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Hinterm Loch die Party

 

Der Berliner Club Antje Øklesund ist sagenumwoben. Marode Orte wie dieser machten in den Neunzigern den Charme der Stadt aus. Nun wird dort zum letzten Mal gefeiert.

Antje Øklesund: Hinterm Loch die Party * Freitext
© Jan Brandt

Martin, ein alter Schulfreund, der wie ich seit Jahren in Berlin lebt, schwärmte mir schon lange von diesem Ort vor: das Antje Øklesund, ein halb verfallenes Gelände einer Möbelfabrik an der Rigaer Straße im Stadtteil Friedrichshain. Die eine Hälfte des ehemaligen Kesselhauses sei abgebrannt, sagte er, als loderten die Flammen noch in seinem Herzen, die andere stehe noch und beherberge einen Club, ein echter Geheimtipp, nirgendwo weise ein Schild darauf hin, hinein komme man nur durch ein Loch in der Mauer. Das Antje, sagte er, sei der letzte Rest des im Krieg zerstörten Berlins – ein Abenteuerspielplatz wie es, als wir Ende der neunziger Jahre herzogen, noch viele gegeben hat. Und dann schwelgte er in Erinnerungen an besetzte Häuser und illegale Bars, an all die Ruinen, die inzwischen Neubauten gewichen waren, an eine Zeit, die es nicht mehr gab und niemals wieder geben würde in Deutschland.

Martin war damals oft unterwegs, er arbeitete als Schlafwagenschaffner. Wenn ich Martin doch einmal traf, allein traf, sprach er über Frauen, und wenn er nicht über Frauen sprach, dann deshalb, weil er von ihnen umgeben war, und daher hoffte ich, er würde mir Antje Øklesund, die Namenspatin jenes mythischen und doch erst 2005 gegründeten Clubs, eines Tages vorstellen. Aber das tat er nicht. Stattdessen sagte er, was das Antje einzigartig mache, sei das Adriano Celentano Gebäckorchester, das dort regelmäßig auftrete und italienische Schlager spiele. Das, sagte er – er sprach mir dabei tief in die Ohren –, müsse ich mir unbedingt einmal anhören.

Die Mitglieder seien so etwas wie die Ramones des Chansons, sagte Martin, „sie sehen einander zwar nicht ähnlich, aber sie alle tragen nach außen hin den gleichen Nachnahmen: Celentano.“ Meike Celentano, eine gemeinsame Freundin von uns, eine Tierärztin, die einen legendären Essay in der SPEX über den Einfluss von Musik auf die Milchproduktion von Kühen geschrieben hat – „mit Hardrock kummt dor kien Melk ut“ –, spiele dort Querflöte; Heiko Celentano, ein Antifolk-Genie, der das Rohe und Raue mit dem Zarten und Verletzlichen verbinde, Gitarre; und Falk Celentano, ein Mediävist an der Freien Universität, singe im Stile eines Chansonniers – mit all dem Glamour und all der Grandezza des Genres.

Alle paar Wochen schickte Martin mir per E-Mail Einladungen zu, und ich fand immer neue Ausreden, um nicht hingehen zu müssen. Meist schrieb ich, dass ich nicht in der Stadt oder gerade sehr beschäftigt sei, beim nächsten Mal aber ganz gewiss dabei sein wolle, er solle mich doch bitte auf dem Laufenden halten. Ich hoffte, er würde irgendwann aufhören, Werbung für diesen Ort, diese Veranstaltung zu machen. Doch er intensivierte seine Bemühungen noch, ließ mir per Post Flyer zukommen und rief mich hinterher an, um mich an den Termin zu erinnern. Ich ging nie ran, ließ ihn jedes Mal auf den Anrufbeantworter sprechen und löschte seine Nachrichten sofort.

© Jan Brandt
© Jan Brandt

Bald jedoch übten die Namen einen eigenartigen Reiz auf mich aus: Antje Øklesund und das Adriano Celentano Gebäckorchester. Mit dem einen konnte ich nichts anfangen, ich kannte keine Antje Øklesund; mit dem anderen verband ich seichte italienische Filme und Songs. Adriano Celentano war für mich so etwas wie die südländische Entsprechung von Manfred Krug. Wenn von dem jemand Lieder nachspielen würde, ganz egal wie gut auch immer, dachte ich, würde ich ja auch nicht hingehen. Aber die Frage, was ein Gebäckorchester sei, ließ mich nicht los. Also ging ich doch hin, und fand alles so, wie Martin es beschrieben hatte. Nein, ich fand noch mehr: Aus dem Mauerwerk wuchs eine Birke. Im Vorraum fehlte das Dach. Im Konzertsaal drehte sich über den Köpfen eine Diskokugel. Das war alles, was ich sah. Denn es war so voll, dass ich ganz hinten stand und gleich wieder nach Hause fuhr.

Beim zweiten Mal bin ich eher da. Ich bin sogar einer der Ersten und nutze die Gelegenheit, mir die Räume genauer anzusehen. Von den Wänden bröckelt der Putz. Von der Decke baumeln bunte Tetraeder aus Papier. Überall stehen alte, stummgestellte Röhrenbildschirme herum, auf denen Filme mit Adriano Celentano laufen. Das Herrenklo besteht aus einer angeschlagenen Spüle aus Emaille. Über der Bühne hängt eine Uhr, die, ich starre eine Weile wie blödsinnig darauf, fünf vor zwölf zeigt.

Kurzum: Das Antje ist ein Paradies des Untergangs.

„Da bist du ja endlich“, sagt Martin, als ich an der Bar stehe, um eine Antjecolada oder einen Zombiesund zu bestellen, „ich dachte schon, du kommst gar nicht mehr. Hast du meine Nachrichten nicht bekommen?“

„Wer“, frage ich, um das Thema zu wechseln, „ist eigentlich diese Antje?“

„Eine Norwegerin“, sagt er, „eine tote Norwegerin.“ Und dann erzählt er die Geschichte eines der Antje-Gründer, dessen Hund auf einer Skandinavien-Reise in der Nähe von Oslo die Knochen einer gewissen Antje Øklesund ausgegraben habe. „Einer Legende zufolge sei diese Antje in einer Holzkiste vor 400 Jahren an der Küste angespült –“, weiter kommt er nicht, die Musik setzt ein, und wir drängen, unsere Cocktails in Händen, zur Bühne.

Auf dem kleinen Podest sind ein Dutzend Musiker versammelt, ein Bassist, ein Schlagzeuger, ein Pianist, ein Tamburin-Mann, eine Sängerin und ein Sänger, zwei Gitarristen und drei Backgroundsängerinnen, die über herausragende stimmliche Qualitäten verfügen und, als sei das selbstverständlich, Cello und Geige, Trompete und Posaune, Melodica und Kazoo gleichermaßen perfekt beherrschen.

© Jan Brandt
© Jan Brandt

Heiko sieht mit seinem Bart, seinen langen blonden Haaren und dem weißen Stirnband aus wie Björn Borg bei seinem Comebackversuch, aber im Gegensatz zum späten Borg sitzt beim späten Heiko jeder Handgriff; Meike spielt gefühlte fünf Blasinstrumente gleichzeitig, und Falk merkt man nicht an, dass er nicht von Capri, sondern aus Karl-Marx-Stadt stammt, so lässig rauchend intoniert er Hits wie Signor Rossi, Se telefonando, Azzuro oder Gloria.

Ihren Musikstil bezeichnen sie, das sehe ich, als ich zwischendurch auf mein Smartphone schaue, bei Facebook als Italo Disco. Aber das trifft es nicht richtig. Das weckt Assoziationen an italienische Sommerhits der Achtzigerjahre. Dabei sind sie musikalisch eher in den Sechziger- und Siebzigerjahren verhaftet, nur dass sie den Klassikern durch die Orchestrierung, durch diese Mischung aus Bombast und Blech, Stil und Schmutz, Klugheit und Kaputtheit ganz neues Leben einhauchen.

Das Erstaunlichste ist aber wohl das Publikum. Der Raum ist so voll wie bei meinem ersten Besuch, die Menge tobt und tanzt und grölt jedes Lied mit, und anders als bei Stadionrockkonzerten ist das hier nicht peinlich, sondern absolut passend. Es sind fast nur junge, hübsche Frauen da, und als ich Martin in der Pause darauf aufmerksam mache, sagt er: „Ich hab’s dir doch gesagt. Das ist mir noch nirgendwo sonst passiert: Hier bin ich schon drei Mal angesprochen und gefragt worden, ob ich mit nach Hause kommen will. Du musst einfach nur dastehen und abwarten.“ Ehe ich nachfragen kann, wie das genau abgelaufen ist, ist er schon in ein Gespräch mit Susanne vertieft, auch eine Freundin, aber eine, die ich lange nicht gesehen habe.

© Jan Brandt
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Ich gehe nach draußen und unterhalte mich mit Meike und Falk, die mir von ihren Anfängen erzählen, wie sie sich anlässlich des Musikfestivals Fête de la Musique vor fünf Jahren spontan zusammengefunden haben, erst als Idee, dann als Name, dann in echt und seitdem einmal im Monat im Antje auftreten. „Ohne Antje ist das Orchester nicht denkbar“, sagt Falk. „Bei den ersten Konzerten, als wir weniger Gäste als Mitglieder hatten, verteilten wir uns noch um das Publikum herum.“ Hauptberuflich beschäftigt er sich mit mittelhochdeutschen Verserzählungen, mit Motiven, die vor tausend Jahren zeitgleich in arabischen Texten auftauchten – magnetische Berge, Riesenvögel, Monstren oder leuchtende Karfunkelsteine, die sie in dem Forschungsprojekt, in dem er mitarbeitet, als „Elemente des Wunderbaren“ bezeichnen. Und je länger wir miteinander sprechen, desto mehr fällt mir auf, dass sich alle vom Gebäckorchester mit Elementen des Wunderbaren beschäftigen, als Kulturmanagerin, Grafikdesignerin und Heilpraktikerin, als Tischler, Informatiker und Behindertenbetreuer, dass ihr Zusammensein als Band allein schon etwas Wunderbares ist: mehr als die Summe der einzelnen Teile, eine zweite Existenz, eine Kollektivexistenz. Ich bin, das sollte ich der Vollständigkeit halber vielleicht erwähnen, aber auch schon ein bisschen betrunken und fühle mich selbst ein bisschen wunderbar.

Bald kommen Heiko und Martin und Susanne hinzu, und wir sprechen über unsere gemeinsame Vergangenheit, eine Art Selbstvergewisserung, um unsere eigene Zusammengehörigkeit zu stärken, um unsere langjährige, aber lose Beziehung, die auf eben diesen Geschichten beruht, zu festigen. Wir haben uns alle weiterentwickelt. Wir sind alle lange weg von zu Hause. Wir sind zu unterschiedlichen Zeiten nach Berlin gezogen, aus freiem Willen, weil wir dachten, dass wir nur hier frei sein könnten, dass wir nur hier die Freiheit haben, so zu leben, wie wir leben wollen. Susanne ist schon weitergezogen, nach Hamburg, und jetzt gesteht sie, dass sie – ihrer Kinder und Eltern wegen – wieder in unsere alte Heimat zurückziehen wird, nach Ostfriesland. Und wir können es alle nicht fassen. Wir sind empört, wohl auch, weil wir Angst haben, dass wir eines Tages auch gezwungen sein könnten, den gleichen Weg einzuschlagen, dass wir den Kampf, sich in der Großstadt gegen alle Widrigkeiten zu behaupten, verlieren.

Das Antje hat diesen Kampf schon verloren. Bald stehen hier, auf dem 116 Jahre alten Trotzgelände, Townhouses. Und dort, wo jetzt noch das Antje ist, soll eine Tiefgarage hin – immerhin mit einem neuen Antje: ein Raum mit dem gleichen Umriss, nur mit niedrigerer Decke und verputzten Wänden, ohne diesen berlintypischen Charme des Verfalls, ohne das Schraddelige, das Verratzte, das Abgegnarzte. Es wird nicht das gleiche Antje sein.

Nach einer halben Stunde gehen wir wieder hinein. Das Gebäckorchester spielt Parole, Bimbo sul leone, Baccala, Felicità und La Bomba. Die Sängerinnen schießen mit bunt blinkenden Wasserpistolen Luftblasen ins Publikum, von der Decke regnen Goldfäden, und als ein Backblech mit Baklava von Hand zu Hand geht, ein Cakecrowdsurfing von der Bühne bis in die hinterste Reihe und zurück, erfahre ich endlich auch, was es mit dem Gebäck im Namen auf sich hat.

Nach der dritten Zugabe ist es vorbei. Ein DJ übernimmt die Beschallung, die Gäste tanzen weiter und weiter und weiter. Und ich tanze mit. Draußen, das sehe ich durch die Mauerritzen, wird es hell, der Raum leert sich mit jeder Minute, Heiko, Meike und Susanne sind gegangen, selbst Martin ist verschwunden. Auch ich strebe dem Ausgang zu. Da sehe ich ein Schild an der Wand: „Please don’t leave, the fun has just started.“ Ich denke an Martins Worte, an seine Prophezeiung, und kehre noch einmal um. Ich bleibe und warte. Es ist ja erst fünf vor zwölf.

© Jan Brandt
© Jan Brandt

Am kommenden Wochenende finden im Antje Øklesund, in der Rigaer Straße 71–73 die letzten Konzerte statt. Am Freitag spielt um 21.30 Uhr Das Adriano Celentano Gebäckorchester, am Samstag treten ab 21 Uhr die Berliner Indie-Bands Chuckamuck und Der Stier aus der Bronx und das Hamburger Duo Schnipo Schranke auf.

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