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Am Beckenrand dieses Sommers

 

Wie viel Mensch verträgt das Wasser? Es ist heiß und im Freibad ist die Hölle los. Vorsicht beim Reinspringen!

Freibad: Am Beckenrand dieses Sommers
Reuters/Bernadett Szabo

Der Sommer ist nun endlich da mit seiner ganzen Pracht. Es ist so prächtig, dass man seinem Hund, wenn man einen besitzt, das Wasser wegtrinken möchte. Wir stehen, schwitzen, trinken die Hälfte unseres Vorrats. Die Sonne macht weiter. Wir sind nicht die Schlauesten gewesen, wir hätten zwei Stunden eher losgehen sollen. Wir müssen eine Stunde lang warten, bis wir endlich hineinkönnen. Der Mann, der die Eintrittskarten verkauft, sitzt hinter Glas auf einem Drehstuhl und schwitzt nicht. Ich poche mit den Fingern gegen die Scheibe und frage: „Ist das Panzerglas?“ Er grinst und sagt: „Braucht man bei den Temperaturen!“

Das Bad ist berüchtigt dafür, dass es einen Sicherheitsdienst vorweisen kann, der an warmen Tagen, wenn das Bad überfüllt ist, immer wieder durchgreifen muss. Hin und wieder wird die Polizei hinzugerufen. Das Bad ist berühmt dafür, dass man hier an nicht ganz warmen Tagen kurz vor der Schließung nur mit wenigen anderen in Ruhe seine Bahnen ziehen kann. Der Himmel über dem Becken ist dann der schönste Himmel von ganz Neukölln. David Bowie ist hier bestimmt auch schon mal vorbeigefahren. Iggy Pop hat vielleicht versucht, das Planschbecken auszutrinken und der ehemalige Neuköllner Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky hat hier vielleicht als heranwachsender Sozialdemokrat jeden Sommer mit dem Ferienpass verbringen müssen.

Wir finden einen schattigen Platz und breiten die Decken aus. Es knistert sehr laut, ein Knarzen, ein weiteres, dann: „Achtung! Achtung! Eine wichtige Durchsage: Tun Sie den Müll in die Mülleimer! Achten Sie auf Ihre Mitmenschen! Das Baden ist nur zulässig in Badekleidung!“ Zwei Männer sitzen sich gegenüber auf roten Campingstühlen und spielen Halma. Sie reden nicht, nippen hin und wieder an ihren kleinen Wasserflaschen. Das Spielbrett haben sie auf einen Mülleimer gelegt. Wieder ein Knistern: „Also Burkini, Bikini, Badeanzug, Badehose, Badeshorts!“

Ein Pärchen liegt neben uns und da der Mensch eine Oberfläche hat und diese Oberfläche ebenso gestaltet werden kann wie eine Kühlerhaube, eine Wand oder ein T-Shirt, trägt der Mann das Zeichen der RAF auf seiner linken Wade. Seine Freundin hat sich eine Landkarte, die zu einem Fantasy-Roman gehören könnte, mit der namentlichen Benennung wichtiger Orte, über den ganzen Rücken tätowieren lassen. Wieder ein Knistern: „Die 3-jährige Amber sucht ihre Eltern. Die 3-jährige Amber sucht ihre Eltern. Bitte beim Sprungturm abholen.“

Es ist zwölf Uhr mittags und der Sonne sollte man gar nichts übel nehmen. Wir cremen uns ein, so dass wir alle etwas blechern aussehen. Im Nichtschwimmerbecken ist so viel Mensch wie Wasser. Schwimmen ist nicht möglich. Wir stehen herum. Es ist kühl. Es ist gut. Wieder ein Knarzen: „Die 3-jährige Amber sucht ihre Eltern. Bitte beim Sprungturm abholen. Seht nach rechts, seht nach links! Sind Eure Kinder bei Euch? Achtet auf Eure Kinder!“

Der Bademeister, der ins Mikrofon sprechen darf, sieht mit seiner breiten, verspiegelten Sonnenbrille, den muskulösen Beinen und dem aufgepumpten Oberkörper aus, als hätte er einen Abschnitt seines früheren Lebens in einer Spezialeinheit verbracht. Spezialeinheit für was auch immer, zumindest war die Lage danach eine andere. Er hebt gelangweilt das Mikrofon, ein Knarzen: „Die 10-jährige Dilek sucht ihre 9-jährige Schwester Melek. Dilek wartet beim Sprungturm!“ Dann hebt er die Stimme: „Leute, seht nach rechts, seht nach links, das kann doch nicht sein, dass wir für eure Aufsichtspflicht zuständig sind. Passt auf Eure Kinder auf!“

Bei dem kleinen Imbiss bestellen wir Pommes Frites und Kaffee, während die Hitze uns trocknet. Hinter uns ein Mann, der eine tätowierte Landschaft mit Wäldern und Flüssen auf seiner Brust hat. Seine Brustwarzen sind in einem Radius von zwei Zentimetern naturbelassen, so dass sie zwei Seen und die Brustwarzen zwei Inseln sein könnten. Ich starre fasziniert und viel zu lange auf seine Brust. Wir bekommen die Pommes und den Kaffee und wie gut, dass niemand zuvor fragte, ob wir heute nicht mal die kenianische Bohne probieren möchten. Wieder ein Knarzen: „Leute, eure Aufsichtspflicht!“

Der Rand des Schwimmerbeckens ist komplett belegt. Es gelingt nicht gleich, in das Wasser zu kommen. Niemand will seinen Platz auch nur für einen Moment verlassen. In der Mitte schwimmen einige Männer mit Biker-Sonnenbrillen, die aufbrüllen, wenn Wasserspritzer auf den Gläsern landen. Seitlich des Sprungturms steht einer breitbeinig in der Sonne, der Schweiß tropft von seiner Nasenspitze. Er steht reglos und sieht auf das Becken. Auf der Rückseite seines hellblauen T-Shirts haben sich zwei nasse Flächen gebildet, so dasser aussieht wie ein Engel.

Als wir am späten Nachmittag nach Hause gehen, passieren wir zwei Reihen von Polizeibeamten in Kampfmontur, die sich am Ausgang positioniert haben. Am nächsten Tag hörte ich davon, dass es zu einer Massenschlägerei zwischen 60 Jugendlichen kam, und das Bad geräumt werden musste.

Vor einigen Wochen las ich auf den Monitoren, die in der Berliner U-Bahn angebracht sind und die das aktuelle Weltgeschehen verbreiten, dass sich Karel Gott in die Natur zurückziehen wolle. Das, denke ich, sollten wir das nächste Mal auch tun. Zurück an einen Badesee. Am besten ein Klarwassersee. Algen und Fische, ein Graureiher. Da sind sicherlich auch alle tätowiert, zum Prügeln werden es zu wenige sein, die Sonne ist die gleiche und es gibt kein Mikrofon. Irgendeinen Engel wird es auch dort geben.

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