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Das Märchen vom Bulimie-Teenager

 

Fantasie ist Lüge! Das Volk will echtes Fleisch und Blut. Unser Kolumnist verstrickt sich in Diskussionen über Kunst und wird fast geschlagen. Das Fax der Woche

Der Herr Aristokrat ist ein Schaubild der Verkniffenheit, ein geschwollener Mann. Er steht im Zimmer, Werkstattbesuch beim malenden Schreiber, beim schreibenden Maler, bei mir. Kaffee oder Tee oder Wasser lehnt er ab. Ich stelle Blatt im Passepartout auf die Staffelei: Frau in Fetzen, sie betrachtet den Betrachter, Maskengesicht, Wind fährt ihr in die Ärmel, bauscht sie auf. Der Herr ist interessiert, ich soll ihm die Geschichte zum Bild erzählen. Frei erfunden, frei gemalt, sage ich, kein Modell aus dem wirklichen Leben, der Urheber bin ich…

Er stutzt: In seiner Welt ist kein Platz für Hirngespinste und Farbeffekte ohne Grund, es will ihm scheinen, als wollte ich ihn veräppeln. Rumpf, Kopf, Arme, Beine, alles vorhanden. Aber die Seele, die von mir kostümierte, die Seele der Frau in Acryl, diese Seele ist nicht Luft noch Leere. Ich soll ihm wenigstens den Vornamen der Dame verraten. Ich beteuere, dass ich sie nicht kenne. Der Herr Aristokrat möchte mit einem Lügner niederen Standes nichts zu schaffen haben, er rauscht davon.

1401_001cAm Nachmittag Besuch der vermögenden Gattin im Kaschmirmantel, sie schaut auf die Bilder der versehrten Frauen, sie sagt: Ein bisschen schief hat Gott lieb. Nach fünf Minuten steht es fest: Sie ist klüger als ich, sie braucht keine Aufklärung, sie versteht, bitte kein Larifari. Ein Bild möchte sie doch nicht kaufen, sie hat sich mehr Wildheit und Wagnis versprochen. Alles Gute für die Zukunft, vor allem mehr Mut, strengen Sie sich an, danke. Habe also Bilder vorgezeigt, die man für untauglich befand. Stelle zwanzig bemalte Papiere im Passepartout hin, starre und befinde: Müll, Mist, Plunder. Einziger Trost: Kein Lehrer würde so was an die Wand hängen.

Telefoniere mit einer Veranstalterin, die ihre Schwester in einem Bild auf der Internetseite meines Galeristen erkannt hat. Nein, sage ich, Übereinstimmung ist reiner Zufall. Sie glaubt mir kein Wort, kühler Abschied. Was will das Volk? Das Volk will echtes Fleisch und Blut. Fantasie ist Lüge, ist die Peinlichkeit des Dilettanten, ist die Blässe des Amateurs. Das Volk, das kaufkräftige, besteht aus einem Zahnarzt, einem Anwalt, vier Männern aus dem mittleren Management, und 16 adligen Damen. Dies Volk möchte nicht verscheißert werden. Was ist zulässig? Abstrakt geht, Landschaft sowieso, Geometrie ganz toll.

Treffe Kumpel, spreche darüber, er sagt: Jedes Bild zum Aufhängen und jedes aufgehängte Bild ist lächerlich… Die Worte gehen mir nach, ich grübele. Wie anders machen? Verräum erst einmal die Schnuckelbildchen in die hinterste Ecke. Stoße auf alte Arbeiten, wildes Zeugs, illustrierte Hässlichkeit, das kann es auch nicht sein. Stoße auf Leinwände, die ich mit Reihen echter Zähne beklebte, damals, als ich glaubte, Kunst sei Schock der Empfindsamen. Finde Bilder, die aussehen wie schorfige Wunden. Porträts von Generälen, vernarbt, von Siegen zerstört. Bild der Frau, ein Brotmesser in jeder Hand, Gesicht mit Lippenstift bemalt, eine Irre in der Morgenstunde. Müll, Mist, Plunder. Laufe vom vollgestellten Atelierzimmer in das Schreib- und Malzimmer. Schaue auf die letzten neuen Bilder: Nicht genug.

Punkt neun Uhr nachts gehen die Nachtspeicherheizungen an. Es wird wärmer, ich bin erhitzt, ich erkenne: Abbruch ist die beste Lösung. Eine knappe Woche später starrt ein Kunstkäufer auf das Bild des Mädchens mit schrägem Kopf, im Hintergrund Schlingen und Knäuel. Er bittet um Angaben zur Person. Ich erzähle das Märchen vom Bulimie-Teenager in der Nachbarschaft. Stelzenbeine, hohle Wangen, zerrissener Herbstmantel, Halluzinationen. Ich sage: Stellen Sie sich vor, dieses Mädchen hätte mir kurz vor seinem Hungertod Modell gestanden… Der Mann sagt: Sie haben es verdorben. Ich bin versucht, Sie zu schlagen… Legenden zählen nicht, es zählt der Strich auf dem Papier, ich rühre Farben an, ich male zwei Stunden, linkshändig, ich streiche und schmiere, es misslingt. Dann setze ich mich an die Schreibmaschine.

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