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Oskar Matzerath ist eine ganze Epoche

 

Günter Grass hatte eine Meinungsmacht, die heute kein Intellektueller mehr für sich beanspruchen kann. Und es scheint auch nicht mehr erwünscht.

© AP Photo/Jens Meyer
© AP Photo/Jens Meyer

In den vergangenen Jahren hat man sich gern über Günter Grass lustig gemacht, sofern man ihn nicht gleich ignorierte. Da war dieser Gigant, der einmal Inbegriff der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur war, und mutete nun in der Flut der Häme, die nach seinem in der Süddeutschen Zeitung publizierten Gedicht Was gesagt werden muss über ihn herrollte, beinahe wie vom Alter geschrumpft und nicht mehr in unsere Zeit gehörend an. Zugegeben, seine letzten veröffentlichten Gedichte waren weder ästhetisch noch politisch auf der Höhe seines Werkes, der Wirbel um sie war aber eben deshalb wichtig, weil sie nicht bloß das Scheitern eines einzelnen Mannes zeigten, sondern das Scheitern eines engagierten Literaturverständnisses generell.

Die Annahme, Literatur könne in einer direkten Form politisch wirken und dringe tief in die Gesellschaft ein, die Idee, der Schriftsteller sei moralisches und intellektuelles Sprachrohr, anstatt als braves Zirkuspferd in der Arena zu traben, scheint ad acta gelegt – entweder mit einem Achselzucken oder mit der Vertröstung, dass politische Literatur heute anders und meist subtiler agiere, so subtil mitunter, dass man gar nicht mehr mitbekommt, dass sie politisch ist. Die Grenzen eines Fachdiskurses vermag sie nur noch in seltenen Fällen zu überschreiten, am Tag der Nobelpreisverleihung beispielsweise. Selbst einer Schriftstellerin wie Herta Müller, die dezidiert politisch ist, wird eher eine Meinungsspalte eingeräumt, als dass sie selbst das Blatt bestimmen könnte.

Natürlich lässt sich Grass‘ Rolle nicht jenseits seiner Zeit und außerhalb des Nachkriegsdeutschlands denken, in dem die Fassungslosigkeit angesichts eines unvorstellbaren Verbrechens und die immense Schuldfrage eine Lage schuf, der mit juristischen, philosophischen und politischen Antworten allein nicht beizukommen war. Literatur konnte hier etwas Notwendiges bewirken, nämlich die Sprachlosigkeit nicht zum Schweigen werden zu lassen, sondern ihr Ausdruck zu geben. Oskar Matzerath, der Held von Grass‘ erstem Roman Die Blechtrommel, brüllt diese Sprachlosigkeit mit einem gellenden Schrei heraus, der nicht nur Glas, sondern auch Überzeugungen und Bekenntnisse zerspringen lässt.

Die Grenzen dessen, was der engagierte Schriftsteller tun kann und darf, lotete Grass in den folgenden Jahren nicht nur mit literarischen Veröffentlichungen, sondern auch pragmatisch als politischer Richtungsweiser aus und schnallte sich statt der Blechtrommel eine Werbetrommel für die SPD um. Ein so entschiedenes Eintreten eines Intellektuellen für eine politische Partei ist heute nur noch schwer vorstellbar, nicht nur, weil sich die politische Situation Deutschlands gravierend gewandelt, sich der harsche Kontrast zweier Lebens- und Weltanschauungskonzepte aufgeweicht hat, wie sie Links und Rechts, SPD und CDU einst markierten.

Auch hat sich der Diskurs fragmentiert und in verschiedene Zuständigkeitsbereiche aufgeteilt. Hier die Politik, da die Kunst, sprechen Sie, wenn Sie aufgefordert werden und für den Rest gilt: Ruhe, setzen. Ein Weisungsmonopol, wie es Grass innehatte, kann heute kein Intellektueller mehr für sich beanspruchen und es scheint auch nicht mehr erwünscht. Die Frage ist, ob zu viel Stille irgendwann taub macht.

Seit Grass‘ Beichte, Mitglied der Waffen-SS gewesen zu sein, erscheint vielen sein Engagement in anderem Licht. In der Tat, es beruhte offensichtlich nicht bloß auf einem kollektiven, sondern auf einem sehr persönlichen Gefühl von Schuld und der Erzähler, dem wir so gerne dabei zuhörten, wie er das Unrecht anklagte, ist nicht zu jedem Zeitpunkt seines Lebens Widerstandskämpfer gewesen. Das ist unangenehm – für Grass, aber auch für uns, die wir darauf vertraut hatten, dass die Welt der Täter und die der Ankläger scharf voneinander getrennt ist, dass wir nie und nimmer derlei verwechselten und nicht so blauäugig sind wie Oskar Matzerath, der diese Eigenschaft immerhin schon im ersten Romansatz eingesteht. Wir haben uns für besser gehalten. Das war vermessen.

Man kann fordern, dass jemand, der seine eigene Verstrickung jahrzehntelang verschwiegen hat, sich nicht als Moralapostel aufführen darf. Ja, das kann man und der Patriarch, der so durchdringend gesprochen hat, das andere überhört wurden, ist auf diese Weise gestürzt worden. Durch seine Beichte hat Grass aber eben deshalb noch einmal so stark wie einst provoziert, weil er das Dilemma seiner Generation und unseres Umgangs mit ihr in seiner Unauflösbarkeit unterstrich, anstatt uns eine unbequeme Ambivalenz abzunehmen. Diese Ambivalenz gilt es auszuhalten, und zwar für jeden Einzelnen von uns, der allwissende Erzähler ist abgetreten. Oder vielmehr: Er ist auf Augenhöhe mit uns.

Als ich im vergangenen Jahr Günter Grass bei einem Werkstattwochenende in Lübeck traf, um mit ihm und anderen Autoren über entstehende Romane und Essays zu diskutieren, war ich beeindruckt davon, mit welch wacher Neugier er die Texte von uns las, wie sehr ihn die Literatur seiner Kollegen anging, wie begierig er die Diskussion verfolgte und sich selbst einbrachte, kritisierte und fragte, vorschlug und kommentierte und im Ausgleich wissen wollte, was wir von seinen Texten hielten.

Hier, zwischen schlichten Holzmöbeln und hanseatischem Giebelfachwerk, ging es mit Intensität, Ernst und Behutsamkeit um Literatur, wie ich es selten erlebt habe. Ich war mit einem Roman angereist, den ich verwerfen wollte, und fuhr mit einem Roman ab, den ich schreiben musste. Das war viel, aber es war nicht das Entscheidende. Die Literatur erhob sich wieder zu etwas, das auf all die schrille Aufgeregtheit, wie sie der heutige Literaturbetrieb produziert, verzichten konnte.

Wir brauchten nichts von Amazonrängen und Werbemaßnahmen zu wissen, weil wir selbstbewusst daran glaubten, dass die Sprache Wirkmacht genug ist. Hier machten die Wörter das Blatt. Auf Amazon steht Günter Grass seit gestern wieder an der Spitze, aber darauf kommt es nicht an. Ein Amazonrang ist nur eine Zahl, Oskar Matzerath ist eine Epoche.

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