Der Großvater unserer Autorin hat das grausame Verbrechen an den Armeniern überlebt. Erzählt hat er darüber kaum. Versuch einer Annäherung an das Unsagbare
Ein siebenjähriger Junge kommt von der Schule nach Hause. In der Stube riecht es nach Ofen und Weihrauch. Der Junge setzt sich ans Fenster und beobachtet die Gendarmen, die mit geraden Rücken und wichtigen Gesichtern durch die Straßen von Ordu reiten, Geld einsammeln und gar nicht merken, welche Fratzen auf ihren Rücken kleben.
Auf dem Platz vor dem Haus sammeln sich Leute, sie schreien, aber was sie schreien, versteht der Junge nicht. Irgendwann fliegt ein Stein. Dann noch einer. Der Junge erkennt den Schneider, auch er hat einen Stein in der Hand. Das Fenster zerbricht, und die Splitter der Scheibe liegen auf dem grauen Steinboden verteilt, grau glänzend, wie das eine Auge der Mutter, das die Kinder immer im Blick hat, auch jetzt. Das andere Auge erlosch beim Kochen durch heißes Öl. Trotzdem ist die Mutter schön mit ihrem runden Gesicht und den schweren, vollen Haaren. Der Junge kauert in einer Ecke, das Auge der Mutter ruht auf ihm.
Es brennt in Ordu, einem Ort an der östlichen Schwarzmeerküste. Ordu, das klingt wie das Innere einer Walnuss, wie Hufe auf Sand.
Später liegt der Junge im Bett, starrt ins Dunkel und denkt: Wenn jemand unser Küchenfenster kaputt macht, wenn der Vater nicht nach Hause kommt, wenn die Mutter im Haus herumgeistert, wenn die große Schwester so lange am Bett der kleinen Geschwister sitzt, dann ist das sehr unheimlich, dann werden sie seinen siebten Geburtstag in diesem Jahr vielleicht nicht so feiern, wie sie ihn immer gefeiert haben.
Der Junge ist vielleicht Hrant Poladjan, mein Großvater. Er hat es überlebt, das Grauen, das man heute als den Genozid an den Armeniern bezeichnet, ein kompakter Begriff, ein Politikum, verbucht als eine der vielen Hypotheken im moralischen Schuldengebirge der Menschheit im zwanzigsten Jahrhundert.
Mein Großvater ist gestorben, als ich zwei Jahre alt war, ich saß zu seinen Füßen, als sein Herz zu schlagen aufhörte. Alles, was ich über ihn weiß, hat mir mein Vater erzählt. Und alles, was mein Vater über ihn weiß, hat ihm seine Mutter Lilja erzählt. Mein Großvater hat wenig erzählt, und nichts über die Zeit in Ordu 1915.
Ich fange nochmal an.
Ich heiße Katerina Poladjan. Ich habe einen armenischen Namen. Ich kann kein Armenisch. Ich lausche den Worten und verstehe sie nicht. Ich höre nur das Raunen, das Rauschen. In Armenien konnte ich mich auf Russisch unterhalten. Ich bin hingefahren, ich wollte das Land sehen, dem ich meinen Namen verdanke.
An einem Samstagnachmittag im Herbst 2014 klopfe ich an die Scheibe der Pforte in der Bezirksverwaltung von Artaschat. Hier soll es noch Verwandte geben. Ein unrasierter Mann mit Zigarette im Mund öffnet ein kleines Fenster. Er betrachtet mich lange. „Ausländerin?“ Ich nicke. „Aus Deutschland.“ Ich erzähle ihm meine Geschichte, zeige ihm ein altes Foto, ein Gruppenbild in Schwarz/Weiß: Dreizehn ernste Gesichter blicken zum Fotografen, von dem sie zuvor kunstvoll arrangiert wurden. „Die Sache ist die“, sagt er, „ich kann dir nicht helfen“, aber direkt nebenan befindet sich das Fernsehstudio Ararat TV. Er führt mich hinüber, am Schreibtisch sitzt der Fernsehdirektor in Jeans und Jeanshemd, hinter ihm die Armenische Flagge und an der Wand gegenüber ein großer Fernseher. Es läuft der sowjetische Zeichentrickfilm Nu pogodi! (Pass bloß auf!) – genau wie vor zwanzig Jahren jagt der unglaublich lässige Wolf den gerissen kleinen Hasen. Der Pförtner aus der Bezirksverwaltung erzählt schnell meine Geschichte auf Armenisch, eine rundliche Dame bringt Kaffee und Kekse. Der Direktor raucht die dritte Zigarette, betrachtet das Foto und sagt dann: „Pass mal auf, wir filmen dich und das Foto. Wir produzieren hier die Sendung Wo bist du, mein Herz?, nächste Woche wird eine Folge ausgestrahlt, und einen Tag später hast du deine Verwandten gefunden!“ Er hebt den Hörer ab, um einen Kameramann aus dem Feierabend zurück zu telefonieren. Ich hebe abwehrend die Hände. Ich will nicht ins Fernsehen.
Im Bus zurück nach Jerewan lerne ich Lilith kennen. „Stell dir vor“, sagt sie zu mir, „du erzählst die Geschichte deines Großvaters, und jemand sagt dir, dass sie nicht wahr ist, dass du lügst“.
Ich fange nochmal an.
Sona konnte nicht schwimmen. Immer, wenn es Hrants Zeit erlaubte, übte der Siebenjährige mit der kleinen Schwester an einer Stelle, wo das Wasser ganz seicht war. Man konnte die einzelnen Sandkörnchen am Grund erkennen und die kleinen Fische. Sona war ein mutiges Mädchen, aber im Wasser kam sie mit ihren kleinen Armen und Beinen durcheinander. Hrant hielt sie am Bauch, und sie lag auf seinen Händen wie eine kleine, strampelnde Schildkröte. Manchmal kitzelte er sie mit seinem Finger in ihrem Bauchnabel, und sie wand sich vor Lachen.
„Fast jeder von uns kennt eine ähnliche Geschichte aus seiner Familie“, sagt Lilith. „Die letzten wenigen Überlebenden von 1915 werden bald tot sein. Was uns bleibt, sind Geschichten, die zu Ende sind und keinen Anfang finden.“
Als Hrants kleine Geschwister geholt wurden, nahmen sie auch Sona mit. Sie steckten die Kinder in Boote und fuhren sie hinaus auf das Meer, das die alten Griechen pontos axeinos nannten, das tiefe, dunkle Wasser. Als Hrant Jahre später davon erfuhr, dachte er: „Sona konnte nicht schwimmen, und ich habe nicht geschafft, es ihr rechtzeitig beizubringen. Wir haben zu viel gelacht und nicht genug geübt. Wahrscheinlich wäre sie auch ertrunken, wenn sie hätte schwimmen können. Aber vielleicht auch nicht. Es geschehen Wunder. Ich lebe, und das ist ein Wunder.“
Das Grauen ist jetzt hundert Jahre her. Und wiederholt sich doch jeden Tag.
Ich fange nochmal an.
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