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Neohippies dösen mit Katzen

 

Unser Kolumnist trifft in Istanbul auf die großen Menschheitsfragen: Wer eignet sich welches Land an, wer flieht vor dem Volkszorn, und wer gibt das Leben in der Heimat auf?

Erster Tag meiner Ankunft, mein Vorsatz: Nähe zum einfachen Volk, raus aus dem klimatisierten Hotelzimmer. Junge Syrer fahren große Ballen auf Sackkarren durch die Gassen. Ein frommer Händler gibt Auskunft: Das sind unsere neuen Bürger, sie flohen vor den verfluchten Kopfabschneidern, jetzt sind sie hier bei uns, hier in ihrer neuen Heimat.

Das Viertel Lâleli gilt als das Schuhzentrum Istanbuls. In den kleinen Werkstätten werden Ösen, Haken und Druckknöpfe in das Leder eingesetzt, Sohlen und Schnallen angeklebt oder angenäht. Männer auf Schemeln verkaufen Plastikleisten im Dutzend. Ein dunkler Türke schneidet aus Lederresten daumengroße Rosen, die ihm der Meister vom Atelier am Ende der Gasse abkauft. Bis vor anderthalb Jahren war er Afrikaner, jetzt nennt er sich Afristanbuler. Er muss über mein kaputtes Kindertürkisch kichern. Bald bin ich von Roma und Apachen umgeben. Apachen heißen die Kurden aus Syrien. Sie nennen mich Deutschblut, es klingt gut. Sie zeigen auf die alten Häuser: Sie gehörten den Griechen, die in ihr Stammland übergesiedelt sind. Wem gehört das Viertel, wer eignet sich welches Land an, wer flieht vor dem Volkszorn, wer bricht mit dem Brauch der Ahnen und gibt das Leben in der Heimat auf, wer wird vertrieben und wer muss einen Neuanfang wagen? Ein Rom erklärt: Wir, das Zigeunervolk, kennen das. Wer liebt uns, wer hasst uns – das haben wir längst vergessen.

Der Gebetsruf erschallt, sie schließen ihre Läden ab und eilen zur Armeleutemoschee. Deutschblut wird nachdenklich, nicht lange, weil mir eine Möwe auf die Schulter kackt. Apachen eilen mir zur Hilfe, reiben mir das Spiegelei in das schwarze Hemd, sie freuen sich, sie vergleichen mich mit einem schwarz-weiß gescheckten Kalb, sie lachen und hüpfen auf der Stelle. Ihr Stinkeindianer, denke ich, da bin ich mal flüchtlingsfreundlich, und Ihr vergeltet es mir mit Schadenfreude. Ich stapfe davon, trete in eine kleine Pyramide aus Schuhleisten, ein Ex-Araber-jetzt-Türke stürmt aus dem Atelier, ich türme die Leisten wieder brav zu einer Pyramide. Dann sitzen wir auf Schemeln, trinken Tee, er lässt mich von seinem Sesamkringel abbeißen.

feridun_istanbul2Sein Vetter zweiten oder dritten Grades lebt in Hannover, er fragt, ob das eine bedeutende deutsche Stadt sei. Nun ja, sage ich, Hannover liegt in Deutschland, also ist es erwiesenermaßen eine deutsche Stadt, die Hannoveraner leben da und ziehen nicht weg, und wenn sie umziehen, dann in eine andere deutsche Stadt, also meist nicht ins Ausland. Er denkt über meine Worte nach, starrt auf das verteilte Spiegelei an meiner Schulter, klagt über heftige Kopfschmerzen, die ihn ob meiner Dämlichkeit befallen hätten.

Ich werde von Kindern angegafft, ich setze mich ab, ich streife stundenlang durch die Straßen. Alte Frauen hinter Tüllgardinen, auf Balkonen. Ein Mädchen trägt ein T-Shirt mit dem Bekenntnis: I eat glitter for dinner. Es streut Körner, und die lauernden Tauben, die sich an Simsen festkrallen, landen zu ihren Füßen, picken und hacken, obwohl große wilde Hunde in der Nähe auf der Flanke liegen. Die Hunde, sie schlafen, sie sind kastriert, man sieht sie überall. Am Galataturm kraulen Neohippies in Sandalen dösende Katzen, sie verkaufen Massagespinnen oder geflochtene bunte Freundschaftsbänder.

Der Touristentinnef der Saison ist aber die Selfie-Teleskopstange. Natürlich kracht mir ein Handy in der Halterung ins Gesicht. Der Junge will vor seiner Verlobten glänzen, ich habe ihm den schönen Schnappschuss verdorben, also klopft er mir zweimal hart auf meine befleckte Schulter. Sein Mädchen stellt sich als die Tochter einer Kritikerin heraus, die meine Bücher regelmäßig in einem Regionalblatt verreißt. Ist das die Möglichkeit, ja doch, alles ist möglich in dieser Stadt. Der Junge mault über die verbogene Selfie-Stange, das Mädchen droht ihm mit einem Abend ohne Küsse, er beschließt, mich sofort zu seinen Freunden zu zählen. Wir essen Kebab.