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Herrchen im Himmel

 

Das Leben wird immer komplizierter. Kein Grund zu verzweifeln! Unser Autor weiß, wie man den Überblick behält: Er erklärt die Welt seinem Hund. Heute – die Religion.

© Daniel Berehulak/Getty Images ()
© Daniel Berehulak/Getty Images ()

Adele, komm mal her! Mach Sitz! Und hör gut zu, ich muss dir was erklären. Also, pass auf, Adele! Vor langer Zeit, als es noch mehr Wölfe als Hunde gab, da glaubten alle Menschen auf der Welt, es gäbe für sie ein, nun sagen wir: Herrchen. Allerdings nicht, wie bei euch Hunden, ein Herrchen für jeden, sondern eines für alle. Und noch etwas war anders an diesem Menschen-Herrchen. Es lebte nämlich nicht hier auf der Erde, schnauzte einen nicht an, zerrte einen nicht an der Leine und gab, leider, auch kein Futter aus der Hand. Die Menschen dachten sich ihr Herrchen vielmehr irgendwo anders, weiter oben, von wo es allerdings jeden Menschen aufmerksam beobachtete. Und wenn der Mensch gegen die Regeln des Herrchens verstieß, musste er mit allerlei Strafen rechnen, die gewissermaßen indirekt vollstreckt wurden, zum Beispiel in Form von Krankheit und Armut oder Quälereien nach dem Tod.

Nun weißt du als Hund ja aus eigener Erfahrung, wie schwierig es ist, schon die Wünsche und den Willen eines real anwesenden Herrchens richtig zu deuten. Um wie viel schwieriger ist es da, Wunsch und Wille eines abwesenden, aber gewissermaßen universellen und omnipotenten Herrchens dauernd richtig zu treffen.

Adele, der geduldig lauschende Labrador von Burkhard Spinnen
Adele, der geduldig lauschende Labrador von Burkhard Spinnen

Kein Wunder also, dass sich die Menschen immer mächtig darüber gestritten haben, was das Herrchen nun wirklich von ihnen wollte und wie sie es ihm recht machen sollten. Mit der Zeit setzten sie daher Fachleute für diese Fragen ein, die schrieben Abhandlungen über das herrchengefällige Leben und stritten sich dann untereinander wie die Kesselflicker. Das Ganze nennt man Religion.

So weit, so gut. Besonders schlimm aber wurde es zu der Zeit, da die Menschen anfingen, weite Reisen zu machen. Da begegneten sie nämlich anderen Rudeln oder Rassen, und die Reisenden mussten zu ihrem Schrecken feststellen, dass diese anderen Leute an vollkommen andere Herrchen glaubten als sie selbst. Das hat die Reisenden sehr gekränkt! Um es vorsichtig zu formulieren. Da waren sie endlich mit sich und ihrem Herrchen im Reinen (oder dachten wenigstens, sie wären es), da erklärten ihnen diese fremden Leute, ihr Herrchen sei ein Popanz und bloß ausgedacht, während ihr eigenes Herrchen das einzig Wahre sei. Und wer es nicht anbete und sich seinen Regeln nicht unterwerfe, der sei des Todes. Du kannst dir vorstellen, Adele, dass das praktisch umgehend zu ganz heftigen Beißereien führte. Man nennt solche Beißereien Religionskriege.

Es wird aber noch komplizierter. Vor ein paar Hundert Jahren, als es schon mehr Hunde als Wölfe gab, da sind ganz hier in der Nähe die Menschen der Idee verfallen, dass es gar kein Herrchen hinter den Wolken gibt, sondern gewissermaßen jeder Mensch sein eigenes Herrchen ist. Wir bekommen unser Futter nicht geschenkt, so argumentierten sie, sondern wir müssen es uns mühsam verdienen. Und daher ist es recht und billig, dass wir uns auch unsere Gesetze selbst geben und auch nur uns selbst verantwortlich sind. Sie haben dann Fachleute für selbstgemachte Regeln benannt, die Fachleute haben Abhandlungen geschrieben und sich darüber gestritten wie die Kesselflicker. Man nennt das Ideologie. Und du wirst dich jetzt nicht wundern, Adele, wenn ich dir sage, dass es wegen der Ideologie noch schlimmere Beißereien gab als wegen der Religion.

Ich erkläre dir das alles übrigens so ausführlich, damit du verstehst, wie das Problem heute aussieht, da es fast keine Wölfe und fast nur noch Hunde gibt. Heute haben wir nämlich das Problem, dass dauernd Menschen mit universellem Herrchen auf Menschen ohne universelles Herrchen treffen, und zwar wegen der Globalisierung (die ich dir später erkläre). Jetzt passiert Folgendes. Die Menschen mit dem Herrchen verachten die ohne, weil sie, und zu Recht!, annehmen, dass die Menschen ohne Herrchen sie für blöd halten. So in der Art: „Was für ein Quatsch, sich ein Herrchen auszudenken, das irgendwo im Wolkenkuckucksheim sitzt, statt selbst zu denken und sein Leben in die Hand zu nehmen.“ Das macht die Menschen mit Herrchen so wütend, dass sie gelegentlich Bomben auf die ohne Herrchen werfen. Man nennt das fundamentalistischen Terror.

Umgekehrt ist es aber nicht besser, bloß noch schwieriger. Die Menschen ohne Herrchen halten zwar die mit Herrchen tatsächlich für blöd und beschränkt, gleichzeitig sind sie aber auch ein bisschen neidisch auf sie. Es ist nämlich verflucht anstrengend, dauernd ohne Herrchen zu leben. Ach, wem sage ich das, Adele! Stell dir vor, du müsstest dein ganzes Leben lang für alles alleine sorgen und dazu auch noch für alles ganz alleine die Verantwortung übernehmen. So ein Stress! Und stell dir vor, es gäbe auch die Couch nicht mehr, auf die du dich abends neben dein Herrchen legen kannst, damit er dir die Sorgen des Tages wegkrault, bis du in einen tiefen Schlaf fällst, in dem du ganz eins mit dir und der Welt und deinem Herrchen bist. Nun, und weil ihnen diese Couch doch irgendwie fehlt, auch wenn sie es nicht zugeben wollen, deshalb sind die Menschen ohne Herrchen auf die mit Herrchen schlecht zu sprechen. Bisweilen machen die ihnen sogar Angst. Und das nicht nur wegen der Bomben des fundamentalistischen Terrors, sondern weil die herrchenlosen Menschen so eine unangenehme Ahnung haben, dass ihnen ohne ein universelles Herrchen doch etwas Wichtiges im Leben fehlen könnte.

Verstanden, Adele? Gut! Dann machen wir jetzt unsere Runde. Und lauf nicht weg. Du weißt ja jetzt, was dir ohne Herrchen passiert.

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