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Die Verschwundenen von Teneriffa

 

Zikaden, Orangenbäume, Sonnenuntergänge. Teneriffa versteht sich darauf, die Kitschmaschine anzuwerfen. Aber wer genauer hinsieht, stößt auf die Abgründe der Franco-Zeit.

Die Verschwundenen von Teneriffa - Freitext
© Oliver Elm/Wikimedia Commons

Wir kennen uns seit Langem, die Insel und ich. Die Insel hat viele Talente. Sie hat ein unfehlbares Gespür für Timing, kann Spannungsbögen aufbauen, wie wenige andere Orte, liebt Reihungen, neigt zu Knalleffekten. Darum klemmt morgens nach dem Aufwachen der Fensterladen, und wenn er endlich nachgibt, rieselt beim Aufschwingen hellbraunes Holzpulver, Termiten, in einem akkuraten Viertelkreis auf die Bettdecke. Darum steht draußen, im Nachbargarten, ein Mann zwischen den Orangenbäumen und hält eine Flinte. Und weil die Insel gerne ein wenig dick aufträgt, beugt der Mann seine Knie, macht zwei schleichende Schritte, hält inne und legt an. Der Knall ist leiser als erwartet, wenige Meter von ihm entfernt explodiert etwas Kleines zu Blut und stiebenden Haaren.

Wenig Schlaf letzte Nacht, die Frau hat wieder stundenlang „Danièl“ geschrien, sie wohnt in dem Häuserblock gegenüber der Auffahrt, „Danièl, komm her“, schreit sie, „bitte“, immer in der gleichen Tonlage. Das Wasser kocht, steigt in der Cafetera hoch, die Insel gibt keine Ruhe. Die Katzen haben ein Tier in den Patio getrieben, sitzen vor den Blumentöpfen, versuchen mit den Pfoten dahinter zu langen. Du kriegst mich nicht, sage ich zur Insel, darauf falle ich nicht rein, ich sehe nicht nach. Im Garten blühen die Strelitzien, ebenso der Wachsblumenbaum, und weil die Insel einen Hang zum Übertreiben hat, fängt beim ersten Schluck Kaffee die Danièl-Frau wieder an. Gedämpfter als in der Nacht, da stand sie am offenen Fenster und rauchte während sie schrie, zwischen orangefarbenen, sich im Luftzug blähenden Vorhängen. Im Patio wird es kurz hektisch, dann sehr ruhig, die Katzen kommen mit gemächlich langen Schritten in den Garten.

Abgetrennte Eidechsenschwänze bewegen sich weiter, drehen sich in spastischen Muskelzuckungen um die eigene Achse. Zwei sind es, sie winden sich auf dem schwarz-weißen Schachbrettmuster der Patiofliesen, einer am Eingang, der andere bei den Blumentöpfen. Danke, sage ich zur Insel, das ist reine Effekthascherei. Ich dachte, sie wäre fertig. Doch da knallt es, unendlich viel lauter als die Flinte vorhin, so, dass man es in den Zähnen fühlt, die Gläser auf dem Abtropfgitter in der Küche klirren. Die Danièl-Frau schweigt endlich. Das war ihr Fenster, denke ich, als ich unten vor der Auffahrt stehe, die orange Gardine hängt in den Akazien, Kunststoffscheibensplitter überall. Du gehst zu weit, sage ich zur Insel, viel zu weit, in dem Moment traue ich ihr alles zu. Aber die Danièl-Frau sitzt unten auf der Plaza, zwei Sanitäter rechts und links, der Schnitt an ihrem Oberarm bereits versorgt, eine Propangasflasche war explodiert.

Die Insel ist eine Drama Queen, alles ist immer ein wenig so, als würde es von Lola Flores gesungen. Nie gemäßigt, immer pathetisch. Sämtliche Vegetationszonen sind auf der Insel vertreten, steht in jedem Reiseführer, wie sollte sie da sanft sein. Eigentlich hätte ich nicht gedacht, dass sie mich noch überraschen könnte. Sie ist ein wenig ein one trick Pony, habe ich gedacht, tote Tiere wären ihr Ding. Die Insel versteckt sich gerne hinter dem ganzen Tamtam.

Durruti, Internationale Brigaden, Hemingway

Ich weiß alles über sie, habe ich gedacht. Neben der Auffahrt wachsen wildes Zuckerrohr und Kakteen, die Chumberas heißen, auf denen umgeben von einem mehligen Pulver Cochinilla, Schildläuse, leben. Als Kinder haben wir sie mit Schraubenziehern abgekratzt in einem Eimer gesammelt und zu purpurroten Tropfen zerdrückt. Ich bin unzählige Male auf dem Weg nach Las Teresitas am Colegio La Salle vorbeigefahren, habe auf dem Rücksitz Polvorones gegessen oder mit meiner Schwester gestritten. Las Teresitas ist ein weißer Sandstrand, mit reichlich Parkplätzen im Palmenschatten, Duschen alle hundert Meter. Barbuden, in denen man mittlerweile auch sitzen kann, der Fernseher läuft, alle sind Hangover, Sonnenbrillen, blondierte Haare, Liegestuhlverleih, Jetski-Verleih, Bierkastenstapel mit leeren Flaschen, die auf Abholung warten, es riecht nach Limetten und Delial-Sonnenmilch. Ich war dabei, als die Insel beim Putsch 81 panisch die Luft anhielt, Straßen leer, Rollläden heruntergelassen, was macht die Guardia Civil? – während in Madrid auf den weißen Elefanten gewartet wurde. Ich weiß, wo man eine Meldebestätigung beantragt und welche Grundsteuern zu zahlen sind. Der Bauboom der 2000er Jahre hat die Insel mit den unvermeidlichen Pastelltönen neuer Wohnsiedlungen bedeckt, in denen seit der Krise nachts die Straßenlaternen leuchten und nur noch vereinzelt ein Fenster. Die Insel ist nicht unbedingt ansehnlicher geworden in den letzten Jahren, aber ich dachte, ich weiß alles über sie.

Erst besiedelt von den Guanchen, jungsteinzeitliche Kultur berberischen Ursprungs, dann kamen die Spanier, aus der Zeit stammen die Klöster von La Laguna, sie waren mal mein Abzählreim. Santo Domingo, San Augustin, Santa Clara. Unesco Weltkulturerbe, touristisch gut erschlossen. Und danach geschah vierhundert Jahre nichts, friedliche Inseln mit Palmen und Vulkan im Atlantik, vierhundert Jahre Fischerei und Landwirtschaft. Höchstens noch ein wenig Anekdotisches. Columbus was here, Sep 1492. Nelson hat vor Santa Cruz seinen Arm verloren. Alexander von Humboldt Tage damit verbracht, den Aussichtspunkt zu finden, von dem man ihn am Besten dabei beobachten konnte, wie er den Teide bestieg. Er ließ die feine Gesellschaft der Insel mit Kutschen dorthin bringen, verteilte Ferngläser und machte sich auf den Weg.

Spanischer Bürgerkrieg? Klar, Buenaventura Durruti, Anarchosyndicalimso, Barcelona, Schlacht am Ebro, internationale Brigaden, Hemingway, Legion Condor, Guernica, Picasso.

Du musst verstehen, sage ich zur Insel, bevor man auf dir landet, fliegt man zwei scharfe Kurven. Bei der ersten sieht man nichts als Meer, bei der zweiten einen gelblichen Saum Strände, und dahinter, dicht an dicht, die Würfelstapel der Hotels, Apartmentanlagen. Von oben sieht deine Südwesthälfte aus, als wäre sie von einer weißen kristallinen Kruste bedeckt, ein mehrere Quadratkilometer großer Streifen, in dem kein Gebäude älter ist als 40 Jahre, ständig modernisiert, den Erwartungen angepasst, künstlich neu gehalten. Früher gab es hier Fischerdörfer, ich weiß, aber von denen ist nichts übrig. Niemand lebt in einer Hotelsiedlung länger als drei Wochen, sie sind gesichts-, geschichts- und gesellschaftslos, darum unterliegt man leicht dem Irrtum…

Bekehrung oder Sklaverei

Deine Mutter ist aus La Laguna, unterbricht mich die Insel, du hast die Ferien bei deinen Großeltern verbracht, in den letzten Jahren warst du monatelang hier, rede dich nicht raus.

Dein Tamtam macht es schwer, du versteckst dich hinter Knalleffekten, Kakteen und Palmen. Man verliert das Wesentliche aus den Augen, versuche ich mich zu rechtfertigen.

Die Drama Queen, ach ja, so inszenierst du mich gerne in deinen Texten, entgegnet die Insel.

Ich schiele einige Zeilen nach oben und schäme mich ein wenig.

Und dieses tiefe, jäh stockende Atemholen, deine Großmutter, wenn sie die Guardia Civil sah, ihr: wosinddieKinder-sofortinsHaus – war das auch Tamtam? Du dünkelst dich doch sonst geschichtsbeflissen, sagt die Insel süffisant.

Du hast recht, versuche ich die Insel zu beschwichtigen, aber so einfach ist das nicht.

Du hättest wenigstens mal fragen können, sagt sie.

Wir streiten eine Weile darüber, wie ignorant ich bin.

Ich könnte darüber schreiben, schlage ich vor.

Bloß nicht, entgegnet die Insel. Und warum überhaupt? Weil das Wort Konzentrationslager so schön reinhaut, am Besten gekoppelt mit einer Kindheitserinnerung, der Kontrast verstärkt die Wirkung?

Schreiben ist benutzen, liebe Insel, ist dem Stoff eine Funktion im Text zuweisen, ihn zurecht drücken, bis er ins Konzept passt, und jetzt sei still, du bist hier nur Objekt.

Die Insel war eine Kolonie. Mit allen Konsequenzen, die es bedeutete im 15. Jahrhundert eine spanische Kolonie zu werden. Das Land ging in den Privatbesitz der Konquistadoren über, die spanische Krone bekam ihren Anteil, die Guanchen durften zwischen Bekehrung und Sklaverei wählen.

Die Bevölkerung wurde durch Siedler wieder aufgefüllt, Feudalsystem, Landeigner und Landarbeiter, 1 zu 99, die Standesgrenzen undurchlässig, daran änderte sich auch in den folgenden Jahrhunderten nichts. Die Wirtschaft war geprägt durch den Anbau von Monokulturen, bei 100Prozent Exportabhängigkeit. Die erste war Zuckerrohr, die Preise brachen ein, als Kuba in den Markt einstieg, Hungersnot, Aufstände, gewaltsam niedergeschlagen. Danach kam Weinanbau, der Markt brach zusammen, als nach der Niederlage Napoleons die kontinentaleuropäische Hafenblockade aufgehoben wurde, Hungersnot, Aufstände, gewaltsam niedergeschlagen. Die Chumberas mitsamt der Cochinilla wurden aus Mexiko eingeführt, Karmin hieß das Rot das aus den Läusen gewonnen wurde, bis zur Entwicklung synthetischer Farbstoffe, Hungersnot, Aufstände gewaltsam niedergeschlagen. Bananen und Tomaten folgten, die ersten vorgewerkschaftlichen Arbeiterorganisationen entstanden in den 1870er Jahren. Die Gruppe der Oligarchen erweiterte sich zeitgleich um diejenigen, die durch den Außenhandel zu Vermögen kamen (Schiffseigner etc). In den größeren Städten bildete sich eine kleine liberale Mittelschicht heraus, eine Kunstszene. Es gab mehrere Versuche unabhängig zu werden unter britischem Protektorat, 70 Prozent der Exporte gingen dorthin, nur 4 Prozent nach Spanien, ein Teil der Oberschicht sprach englisch und verhielt sich, als säßen sie im Athenäum. In den 1930er Jahren gerieten die Bananenpreise unter Druck, Hungersnot, Aufstände, der gewerkschaftliche Organisationsgrad der Arbeiter war mittlerweile hoch, die zweite Republik wurde frenetisch begrüßt. Und enttäuschte, keine Landreform, die Bananenpreise blieben niedrig, die Oligarchen sammelten sich in den rechten Parteien, der Druck entlud sich in Konfrontationen zwischen Arbeitern und faschistischen Organisationen. Der 18. Juli 1936, der Tag des Militärputsches, verlief trotzdem verhältnismäßig ruhig. Die auf der Insel stationierten Armeeeinheiten schlossen sich dem Coup an, die Dörfer bewaffneten sich, den Truppen hatten sie nichts entgegenzusetzen, die Überlebenden flohen in die Berge.

Links, störrisch, unzivilisiert

Es gab keine weiteren militärischen Auseinandersetzungen auf der Insel, aber Tausende Tote in den nächsten Monaten. Links, störrisch, unzivilisiert, nach Unabhängigkeit strebend, die Einheit Spaniens bedrohend, die Repression, der Terror setzte sofort ein, Amtsträger der Republik, Künstler, Gewerkschafter, Parteifunktionäre wurden verhaftet.

Fyffes Ltd. war ein irischer Bananenexporteur, im September 1936 konfiszierten die Putschisten dessen Lagerhallen, ins Gedächtnis der Bevölkerung unter dem Namen Los Salones de Faifes eingeschrieben. Drei Gebäude, ehemals für 400 Häftlinge ausgelegt, im Februar 1937 waren es bereits 1.200. Enge, Hitze, unzureichende sanitäre Anlagen, Wassermangel, Krankheitsepidemien, Schuhsohlensuppe. Es gab einen abgetrennten Bereich für die offiziell zum Tode verurteilten, die vor aller Augen füsiliert wurden, und es gab die Sacas. Sacar bedeutet herausholen, nachts kam die Falange, die Guardia, mit Listen und rief Namen auf. Verlud die Menschen auf Lastwagen, erschoss sie in irgendwelchen Barrancos, stürzte sie von den Klippen oder brachte sie zum Hafen, an die Strände, nach Las Terecitas zum Beispiel, auf spezielle Boote ohne Motor und aufs Meer hinaus, wo sie ins Wasser geworfen wurden. Das sind die Verschwundenen, Los Desaparecidos, wie viele es genau waren, ist bis heute ungeklärt, Schätzungen gehen von über Tausend aus. Es gab weitere Lager, kleinere, es gab die Prision Flotante, Gefängnissschiffe, die inmitten der Kreuzfahrtdampfer fuhren.

Wer fragt, erhält Antworten. Die Alten erzählen. Von den Perdidos, den Verlorengegangenen, die sich in den Bergen versteckten, frierend und hungernd, ihre genaue Anzahl ist ungeklärt. Nachts gingen sie in die Dörfer, ihr müsst euch wehren, schrien sie, ihr müsst kämpfen, sie bringen uns alle um. Niemand ist zu ihnen gegangen, die Guardia hat diejenigen, derer sie habhaft wurde, in den folgenden Nächten begleitet, um zu sehen, wer half. Von Denunziation erzählen sie. Dass klar war, dass man im Dunkeln die Straßen nicht benutzte, sondern sich durchs Unterholz tastete. Dass klar war, was ein laut aufgedrehtes Radio bedeutete. Wenn jemand abends nicht zum Essen kam, konnte er Glück gehabt haben, und am nächsten Tag am Straßenrand wieder auftauchen, Alltagsterror, willkürlich mitgenommen werden, zusammengeschlagen werden, irgendwo ausgesetzt werden. Wer konnte, ging ins Exil, auf klapprigen Booten nach Marokko.

Aus der Oberschicht erwischte es diejenigen, die Cheers nicht rasch genug gegen Por la patria austauschten, Straßen wurden unbenannt, Bräuche, die nicht spanisch genug waren, verboten. Und irgendwann kehrte Ruhe ein, die Bevölkerung schockstarr, das Franco Regime fest etabliert, Fyffes wurde aufgelöst. Auf dem Gelände wurde das Colegio la Salle gebaut. Der Hunger blieb, bis das Franco Regime in den 1960ern die letzte Monokultur auf den Inseln einführte, den Massentourismus. Die Landeigner verdienten mit, die 99 Prozent putzten, kochten, kellnerten und blieben die 99 Prozent. Und der wahrste Satz zur Insel steht an unsere Gartenmauer gesprüht: Esta tierra es jodida, siempre fue, siempre va a estar. Dieses Land ist gefickt, war es immer, wird es immer sein.

Die Sonne geht über dem Meer unter, Santa Cruz verschwindet im Dunst, die Luft riecht unglaublich, Zikaden usw. Es wäre vielleicht einfacher, dich wirklich zu sehen, wenn du nicht jeden Abend die große Kitschmaschine anwerfen würdest, sage ich in einem letzten dummen Versuch mich zu verteidigen. Die Insel antwortet nicht. In der neuen Siedlung leuchtet ein einzelnes Fenster und Lola Flores singt „Ay Pena, Penita, Pena“.

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