Gestern wurden im Karriere-Teil von Spiegel Online eine Reihe von prominenten Wirtschaftslenkern bewundernd kurzporträtiert, die erzählen, wie wahnsinnig früh sie aufstehen und was sie dann alles erledigen. Nur mich hat man da natürlich wieder vergessen.
Einen Wecker braucht Tilman Rammstedt nicht. Pünktlich um vier weckt ihn täglich eine Panikattacke. „Der frühe Morgen ist für mich die ideale Zeit, um alles sehr, sehr schlimm zu finden“, hat Rammstedt über sich herausgefunden. Bis halb fünf erledigt er die dringendsten Aufgaben des Tages (Verzweifeln, Seufzen, Haareraufen, Wimmern) direkt noch im Bett. „Selbsthass im Pyjama? Ja, das geht gut“, lacht der sympathische Managertyp.
Um halb fünf folgt Frühsport, der darin besteht, hektisch nach den Joggingschuhen zu suchen, bis ihm wieder einfällt, dass er keine besitzt. „Ein schlechtes Gedächtnis ist das Wichtigste in meinem Beruf“, sagt er schließlich häufig. Sehr häufig. Auffallend häufig.
Auch Familienleben ist fester Bestandteil des Morgenprogramms. Rammstedt weckt sie um kurz vor fünf mit einem eingespielten Ritual: sich beim Versuch, leise in die Küche zu schleichen, den kleinen Zeh am Esstisch zu stoßen und laut schreiend und fluchend durch die Wohnung zu hüpfen. „Traditionen sind traditionell wichtig. Im Privatleben wie im Beruf“, betont der deutlich zu jung gebliebene 39-Jährige. „Weihnachten zum Beispiel. Aber auch andere Tage. Dienstage. Oder Saarbrücken.“
Zeit mit seiner Familie ist ihm wichtig. Seiner Familie ist Zeit mit ihm nicht ganz so wichtig. Also frühstückt er allein: nur lauwarmes Wasser (Rammstedt hat eine ausgeprägte Affinität zur ayurvedischen Ernährung, seitdem er gehört hat, dass es wichtig sei, eine Affinität zu haben, auch wenn er nicht genau weiß, was Ayurveda ist, oder eine Affinität, oder Ernährung, oder Rammstedt), das er vor dem Trinken noch erhitzt und durch einen Filter mit gemahlenen Kaffeebohnen gießt. „Das gibt dem Ganzen das gewisse Etwas“, schmunzelt der gelernte Hobbykoch. Dazu saisonales Obst, was für den Querdenker meist Nutella-Brot bedeutet. Beim Frühstück studiert er die Zeitung. Allerdings die Zeitung vom 14. Oktober 2011, dem letzten Tag seines Probeabonnements der Süddeutschen Zeitung. Er liest sie dennoch täglich. Nicht umsonst hat er sich eigenhändig das chinesische Symbol für Beharrlichkeit auf den Oberarm tätowiert, oder zumindest damit angefangen.
Ideal ist das frühe Aufstehen für Videokonferenzen mit Südostasien. Leider kennt Tilman Rammstedt niemanden in Südostasien. Er kannte mal jemanden in Würzburg, aber auch nicht besonders gut. Doch weil, wie er sagt, „jedes Hindernis auch eine Chance darstellt, wenn auch ziemlich amateurhaft“, ruft er stattdessen seine Bekannten in Berlin an, um die zu fragen, ob sie vielleicht eine Videokonferenz mit ihm machen wollen. Sie wollen lieber nicht.
Ab halb sechs arbeitet Rammstedt seine Mails ab. Hauptsächlich sind das Entschuldigungsschreiben an die Bekannten, die er wegen der Videokonferenz geweckt hat. Er benutzt dazu sein „iPad“, wie er sein gebraucht gekauftes Medion-Laptop liebevoll nennt. Überhaupt ist ihm die Technikfeindlichkeit mancher seiner Manager-Kollegen fremd. „Ohne die neuen Technologien hätten wir immer noch die alten Technologien“, salbadert der gebürtige Wahlberliner. Auch die sozialen Netzwerke wollen gepflegt werden. „An Social Media kommt man heutzutage nicht drumherum“, weiß Rammstedt. „Oder halt nur, indem man es nicht macht.“ Er ist leidenschaftlicher Twitterer, vielleicht ein wenig zu leidenschaftlich, weil ihn seine Tweets immer zu sehr rühren, um sie abzuschicken. („Das sind doch alles meine Kinder.“) Über seine Facebook-Freundeszahl will er keine genauen Angaben machen, aber sie bewege sich „im oberen zweistelligen Bereich.“ Auch hier zählt für ihn nur Erfolg, Erfolg, Erfolg: Bis Ende 2015 will er Facebook zu Ende gespielt haben.
Trotz aller Technisierung bleibt morgens aber auch Zeit für Spiritualität. Rammstedt glaubt zwar nicht „an einen Gott im eigentlichen Sinne“, aber irgendetwas müsse da oben doch sein, also noch über den Wolken. Etwas, das ihn lenkt, das ihm Kraft gibt, etwas, bei dem er sich nach seinem Tod über den ganzen Scheiß beschweren kann. Eine halbe Stunde ist deshalb morgens für die Meditation reserviert. „Einfach nur dasitzen und atmen und an nichts denken. Außer ans Atmen. Und ans Dasitzen. Und an die eingeschlafenen Füße. Und wie verdammt langweilig das ist. Und was man alles noch machen muss. Und was man letzte Woche besser nicht gesagt hätte. Und was man vor zwölf Jahren besser hätte sagen sollen. Und dass alles ab jetzt nur noch schlimmer und schlimmer wird. Und wie man sich wegen dieses beschissenen Atmens auf nichts richtig konzentrieren kann.“
Pünktlich um acht sitzt Rammstedt am Schreibtisch. Es ist ihm sehr wichtig, immer der erste bei der Arbeit zu sein, was nicht besonders schwer ist, weil er alleine arbeitet, sehr alleine.
„Ich habe im Laufe meiner Karriere gelernt, dass ich viel mehr erreiche, wenn ich früh aufstehe“, sagt Rammstedt. Wenn andere sich noch einmal umdrehen, sei er zum Beispiel schon unfassbar müde.
Tilman Rammstedt war bis Ende 2013 CEO bei Tilman Rammstedt und ist seitdem dort als externer Berater tätig. Außerdem ist er amtierender deutscher Vizemeister im Nickerchenmachen.