Wie schreibt man eigentlich ein gutes Buch? Unser Autor hat die Schriftstellerin Verena Boos über Jahre begleitet – und plötzlich erschien ihr großartiges Debüt.
I
Im November 2014 gab ich für die Endrundenteilnehmer des Berliner Literaturwettbewerbs Open Mike einen Workshop mit dem Titel Thema und Stoffe – Worüber wollen wir schreiben?. Um die jungen Schriftsteller kennenzulernen, hatte ich ihnen zuvor eine E-Mail mit drei Fragen geschickt: „Wer bin ich? Was will ich? Und was ist mein verdammtes Problem?“ Letzteres zielte auf einen möglichen Grundkonflikt ab. Ich wollte herausfinden, was sie am stärksten beschäftigt, was sie aufreibt, um daraus mit ihnen zusammen ihr ganz persönliches Thema abzuleiten – eine Art literarische Gruppentherapie. Aber alle verstanden die Frage anders, und als wir uns in der Alten Post in Neukölln gegenübersaßen, erzählten sie von ihren Schreibproblemen, davon, nicht anfangen oder fertigwerden zu können.
Worüber sie, wenn sie schreiben, denn schreiben, wollte ich wissen.
Das wollten sie nicht sagen.
Wie, dachte ich, soll dann ein Gespräch zustande kommen?
Das ist dein Problem, dachte ich, das Gespräch schon mit mir selbst führend.
Um nicht sechzig Minuten in Gedanken mit mir zu sprechen, forderte ich sie auf, mir ihre Geschichte zu verkaufen. „Stellt euch vor“, sagte ich, „wir sind in Hollywood. Ich bin Produzent, ein berühmter Produzent natürlich, der berühmteste von allen, der mächtigste, und ihr seid Drehbuchautoren, kleine, unbekannte Drehbuchautoren, Anfänger, jung und naiv, gerade aus dem Mittleren Westen hergezogen. Irgendwie habt ihr es in mein Büro geschafft. Ihr habt zwei Minuten. Erzählt mir, woran ihr gerade arbeitet, überzeugt mich, warum ich euer Skript zu einem Film machen soll.“
Aber keiner war bereit mitzumachen.
Es waren vor allem zwei Schriftstellerinnen, die meine Idee total daneben fanden. Die eine, die sich am stärksten weigerte – Doris Anselm –, gewann zwei Tage später den Open Mike. Die andere – Verena Boos – sagte, sie müsse mir nichts beweisen, sie habe ihr Thema und ihren Stoff bereits gefunden: Vergessen und Erinnerung, Schuld und Sühne, die Verbrechen des Franco-Regimes, die Beteiligung der Deutschen am Spanischen Bürgerkrieg, spanische Soldaten in Wehrmachtsuniform, das Verdrängen der eigenen Verantwortung.
Und da stellte sich heraus, dass ihr erster Roman bereits fertig war und im Frühjahr bei Aufbau erscheinen würde: Blutorangen – der Familienroman einer Orangenhändlerdynastie, die Geschichte von drei Generationen, von den Dreißigerjahren bis in die Gegenwart.
II
Im Frühjahr 2015 bin ich bei ihrer Buchpremiere im jungen Literaturhaus Lettrétage am Mehringdamm im – wie es auf der Website heißt – „Kreativbezirk Berlin-Kreuzberg“. Als ich weiterlese und erfahre, dass man dort „neue und innovative Impulse für die Entwicklung der Literaturmetropole“ setze, bin ich auf alles gefasst – nur nicht auf eine ganz normale Lesung in einer Erdgeschosshinterhofwohnung: die Wände glatt und weiß, von Säulen geteilt, auf dem Boden Spanplatten, an der Decke eine Diskokugel, auf der Bühne ein Tisch, zwei Stühle und eine alte Wohnzimmerstehlampe. Dreißig Zuhörer, sehr gemischt, Junge und Alte, Männer und Frauen.
Verena Boos liest von Familiengeheimnissen, von Tresorgeheimnissen, von spanischen Soldaten in Wehrmachtsuniform, von Blut und Schande, von Flucht und Migration, von Opfern und Tätern – und von der jungen Maite, ihrem Alter Ego, die Nachforschungen anzustellen beginnt und ihren Eltern keine Ruhe lässt, bis alle Rätsel geklärt sind. Zwischendurch erzählt sie von ihrer Recherche, von NGOs, von Bürgerbewegungen, Angehörigenverbänden, dem Verein zur Wiedererlangung der historischen Erinnerung. „Es ist ihnen ein Anliegen, dass die Toten dem Vergessen entrissen werden, dass die Opfer der Diktatur ihren Namen, ihre Biografie, ihre Würde zurückbekommen.“
Bei der anschließenden Diskussion dreht sich alles um den Inhalt, Fragen zu Fakten und Figuren, dem wahren Hintergrund. Ästhetik spielt keine Rolle, vor allem die älteren Gäste erinnern mich an Seniorenstudenten aus dem Geschichtsstudium, die sich, wenn es nicht um Verifizierbares geht, fürs Autobiografische und Finanzielle interessieren.
„Abgesehen von den historischen Fakten, die mir als ältere Generation ja bekannt sind“, sagt einer, „die Romanfiguren: Sind die alle frei erfunden, oder gibt es da Ähnlichkeiten zu Personen, die so etwas durchlebt haben?“
„Die gibt es nicht und hat es nicht gegeben“, sagt sie. „Ich habe da keine familiäre Vorgeschichte, höchstens eine wissenschaftliche“, und verweist auf ihre Doktorarbeit Bypassing Regional Identity – A Study of Identifications and Interests in Scottish and Catalan Press Commentary on European Integration 1973-1993.
„Sie haben unglaublich viel Recherche betrieben“, sagt ein anderer alter Mann, „und das ist ja ein großer Aufwand. Waren Sie sich dessen bewusst?“
„Nee.“
„Bedauern Sie das jetzt?“
„Nee.“
„Würden Sie sagen, es hat sich finanziell gelohnt?“
„Nee. Aber darum geht es ja auch nicht.“
„Um was denn?“
„Um Kunst. Um Schönheit. Darum, ein gutes Buch zu machen.“
III
Hinterher stehen wir noch zusammen, unterhalten uns über Blutorangen als Bindeglied zwischen den Familienmitgliedern, als Symbol für eine Art kontaminierte Fruchtbarkeit; über die Blaue Division spanischer Freiwilliger, die an der Belagerung Leningrads durch deutsche Truppen teilnahm; über die Massengräber zur Zeit der Militärdiktatur – und über die junge Generation in Spanien, die mithilfe der erst im vergangenen Jahr gegründeten Partei Podemos politisch Einfluss zu nehmen versucht. „Ihr 1968“, sagt Verena Boos, „ist jetzt.“ Und das hat sie zum Schreiben des Romans inspiriert: wie die Nachfahren der Opfer um die Jahrtausendwende aufbegehren, wie sie die Exhumierung erzwingen und die Täter benennen.
Ihr Roman ist in einer kargen, bisweilen protokollarischen Sprache verfasst, ohne Pathos, ohne Ornament, und gerade dieser schlichte, zurückhaltende Stil macht den Reiz ihrer Prosa aus. Verena Boos verbindet großes Erzähltalent mit historischer Präzision. Nur der Anfang des Buches ist etwas schwerfällig geraten, zu viele Zeitsprünge, zu viele Figuren machen den Einstieg schwer. Da hätte ich mir einen vorangestellten Stammbaum gewünscht, eine Zeittafel, irgendeine Übersicht, die die Komplexität des Stoffes veranschaulicht.
Ursprünglich sei das Manuskript noch wesentlich umfangreicher gewesen als die jetzt vorliegenden 400 Seiten, aber dann habe sie die Hälfte wieder gestrichen, sagt sie, und dass sie 2010 so richtig angefangen habe mit dem Schreiben. Damals habe sie ihren Job als Leiterin des Münchner Ronald-McDonald-Hauses, der Kinderhilfestiftung von McDonalds am Deutschen Herzzentrum, beendet und sei, ohne eine andere Alternative zu haben, nach Frankfurt gezogen. „Es war mit Schreiben nicht zu vereinbaren“, sagt sie. „Wenn man bedenkt, was ich vorher verdient habe oder was ich in der Zeit hätte verdienen können, dann ist das natürlich ein superteurer Roman.“
„Jeder große Roman ist unbezahlbar“, sage ich.
Und sie sagt: „Das hast du damals auch gesagt.“
„Wann, damals?“
„Beim Textwerk-Seminar in München.“
Und da erinnere ich mich an jenen Nachmittag im Literaturhaus, im Juli 2012, als ich eingeladen war, vor den zehn Teilnehmern der Schreibwerkstatt über Recherche zu sprechen. Mir war nicht bewusst, dass Verena Boos dabei war, dass sie mir zuhörte, es gab keinen Austausch, kein Gespräch, und ich litt unter dem Föhnwind. Zu dem Zeitpunkt habe der Titel noch Familiengrab geheißen und sie habe schon sehr viel Material gehabt, sagt sie, mehr als alle anderen, die sich drei Mal im Abstand von ein paar Monaten trafen, um mit Lektoren und Schriftstellern die Fortschritte ihrer Arbeit zu besprechen. Und kurz danach unterschieb sie einen Buch-Vertrag beim Aufbau-Verlag, wurde für die Endrunde des Open Mike ausgewählt – machte noch vor Veröffentlichung ihres Debüts Karriere als Schriftstellerin. Als sie sich von ihrem Publikum verabschiedet, lächelt sie wie jemand, der die beste Entscheidung seines Lebens getroffen hat.
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