenteil hat etwa der in liberaler Tradition stehende Karl Popper vor dem „Himmel auf Erden“ gewarnt, womit er die Ideale anstrebende totalitäre Gesellschaft meinte, und stattdessen die offene Gesellschaft vorgeschlagen, die weniger bequem, geschweige denn perfekt, vielmehr einer ständigen Kritik, ja der Zumutung, kritisch sein zu müssen, unterworfen ist.

Was Cotten fordert, ist das Gegenteil einer politischen Gemeinschaft zur republikanischen Selbstregierung, und somit wird sie in der Tat mit dem Liberalismus nicht glücklich werden können, denn der nimmt Menschen in die Verantwortung zur aktiven Teilhabe an der politischen Situation. „Die Politik ist dazu da, unbeliebte Maßnahmen, deren Durchsetzung langfristig für ein angenehmes Zusammenleben wichtig ist, zu erzwingen“, schreibt Cotten, und etwas später: „Gesetze sind notwendig, um diese Notwendigkeiten unabhängig zu machen von den Entscheidungen all der kleinen Entscheider da draußen.“

Den Bürger als kleinen Entscheider zu degradieren, sogar entmündigen zu wollen, ehe er Schaden anrichtet, ist nicht nur respektlos, sondern voraufklärerisch und in der Tendenz antidemokratisch. Vor dieser Form des Despotismus hatte schon Alexis de Tocqueville vor knapp zweihundert Jahren gewarnt. Der Despot „bittet sie [die Bürger] nicht um Unterstützung in der Staatsführung; es genügt ihm, wenn sie nicht danach trachten, selbst den Staat zu leiten“, bezeichnet „diejenigen als gute Staatsbürger, die sich kleinlich auf sich selbst beschränken“ und „macht aus ihrer Gleichgültigkeit eine Art von Staatstugend“.

Hält Cotten also tatsächlich Zwang und bürgerliche Passivität für bessere politische Mittel als Partizipation und die Kraft der überzeugenden Argumentation? Nun könnte man durchaus darüber streiten, ob Zwang oder Hegemonie, mag sie noch so deliberativ sein, das bedenklichere Element in den uns umgebenden Machtstrukturen darstellt; dafür aber müsste Cotten erst mal die intellektuelle Wirrnis einer Verschwörungstheoretikerin hinter sich lassen. Unsere Gesellschaft ist immerhin liberal genug, jedem die Freiheit zu lassen, in eines der vielen Länder auszuwandern, in denen Zwang und Bevormundung herrschen. Es geht sogar noch einfacher: Man kann sich auch hierzulande einen Vormund bestellen und beim Satzbau hilft manchmal schon ein Lektor.

„Jeder erwachsene Mensch sollte in der Lage sein, ohne Furcht und Vorurteil so viele Entscheidungen über so viele Aspekte seines Lebens zu fällen, wie es mit der gleichen Freiheit eines jeden anderen Menschen vereinbar ist“, schreibt die Philosophin Judith Shklar, ein Gedanke, den man schon bei Montesquieu und John Stuart Mill findet. Cotten hatte in ihrer Wutrede angemerkt, dass diese Form von „entfesseltem Selbstvertrauen“ nichts für „Pessimisten und Menschenhasser“ sei. Nun ist für Menschenhasser grundsätzlich das Zusammenleben mit anderen Menschen nichts Erstrebenswertes. Pessimisten hingegen können dieses Selbstvertrauen allenfalls dann als „entfesselt“ wahrnehmen, wenn sie den Satz verkürzt aufgreifen, lediglich die Freiheit des Einzelnen sehen und damit den Sinn ziemlich auf den Kopf stellen. Ja, dann ist der Liberalismus ganz schön böse und das, was wir vielfach an Ungerechtigkeiten beobachten, kann sich durchaus mit diesem Teil des Satzes decken. Die zwei wesentlichen Aspekte aber, der Respekt vor der Freiheit des anderen und der Verzicht auf Vorurteile, macht überhaupt erst aus Freiwilderei Freiheit.

Man muss eine neoliberale Hegemonie, sofern es sie denn gibt, weder schützen noch stützen. Nur scheint mir das, was derzeit global oder auch national herrscht, oft eher die Grundprinzipien des Liberalismus aus den Augen verloren zu haben, als ihnen zu sehr zu entsprechen. Beispiel Haftung. Beispiel Flüchtlingspolitik. Beispiel Produktionsverfahren. Und viele weitere. „[D]ass jeder an einer grundlegenden Störung leidet, der sich nicht darum schert, ob dasjenige, was ihm Genuss bereitet, einem anderen Menschen Schmerz zuführt“, stellt Shklar, Isaiah Berlin anzitierend, fest und bringt damit jene, die Rechte des anderen ignorierende Lebensweise, auf den Punkt, gegen die sich der Liberalismus in seiner aller basalsten Form wendet. Vor einer Welt, in der diese Störung unwidersprochen die Oberhand gewinnt, vor Menschen, die nach diesem Muster leben und handeln, kann man nicht entschieden genug warnen.