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Wir sind das Gemüse

 

In Berlin-Kreuzberg kündigt ein Investor einem türkischen Lebensmittelladen und entfesselt damit einen Sturm der Empörung. Ein Spaziergang ins Herz des Widerstands

 

1. Juli 2015

Es ist Mittwoch, ein warmer Sommerabend, die Sonne scheint, voller Kampfeslust gehe ich die Wrangelstraße entlang. Die Wrangelstraße, die vom Mariannenplatz zur Taborkirche reicht, ist zurzeit ständig in den Medien. Wegen Bizim Bakkal. Bizim Bakkal ist Türkisch und heißt „Unser Lebensmittelladen“. Bizim Bakkal ist der letzte Gemüseeinzelhändler in der Gegend, die letzte Bastion gegen Konzerne, die Globalisierung, die durchkommerzialisierte Stadt. Jetzt soll Bizim Bakkal schließen. Der neue Eigentümer des Hauses mit der Nummer 77 hat der Familie Çalişkan, die seit 28 Jahren im Erdgeschoss Gemüse verkauft, gekündigt. Ende September soll sie raus. Das will die Nachbarschaft nicht zulassen. Seit fünf Wochen gibt es Proteste. Jeden Mittwoch versammeln sich mehr und mehr Menschen vor Bizim Bakkal und demonstrieren dafür, dass er bleibt, wo er ist.

Ich habe, weil ich im Juni unterwegs war, viel darüber gelesen: dass Ahmet Çalişkan mit 14 Jahren nach Deutschland gezogen sei, dass sein Vater das Geschäft gegründet und ihm übertragen habe, dass er nachts um eins aufstehe und zum Großhändler fahre, mittags schlafe und bis abends wieder im Laden stehe, dass er im vergangenen Jahr neue Kühlschränke gekauft habe, dass er gesundheitlich angeschlagen sei, dass er im Kiez bei den aktuellen Mieten keinen anderen Standort finde, dass seine Existenz auf dem Spiel stehe. Und ich habe gelesen, dass der Eigentümer Wrangelstraße 77 GmbH heißt. Geschäftsführer ist Ioannis Moraitis, der seine Neuerwerbung über seine Firma Gekko Real Estate vermarktet – der Name erinnert an Gordon Gekko, den extrem reichen und kaltblütigen Banker in Oliver Stones Film Wall Street, dargestellt von Michael Douglas.

Der Einzelhändler steht für die Verbindung von Markt und Menschlichkeit. Der Börsenspekulant für Gier und Macht und einen außer Kontrolle geratenen Kapitalismus.

Auf Facebook postete Moraitis im Mai ein Foto, das ihn beim Frühstück auf dem Gendarmenmarkt zeigt.

„Was machst du in Berlin und sagst nicht Bescheid?“, kommentierte ein Freund von ihm.

Und Moraitis antwortete: „Ich erobere die Stadt …“

Es ist ein ungleicher Kampf. David gegen Goliath. Auch deshalb gehen die Menschen in Kreuzberg auf die Straße. Erst kamen 70, dann 100, dann 200, dann 300 Menschen. Arbeitsgruppen wurden gebildet, Transparente von Baum zu Baum gezogen, Websites eingerichtet, Bands traten auf, Anwohner erzählten ihre Kündigungsgeschichten. Und alle berichteten darüber, die Zeitungen, die Radiostationen, die Fernsehsender. In Deutschland, im Libanon, in den USA und der Türkei, in Spanien, Indien und Südkorea. Und Gekko reagierte: Die Firma nahm das Objekt „03 Wrangelstr. 77“ mit „11 exklusiven Altbau-Eigentumswohnungen und 1 Gewerbeeinheit“ von ihrer Website.

Seit ich um die Ecke wohne, kaufe ich bei Bizim Bakkal ein, Obst und Gemüse, Schafskäse und Oliven, Nüsse und Gewürze. Zweimal die Woche nehme ich diesen Weg: unter der Hochbahn hindurch, über die Skalitzer Straße hinweg, in den südlichen Teil der Wrangelstraße hinein. Ich gehe mit leeren Händen hin und mit vollen zurück. Bizim Bakkal ist günstig, und die Auswahl ist groß. Die Einrichtung ist einfach, rustikal und funktional, jedes Mal ergibt sich ein kurzes Gespräch mit Ahmet oder seiner Frau Emine Çalişkan, meist geht es ums Wetter, um Ernten, um die Qualität der Produkte. Zwei andere türkische Gemüsehändler, Posof und der Gözde Süper Market, sind schon verschwunden, nachdem vor Kurzem die Lebensmittelkette Eurogida in der Wrangelstraße eine Filiale eröffnet hat.

Aber heute bin ich nicht zum Einkaufen gekommen. Die Bürgerinitiative Bizim Kiez hat mich und einige andere Schriftsteller zu einer Lesung eingeladen. Schon von Weitem sehe ich den Polizeiwagen, der die Straße absperrt, dahinter hat sich vor einer Bühne eine Menschenmenge versammelt wie sonst nur bei Fußballweltmeisterschaften zum Public Viewing. Filmteams und Fotografen stehen in der ersten Reihe, und die Çalişkans lehnen an ihren abgeräumten Verkaufsgestellen. Vor dem Köfteburgerladen auf der anderen Seite hängt ein rotes Tuch mit der Aufschrift „Je suis Bizim Bakkal“, Kinder halten Plakate hoch, auf denen „Wir sind diese Straße“ steht, und zwei Frauen haben auf ein Banner „Bizimness statt Business“ geschrieben. Ein Mann trägt ein T-Shirt mit dem Aufdruck „Welcome to Kreuzberg“, darunter ist ein Totschläger abgebildet. Ein anderer hat „unlawful = right, lawful = wrong“ auf dem Rücken stehen. Die meisten laufen mit gemäßigten Parolen herum, mit Jutetaschen und dem Spruch „Bizim Bakkal bleibt“ oder mit selbst gemalten Schildern – „Geld vernichtet hier Werte“ oder „Bizim Bakkal loves you“. Und Hans-Christian Ströbele, Bundestagsabgeordneter der Grünen, Direktkandidat des Wahlkreises, schiebt sein Fahrrad vorbei.

Ein junger Mann mit einem T-Shirt der Band The Burning Hell tritt ans Mikro, stellt sich als Felix Lange vor, ein Nachbar, der am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte arbeitet. Er erläutert noch einmal die Dimension, dass es nicht nur um einen Gemüseladen gehe, sondern um eine Strategie. „Dies ist nur einer von vielen Mietverträgen, die beendet werden sollen, seitens des Vermieters.“ Aber er macht Hoffnung: Die Familie sei jetzt im Gespräch mit dem Eigentümer. „Das zeigt, dass es sich lohnt, zu kämpfen, dass nicht alles, was formal legal ist, auch so hingenommen werden muss.“ Und er verliest eine Resolution der Bezirksverordnetenversammlung, verweist auf die Arbeitsgruppen und die Onlinepetition, und bittet die anderen Redner des Abends auf die Bühne. Alles, was er sagt, wird von zwei anderen Männern ins Türkische übersetzt.

Ein Martin, den ich nicht kenne, holt einen „Brief eines Mitmenschen an einen Investor“ hervor: „Wir alle leben in einer Stadt und Gesellschaft, die sich ständig verändert, und das ist auch gut so. Die Frage ist, welche Art der Veränderung wir wollen. (…) Eine Zukunft des friedlichen Miteinanders zwischen Menschen unterschiedlicher kultureller und sozialer Herkunft oder ein Manifestieren der Ungleichgewichte, die wir schon haben, eher in Richtung Straßenfest oder Gated Community?“

Ali berichtet von einer Zwangsräumung nebenan, davon, dass 50 Leute den Eingang zur Wohnung blockierten und die Gerichtsvollzieherin unverrichteter Dinge wieder gehen musste, und er verspricht: „Wir werden es den Profiteuren, die mit uns Geld verdienen wollen, schwer machen.“ Ein anderer Martin, der beim Jobcenter gearbeitet hat, berichtet von seinem Alltag: „Ich hab es oft erlebt, dass Leute zu mir herkommen, die existenzielle Angst haben, weil sie nicht wissen, wohin. (…) Das Problem ist, dass auf einzelne Belange, auf individuelle Schicksale keine Rücksicht genommen wird. Auf Teamleiterebene wurde gesagt, berate die Leute nicht, was für Rechte sie haben, das sollen die mal schön selber rausfinden. (…) Die haben doch Rechte, das sind doch nicht nur Nummern. Ich war eine Nummer, 6-14-0 damals, und die Leute waren auch nur Nummern.“

Robert vom Aktionsbündnis Mediaspree versenken spricht die Ursachen der aktuellen Lage an: „Was man hier sieht, ist, dass hier über den Willen der Bevölkerung hinweg die Stadt völlig neu geplant wird. Und zwar nicht für uns, sondern gegen uns, für eine neue Bevölkerungsstruktur. (…) Diese Politik ist aus dem letzten Jahrhundert, da war der Bankenskandal, Berlin war pleite, da kam das auf, man muss privatisieren, man muss dafür sorgen, dass es mit der Wirtschaft aufwärts geht. Und dafür braucht man neue Leute, Leute mit Geld und nicht Leute wie uns.“

Als letzter Redner tritt Gerri auf. Er hält eine Flasche Sternburg in der Hand, sieht total verstrahlt aus, als stünde er unter Drogen, aber das, was er sagt, ist völlig klar und auf den Punkt gebracht, auch wenn es vielen nicht passt: „Ich wurde schon zwei- bis dreimal gentrifiziert, aber wenn am Tempelhofer Feld Gebäude gebaut werden müssen, damit der Druck hier wegfällt, dann müsst ihr nicht zu Hunderttausenden hingehen, um dagegen zu stimmen. Das ist Entlastung.“

Nach Wortfront, die Lieder eines postmodernen Arschlochs spielen, sind wir dran, die reine Wortfront. Annett Gröschner liest eine Passage über Entmietung aus ihrem Roman Walpurgistag. Annika Reich ein Kapitel aus ihrem Roman Die Nächte auf ihrer Seite über eine Demonstration auf dem Tahrir-Platz in Kairo. David Wagner eine Stelle aus seinem Supermarktroman Vier Äpfel. Ulla Lenze eine Szene, die in Istanbul spielt, aus ihrem Roman Die endlose Stadt. Und ich lese einen kurzen Bericht über die Veränderung Berlins. Nina Bußmann liest eine Geschichte über einen Erdrutsch, und die Übersetzerin Katy Derbyshire eine von Raul Zelik aus dem Band Grenzgängerbeatz, die in eben jenem Lebensmittelladen hinter uns spielen könnte und mit den Worten beginnt: „Wenn man einen Lebensmittelladen hat, trägt man eine ziemliche Verantwortung für sein Viertel.“

Alle Texte haben mit dem Thema zu tun, mit Protesten und Prozessen, mit Ermächtigungen und Erschütterungen. Und als Felix Lange zwischendurch noch einmal auf die Bühne springt und eine Presseerklärung der Hausverwaltung vorliest, in der davon die Rede ist, dass die Kündigung zurückgenommen werden soll, bricht im Publikum lang anhaltender Jubel aus. Es fühlt sich an wie ein Sieg.

Während die Sonne über der Wrangelstraße untergeht und das Licht so hell und scharf ist wie noch nie in diesem Jahr, lese ich auf meinem Smartphone die Zeitungstitel des kommenden Tages: „Bizim Bakkal darf bleiben“, „Aufatmen im Kiez, Gemüseladen vor Rettung“. Dabei ist noch nichts entschieden und nichts unterschrieben. Die Meldung, lanciert zum Zeitpunkt der Kundgebung, dient nur dazu, den öffentlichen Widerstand zu brechen. Trotzdem stehen die Çalişkans lächelnd in ihrer Tür, hoffnungsvoll und erschöpft, erfreut und verwundert über den anhaltenden Kampf ihrer Kunden.

 

2. Juli 2015

Das Bewusstsein für den Untergang schärft den Blick auf die Dinge. Als ich am Nachmittag darauf wieder die Wrangelstraße entlanggehe, diesmal um einzukaufen, fallen mir Details auf, die ich bisher nicht wahrgenommen habe: die Ahornbäume zu beiden Seiten, die vielen unterschiedlichen Leute vor den Läden, die Veränderungen. An der Ecke Skalitzer Straße, dort wo bis vor drei Jahren noch eine Drogerie war, hat jetzt Estate Coffee aufgemacht, obwohl das Viertel eine neue Drogerie dringender gebrauchen könnte als ein neues Café, in dem alle Produkte auf Englisch angeboten werden. Aber es liegt direkt an der Partymeile zwischen den U-Bahnhöfen Kottbusser Tor und Schlesisches Tor.

Gegenüber ist die Cocktailbar Kantine Kohlmann. An der Ecke Sorauer Straße haben vor Kurzem das Edelrestaurant Bosco aufgemacht, in der die Senatoren der Stadt speisen, und die Craft-Beer-Schenke Hopfenreich, die über 14 Zapfhähne verfügt. Daneben gibt es immer noch das alte Kreuzberg, die Friseursalons, Bäckereien und Haushaltswarengeschäfte, die Internetcafés und Sportwetten-Annahmestellen, den Tuchhändler, den Ein-Euro-Buchladen, die chemische Reinigung, die Rockerkneipe Bull Bar, die Rösterei Kumru Kuruyemis und das Szenecafé Sofia.

Über dem Eingang der Fürst-Bismarck-Apotheke weist eine LED-Anzeige darauf hin, dass es 17.15 Uhr ist und die Temperatur 31 Grad beträgt. Punks mit Iro und Schottenrock radeln an mir vorbei, Obdachlose warten vor der Liebfrauenkirche, einem klosterartigen Bau im neoromantischen Stil auf die Essensausgabe, vorm Kaiser’s stehen einige Dealer und zischen mir „Was brauchst Du?“ und „Gras?“ und „Ich hab alles“ zu. Aber das, was ich brauche, haben sie nicht. Ich gehe weiter, dorthin, wo gestern noch Hunderte die Straße blockierten. Vom Hipstercafé Where is Jesus?, auf dessen Fenster jemand „Where is X-Berg?“ gesprüht hat, dringt House-Musik herüber, als ich Bizim Bakkal betrete. Hinter den Regalen, hinter den Körben voller Zucchini, Süßkartoffeln und Salate, die bis zur Decke reichen, das fällt mir erst jetzt auf, sind noch die weiß-blauen Fliesen der einstigen, hier ansässigen Geflügelschlachterei zu erkennen, und darüber hängen Plakate, die mich an Informationskarten im Biologieunterricht erinnern, Plakate, auf denen Aussehen und Beschaffenheit von Kernobst, Chilis und Paprikas, Beerenobst und Exoten dargestellt sind. Nebenan tauchen die neuen Kühlschränke den Raum in weißes Licht. Ein Kameramann filmt die türkische und die deutsche Fahne überm Tresen.

Emine Çalişkan schneidet gerade Honigmelonen auf. Mit einem Papiertuch wischt sie über die Schnittfläche, bevor sie die Hälften in Klarsichtfolie einwickelt und den Preis drauf schreibt. Als ich sie auf die Rücknahme der Kündigung anspreche, sagt sie „mein Mann“, „später“ und „nichts ist sicher“. Dann nimmt sie mir die Tomaten, Äpfel und Erdbeeren aus der Hand, legt sie auf die Waage, gibt den Preis in die Kasse ein. Und weil sich, als ich ihr das Geld hinhalte, hinter mir schon eine Schlange gebildet hat, endet unser Gespräch, ehe es begonnen hat. Womöglich, denke ich beim Rausgehen, wird den Çalişkans das auch alles zu viel, die Leute, die Aktionen, das Thema, womöglich sehnen sie sich nach Ruhe, nach Alltag, einem geordneten Leben.

Auf dem Rückweg begegne ich der Wickelfrau. Sie trägt ihr Sommerkleid: weiße und schwarze um ihren Körper geschlungene Stoffbahnen, ein weißer Turban auf dem Kopf und schwarze Stutzen an den Waden. Das Gesicht, die Arme und Beine sind frei. Sollte ihr kalt werden, hat sie eine Stoffrolle wie einen Köcher auf ihren Rücken gespannt. Ich sehe sie jeden Tag. Unermüdlich spaziert sie durch Kreuzbergs Straßen. Egal wie kalt oder heiß es ist, egal ob es regnet oder schneit. Sie gibt nie auf. Symbol der Sturheit – und des Widerspruchs. Sie geht und bleibt.