Nach dem Urlaub kommen die Vorwürfe: Wieder keine Karte an die Lieben geschrieben! Das ist auch für die Postkarte kein schöner Zustand. Hier darf sie sich aussprechen.
Hallo Freunde,
ich bin es, Eure nicht verschickte Urlaubspostkarte. Huhu! Na? Seid Ihr gut wieder zu Hause angekommen? Ich bin immer noch hier, falls ihr Euch das fragt. Immer noch in diesem Postkartenständer. Ist okay. Manchmal wird der Ständer gedreht, dann kreischen wir hier alle sehr leise und sehr bemüht, und am Ende bleibt man meist an irgendeiner neuen Position stehen. Über fehlende Abwechslung kann ich mich also nicht beklagen.
Und es ist voll in Ordnung, dass Ihr mich nicht verschickt habt. Es ist ja die Geste, die zählt. Und die Geste war halt, sich vorgenommen zu haben, eine Urlaubskarte zu verschicken. Das ist eine schöne Geste. Viel schöner, als sich zum Beispiel vorzunehmen, auf gar keinen Fall eine Karte zu verschicken oder jemand Fremdes in die Seite zu zwicken. Ihr seid im Grunde gute Menschen, das weiß ich, das weiß ich sicher.
Einmal hattet Ihr mich sogar schon in der Hand, erinnert Ihr Euch? An eurem zweiten Urlaubstag? Ich erinnere mich genau. Das hat sich gut angefühlt. So halbherzig, so unentschlossen. Und natürlich habt Ihr dann gedacht, dass es albern wäre, mich heute zu kaufen und heute zu schreiben und heute zu verschicken, weil der Urlaub ja gerade erst angefangen hatte. Was soll man da auch schon schreiben? Dass man einen tollen Urlaub hat? Das weiß man ja noch gar nicht, das wäre fahrlässig. Ihr wolltet eure Lieben daheim nicht belügen. Vielleicht tritt man am selben Tag noch in einen Seeigel oder bricht sich ein Bein oder bricht jemand anderem ein Bein, und ich wäre dann schon längst auf dem Weg und vollkommen irreführend.
Außerdem konntet Ihr Euch nicht sofort entscheiden zwischen mir und der, die fast genau so aussah wie ich, nur mit mehr Rand, und im Urlaub wolltet Ihr nicht schon wieder Entscheidungen treffen, das müsst Ihr beruflich und privat schon genug. Erst mal entspannen, habt Ihr Euch verdient. Und dann kam eines zum anderen, und huch, der Urlaub schon vorbei, schade und schön, und am letzten Tag kann man dann auch nichts mehr verschicken, das kann man dann ja alles selbst erzählen, ist auch viel persönlicher. Verstehe ich. Echt. Ist mir auch schon so gegangen. Obwohl: nein, ist mir nicht so gegangen, ich bin eine Postkarte. Ich habe noch nie Postkarten an meine Freunde geschrieben. Ich habe auch sehr wenige Freunde. Beim letzten Zählen waren es genau null. Beim vorletzten Zählen waren es auch null. Beim vorvorletzten Zählen war es einer, aber da hatte ich mich vertan. Ich kann nicht besonders gut zählen.
Aber es reicht mir jetzt. Ihr habt mich nicht gekauft und nicht verschickt, okay, aber dafür schreibe ich mich jetzt selbst. Dagegen könnt Ihr nichts machen. Und ja, ich weiß, das alles hier passt nie und nimmer auf eine Postkarte. Das müsst Ihr mir nicht erzählen. Aber auch dagegen könnt Ihr nichts machen. Jetzt entscheide ich.
Und ich entscheide, dass Ihr ab sofort meine Freunde seid. Das seid Ihr mir schuldig. Ihr seid jetzt meine besten Freunde. Für immer. Wir werden nie wieder getrennt sein. Wir werden viel Spaß zusammen haben. Wir werden all die Dinge machen, die beste Freunde so machen. Die müsst Ihr mir beibringen, ich weiß das ja alles nicht. Vielleicht stapeln wir etwas, oder wir werfen irgendwas irgendwo herunter. Das klingt lustig. Ist das lustig? Lachen wir dann? Ihr müsst mir zeigen, wie man lacht. Dafür zeige ich Euch was anderes. Wie man nicht lacht, zum Beispiel. Wir lernen voneinander, und wir werden nie mehr einsam sein, werden nie mehr im Wind flattern, nie mehr geknickt sein. Wir werden nie mehr so tun, als warteten wir auf jemanden, obwohl wir schon längst auf niemanden mehr warten, obwohl wir einfach nur da sind, genau da oder etwas weiter links oder rechts oder weiter hinten. Freut Ihr Euch auch wie verrückt? Dreht mich um! Los, dreht mich um! Seht Ihr den blauen Himmel? Sehr Ihr die Dünen? Das sind doch Dünen, oder? Seht Ihr den Leuchtturm? Das ist doch ein Leuchtturm, oder? Auf mir ist ein Leuchtturm abgebildet, aber ich habe keine Ahnung, was ein Leuchtturm ist. Leucht, leucht. Wollen wir zum Leuchtturm fahren, alle gemeinsam? Ich weiß, Ihr wart gerade erst da. Ich aber habe den echten Leuchtturm nie gesehen, auf mir ist er schön, aber vielleicht ist er in echt viel schöner.
Haltet mich fest und tragt mich vor Euch her. Schau, das ist das Meer, sagt Ihr dann, und ich staune. Schau, das ist die Strandpromenade, sagt Ihr, und ich staune. Schau, das ist eine unvergessliche Sommernacht, sagt Ihr, und ich staune, ich staune unvergesslich. Und schaut, das ist Verbundenheit, sage ich irgendwann, und Ihr sagt: Ja, genau, das ist Verbundenheit, und ich bin immer weniger Postkarte und Ihr immer weniger das andere. Wir werden gemeinsam frühstücken. Ich frühstücke gerne und nie. Und weil der Tag lang ist, schlägt einer von Euch vor, Postkarten zu schreiben. Und ein anderer wird sagen: Aber an wen denn, wir sind doch alle hier? Und dann lachen wir, weil ich mittlerweile weiß, wie man lacht, weil ich es schon fast am besten von uns allen kann, und wir schreiben dann trotzdem Postkarten, wir schreiben sie alle voll, wir schreiben: „Viele Grüße“, und es sind tatsächlich viele, wir schreiben „Das Wetter ist herrlich“, und es ist tatsächlich herrlich. Wir schreiben „Auf der Rückseite seht Ihr einen Leuchtturm, der in echt noch schöner ist“, und wir lügen damit nicht. Wir sind aufrichtig. Wir sind reinen Herzens. Wir sind beste Freunde und können nichts dagegen machen. Und wenn doch, dann machen wir es einfach nicht.
Alles Liebe,
Rolf
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