Der Mittelstand schmilzt und schreit panisch nach Härte. Am Zaun der Reichen gaffen und in Primatenlauten die Proleten beschimpfen – wie abstoßend! Das Fax der Woche
Früh am Morgen, der zweite Becher des Tages halbleer, Kumpel spricht von der Dekadenz in Deutschland: Banditenbanden überall, wie kommt man dem Pack bei? Was meint er? Schlag die Zeitung auf, sagt er, lies die Frontmeldungen aus dem Hinterland, du wirst erkennen.
Er rauscht ab zur Arbeit, ich blättere im Journal. Flüchtlingsboot gekentert, Hunderte Tote. Mutmaßlicher Triebtäter bei Autounfall verunglückt. Politiker schwätzen. Heimatpflege im Regionalteil. Ein Militär, Kachelfresse mit Rasurbrand, will Soldaten in die weite Welt schicken. Todesanzeigen.
Nichts anders als üblich, ich entdecke keine Verderbtheit, keinen Krebs im Gewebe. Was zerfrisst uns? Es kann niemand was dafür, dass wir so blöde sind. Im Briefkasten eine Postkarte von einer Dame aus dem Viertel, sie ist nach Japan gereist. Es behagt ihr nicht, dass die Fremden in fremden Zungen reden. Rummel, Blinklichter, Japanesen wimmeln allüberall, sie mag nimmer, das Heimweh bringt sie um. Komisch, zwei Wochen im Ausland, und es fröstelt die Dame ob der eisigen Winde. Bald wird sie Butterkuchen in den mit Kondensmilch geweißten Kaffee tunken – ist dann alles gut?
Weiter, keine Atempause. Das Tagwerk will mit Vollzugswut angegangen sein. Dekadenz, das Wort hallt nach, wie könnte man es übersetzen? Verfall und Niedergang, Krafteinbuße der Kultur. Von den Römern heißt es, sie feierten und verfielen, die Barbaren fielen über sie her. Westerwelle, einer der dämlichsten Außenminister, die wir hatten, Westerwelle also sprach von Dekadenz, und meinte die Faulheit der niederen Klasse. Der Mann war nie ernst zu nehmen. Und doch vernehm‘ ich das Raunen: Rückbesinnung, wir sterben aus, wir weichen vor dem Feind, halten wir bitteschön die Werte hoch.
Die Malocher der Unterschicht knüppeln für das bisschen Lebenserhaltungsgeld. Der Mittelstand ist verroht. Die Mittelständler wollen was besonderes sein, sie kennen aber nur die ungesunde Härte. Sie glauben zu wissen, wo der Hammer hängt. Der Hammer ist längst abgehängt, sie starren auf den Nagel und den leeren Fleck, sie starren und halluzinieren: Wo ein Wille, da auch ein Hammer.
Die wahren armen Irren der Nation sind diese Leute: Gaffer an den Zäunen der Großbürgergärten. Was sind ihre Glaubensinhalte? Leben ist Mechanik, Atem ist Funktion, Pöbeln ist Politik. Lumpenbürgertum. Der Lumpenbürger redet immer mit, er hat keine Ahnung, er will es denen heimzahlen. Das Witzwort des Jahrzehnts: besorgter Bürger. Sorge kann der Mittelständler nicht buchstabieren. Er beleidigt und erniedrigt, und schimpft dann auf die Beleidigten und Erniedrigten. Natürlich nimmt er trotzdem teil am Gottesdienst, der Pfaffe vorne sieht genauso aus wie er, das Priestergewand ist Berufskleidung. Er schwillt an vor Stolz, denn stolz ist er auf seinen Sachverstand, dessentwegen ihn die Politfunktionäre loben.
Oft mault der besorgte Bürger in Primatenlauten über die verkommenen Proleten. Er meint: Früher hätte man solche Knechte entsorgt. Er meint: Armut verdirbt. Will ich ein Loblied singen auf die einfachen Menschen? Nein, ich will nicht rühmen den Mann des Mittelstands. Ein moralisch korrupter Kerl im feinen Anzug ist ein moralisch korrupter Kerl. Blut schießt ihm in den Kopf, Seele sinkt ihm in die Füße, er muss buckeln, und also bellt er die unteren Chargen an.
Dekadenz, das Losungswort des Lumpenbürgers, das Psychopharmakon des Angstgepeitschten. Oben sind die Fetten, unten verlebt man wie gewohnt die mageren Jahre, doch die Mitte schmilzt. Der eingebildete Abstiegskandidat greift nicht zum Hammer, er greift zum Prügel: hart durchgreifen jetzt! Die brüllende Minderheit besteht größtenteils aus Saubermännern mit Hund und Eigenheim. Was steckt hinter dem Geschwätz? Größeres Haus, größere Hundehütte, die anderen sind egal.
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