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Die Wahrheit nach Dr. Dre

 

Nach 16 Jahren legt der Rapper ein völlig unreales Album vor. „Compton“ ist ein buntes, nostalgisierendes Täuschungsmanöver und eine misogyne Dummheit.

ComptoncoverSchlechte Zeiten für Gangsta-Rapper: Die Zahl der Gewalttaten in Compton ist im vergangenen Vierteljahrhundert kontinuierlich zurückgegangen. Ende der achtziger Jahre, als die Hip-Hop-Formation N.W.A. ihr kontroverses erstes Album Straight Outta Compton veröffentlichte (und damit dem Genre des Gangsta-Rap zum internationalen Durchbruch verhalf), wurden in der südkalifornischen Stadt noch alljährlich an die 100 Morde verübt.

2014 waren es nur noch ein Viertel so viele. Die junge Bürgermeisterin initiiert seit dem vergangenen Winter regelmäßig friedliche Begegnungen zwischen den Anführern der beiden wichtigsten Gangs, den Crips und den Bloods. Und der neue Slogan der Stadt lautet: Birthing a New Compton − der alte amerikanische Traum von Verfall und Wiedergeburt.

Vielleicht liegt es daran, dass Dr. Dre schon vor Jahrzehnten aus dieser krisengeplagten Ecke von Los Angeles weggezogen ist − auf seinem neuen Album Compton ist von solchen sozialen Entwicklungen jedenfalls wenig zu hören. Der Realitätsverlust zeigt sich schon beim Blick auf das Cover (bislang ist das Album nur digital über iTunes zu beziehen, aber am kommenden Freitag wird es nach zweiwöchiger Schonfrist auch auf CD erscheinen): „COMPTON“ steht spiegelverkehrt in großen, hollywoodesken Lettern am unteren Bildrand – aber der Blick geht, wie üblich, auf die Hollywood Hills, dahinter sieht man die Skyline von Downtown Los Angeles … Das tatsächliche Compton dürfte irgendwo rechts dahinter liegen, wo sich Smog und Hitzeflimmern zu einer undurchdringlichen Luftsuppe vermengen.

Das Intro betitelte erste Stück des Albums bleibt ähnlich dunstig – und ebenfalls in Hollywood hängen. Eine von dem klassisch ausgebildeten Trompeter Dontae Winslow geschriebene, dramatisch orchestrierte Fanfare kündigt nach Art eines Studiotrailers das bevorstehende Œuvre an. Dann schaltet sich ein altmodischer Fernsehansager dazu und referiert zu kinematisch anschwellenden Akkorden die traurige Mär von Aufstieg und Fall des Städtchens am Los Angeles River: „Compton was (…) ‚the Black American Dream‘. Open housing paved the way as middle-class blacks flooded into the city. (…) Now with 74 percent of the population, black power is the fact of life. (…) But the dream that many blacks thought they were buying has turned sour. (…) Juvenile gang activity, muggings, small robberies make some blacks want to leave.

Uralte Compton-Klischees

Das klingt zunächst wie ein unlizenziertes Sample des L.A.-Stadtsoziologen Mike Davis und scheint das Album in der gesellschaftlichen und politischen Realität von South Central Los Angeles zu verankern. Bei näherem Hinhören handelt es sich aber um Zahlen und Fakten, die beinahe so betagt sein dürften wie der nun auch schon 50-jährige Dr. Dre. Die meisten Afro-Amerikaner sind längst aus Compton weggezogen, sie machen nur noch etwas mehr als 30 Prozent der Bevölkerung aus − die überwältigende Mehrheit, nämlich 65 Prozent, sind inzwischen Latinos bzw. Latinas.

Anders gesagt: Der Introtext ist nichts weiter als eine gefällige Soundtapete, die geklebt wurde, als der kleine André Young noch mit einer Wasserpistole spielte. Die gegenwärtige soziale Realität von South Central dürfte ihm − auch wenn er angekündigt hat, alle Erlöse des Albums für die Errichtung eines Kulturzentrums in seiner Heimatstadt zu spenden − inzwischen so fremd sein wie das Leben am Polarkreis.

Und wie sollte es auch anders sein? Dr. Dre mag zwar finanziell noch nicht in der Lage sein, ganz Kalifornien zu kaufen, wie er in einer hübschen Hyperbel im Song Talk About It prahlt („I just bought California / Them other states ain’t far behind it either“). Aber spätestens seit seinem Deal mit Apple, als er im vergangenen Jahr seine Kopfhörerfirma Beats by Dre für 3,6 Milliarden Dollar nach Cupertino verkaufte, ist er mit Abstand der reichste Hip-Hop-Künstler der Welt. He is the 1 percent.

Kritische Zwischenfrage: Ist das nicht wurschtegal? Gehört es nicht zum kleinen Einmaleins der Literaturkritik, zwischen dem historischen Autor und der literarischen Persona, zwischen Fakt und Fiktion zu trennen? Eigentlich schon – wenn Rap im Allgemeinen und Gangsta Rap im Besonderen nicht eine Gattung wäre, die geradezu vom Authentizitätswahn besessen ist und genau diese Unterscheidungen stets verneint hat. Wie ein mittlerweile zu Tode zitiertes Hip-Hop-Bonmot lautet: Keep it real. Oder um den (mittlerweile verstorbenen) Eazy-E zu zitieren, der zusammen mit Dr. Dre und Ice Cube den kreativen Kern von N.W.A. bildete: „We’re telling the real story of what it’s like living in places like Compton. We’re giving (the fans) reality. We’re like reporters. We give them the truth.“ An diesem Anspruch muss sich ein Gangsta-Rap-Meilenstein mit einem monolithischen Titel wie Compton schon messen lassen.

Misogyne Skits

Wie sieht sie also aus, the truth according to Dr. Dre? Nun, die größte Bevölkerungsgruppe der Stadt, die Hispanics, kommt überhaupt nicht vor. Angehörige einer anderen signifikanten Gruppe − die Frauen − dürfen zwar hin und wieder einen Refrain oder Hook singen, haben ansonsten aber keine Stimme. Moment, doch: In einem Mini-Hörspiel am Ende des − von den Gastrappern Xzibit und Cold 187 um im Übrigen atemberaubend gerappten − Stücks Loose Cannons darf eine Frau verzweifelt um ihr Leben flehen, bevor sie ohne weitere Angabe von Gründen erschossen und wie ein Hund verscharrt wird. Und in dem Stück Medicine Man prahlt Eminem als Gaststar, dass selbst seine Vergewaltigungsopfer einen Orgasmus haben.

Klar: Solche misogynen skits und signifyings gehören zum Gangsta Rap wie der Liebestod zur romantischen Oper. Aber: Leider spiegeln sie eben auch eine soziale Realität (und wiederholen sie symbolisch). Dr. Dre stand wiederholt wegen gewalttätiger Ausschreitungen gegen Frauen vor Gericht − in Sachen Frauenfeindlichkeit kann er also womöglich doch aus dem autobiografischen Vollen schöpfen. Die geballte Verachtung für schwarze Frauen ist in der amerikanischen Kultur und Gesellschaft mittlerweile so allgegenwärtig, dass die afro-amerikanische Theoretikerin Moya Bailey für diesen Portemanteau-Hass den Begriff „misogynoir“ geprägt hat. In Anverwandlung eines berühmten Buchtitels von James Ellroy könnte man also sagen: Compton ist L.A. Misogynoir.

Und sonst? Den mutmaßlich authentischsten − und auf bizarre Weise bedrückenden − Bericht aus seinem Alltag liefert Dr. Dre im Song All in a Day’s Work: Darin beschreibt er sein protestantisches, ja ans Neurotische grenzendes Arbeitsethos, das ihn wieder und wieder ins Aufnahmestudio treibt, obwohl er sich als zertifizierte Rap-Legende und Beinahe-Milliardär doch längst seinem Golf-Handicap oder der Orchideenzucht hätte widmen können: „Rich as fuck, but, guess what, I’m back to work / Overseas, back home, no time to sleep, I’m back to work / So many people that I love, they want my time, but I got to work / Some of my friends don’t understand, shit, I got to work …“ Am Ende hört man sogar das Kettenklappern und den brummenden Gesang einer chain-gang − gerade so, als befände sich der Rapper bei der Sklavenarbeit im Steinbruch. Selten wurde die Internalisierung äußerer Machtverhältnisse derart schonungslos und präzise beschrieben; Michel Foucault hätte seine helle Freude gehabt.

Gangsta Rap wird historisch

Und noch etwas hätte dem Poststrukturalisten gefallen: Der weitaus größte Teil von Dr. Dres Texten auf Compton stammt, selbst wenn sie persönliche Kindheitserinnerungen beschwören oder einen intimen Dialog mit dem Tagebuch (Talking to My Diary), gar nicht von Dre selbst, sondern aus der Feder seiner Ghostwriter: vornehmlich von seinem Protegé King Mez sowie einem jungen (und nebenbei bemerkt: weißen) Rapper aus Texas, der 1991, als N.W.A. sich auflösten, noch nicht einmal geboren war. Ähnliches geschieht bei der Performance: Mal klingt Dr. Dres Flow wie der von Kendrick Lamar, mal wie der seiner Ghostwriter, und auch seine musikalischen Gäste emulieren andere Stile. Der Hook der Ghetto-Reportage Genocide klingt, als käme er straight outta Compton, wird aber von einer R’n’B-Chanteuse aus Liverpool gesungen. Und die erste Strophe des Songs besticht durch breites jamaikanisches Patois – dabei kommt die Sängerin aus Südafrika.

Kurz: Mit Compton tritt der Gangsta Rap, passend zum Filmstart des N.W.A.-Biopics Straight Outta Compton, in die Phase seiner Historisierung ein. Er wird vom Volks- zum Kunstlied − das eben nicht wahrhaft oder falsch sein kann, sondern nur gut oder schlecht. Endlich kann jeder bzw. jede ein_e Gangsta Rapper_in sein; unabhängig von Herkunft, Hautfarbe, Geschlecht, Religionszugehörigkeit oder sexueller Orientierung. So gesehen handelt es sich bei Compton, von hässlichen misogynoiren Ausfällen abgesehen, sogar um ein ziemlich gutes, ja ein befreiendes Album.

Keep it unreal.

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