Lesezeichen
‹ Alle Einträge

Menschenrechte im Schlussverkauf

 

Menschenrechte, na klar – aber bitte nur unsere eigenen! Die Schweizerische Volkspartei versucht mal wieder, demokratische Instrumente in Wahlkampf-PR umzumünzen.

SVP: Menschenrechte im Schlussverkauf - Freitext
© Reuters/Ruben Sprich
Ausblick über Horrenbach-Buchen, wo der Einwanderungsplan der SVP die meisten Anhänger hat.

Am Helvetiaplatz gleiten leise und pünktlich Straßenbahnen vorbei, gemächlich fließt das Schwyzerdütsch um mich. Als Gott Tag und Nacht schuf, schnitt er für die Schweizer die Zeit ein wenig großzügiger zurecht als für den Rest der Schöpfung. Die Schweiz, das ist das Land der Neutralität und der Volksbefragungen, der florierenden Privatbanken und Sitz so vieler internationaler Organisationen, eigenbrötlerisch und zugleich weltläufig, ach Schweiz, wären wir nur alle so wie du!

Erst als ich umständlich Franken aus meinem Portemonnaie krame, um meinen Kaffee zu bezahlen, der drei Mal so viel kostet wie in Berlin, fällt mir der Regen auf und die dunklen Wolken, die über Zürich hängen, und wie wenig ich mir diese Stadt leisten kann. Neben allem anderen ist die Schweiz auch der Ort, an dem privilegierte Westeuropäer das Wohlstandsgefälle einmal von unten und nicht von oben aus zu spüren bekommen – Zuwanderungsprobleme de luxe, derweil die Schweizer sich über die Flüchtlinge den Kopf zerbrechen und über die Frage, wann das sprichwörtliche Boot mal wieder voll ist.

Aber es gibt ja schließlich eine gute Nachricht: In der Schweiz achtet man die Menschenrechte. Man achtet sie dort so sehr, dass sie ausreichend in der eidgenössischen Verfassung bedacht sind, so jedenfalls sieht es die Schweizer Volkspartei (SVP). Und hier hört der gute Teil der Nachricht leider auch schon wieder auf. Die SVP achtet nämlich insbesondere die eigenen Menschenrechte oder, um es präziser zu sagen: Sie achtet die Menschenrechte, wie sie in der Schweizer Verfassung festgelegt sind und von Schweizer Institutionen ausgelegt werden.

Dass es darüber hinaus auch etwas wie das Völkerrecht gibt, die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) und einen Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg, der über die Auslegung in eigener Hoheit verfügt, das gefällt der SVP nicht so sehr. Aus ihrer Sicht behindere Straßburg die Schweizer Volksbefragungen, und gefährde die Schweizer Souveränität. Die SVP hat darum eine Bürgerinitiative gestartet, um das einmal genau zu hinterfragen – und sich gegebenenfalls, wenn der Bürgerwille es denn so entscheidet, von Straßburg zu emanzipieren und die Menschenrechtskonvention aufzukündigen. „Die Bundesverfassung steht über dem Völkerrecht und geht ihm vor“, heißt es da.

Aufkündigen der Menschenrechtskonvention – allein die Forderung ist abstrus, die Umsetzung wäre fatal, aber das kann die SVP nicht schrecken. Im Gegenteil, je lauter, desto besser. Die Partei hat sich seit Jahren darin perfektioniert, die so bewunderten basisdemokratischen Instrumente der Schweiz erfolgreich zu einem PR-Mittel zu degradieren. Seit den 1980er Jahren zunehmend von einer konservativen zu einer rechtspopulistischen Partei umgestaltet, lancierte sie etwa im Jahr 2010 die Anzeigenkampagnen: Ausländer?Volksbefragung.ch, daneben das Parteilogo SVP – Schweizer Qualität. So wird Wahlkampf in einem Dauerzustand gehalten.

Der aktuelle Slogan lautet: „Fremdbestimmt? Nein danke!“ Auf der Internetseite der Kampagne ist ein geducktes, in Schweizer Nationalfarben gekleidetes Männlein zu sehen, umgeben von riesigen, düsteren Gesichtern, die offensichtlich die böse Kolonialmacht Europa darstellen sollen. Die Botschaft ist klar: Eigentlich kann jetzt nur noch Wilhelm Tell alias SVP-Vorsitzender Toni Brunner helfen. „Schweizer Recht geht fremdem Recht vor“, ist die Forderung, die tapfere SVP will „die Schwächung und Aushebelung der Volksrechte bekämpfen“.

Nationalstolz trifft auf Nationalklischee und wird mit abstrusen Unterjochungsängsten kombiniert, Volksrecht gegen Völkerrecht ausgespielt. Lässt man das populistische Getöse einmal beiseite, hört man gleichwohl Töne, die in den derzeitigen europa- und bürokratiekritischen Diskussionen schon überall vernommen worden sind: Straßburg (wie in anderen Debatten ja auch Brüssel als Sitz des Europaparlaments oder Frankfurt als Sitz der EZB) ist demokratisch schwächer legitimiert als die nationalen Richter, Abgeordneten und Tugendwächter, und ein Zuviel an Europa schade der nationalen Autonomie und gefährde sogar die Demokratie.

Nun darf man gerade im Schweizer Beispiel nicht übersehen, dass in einem auf Gewaltenteilung basierenden Staat die Legitimation der Justiz nicht mit einem demokratischen Wahlverfahren abgehandelt ist. Unserer Staatsauffassung liegt eben nicht nur die griechische „Demokratie“ zugrunde, sondern auch die römische „Republik“, und die hat ihre eigenen Ideale. In manchen Punkten widersprechen sich Demokratie und Republik sogar aufs fast Unvereinbare. „Eine Republik kann eine Verfassung haben“, schreibt der britische Philosoph Raymond Geuss, „und kann als ‚Rechtsstaat‘ auftreten, sofern in ihr ‚verfassungsmäßig‘ verfahren wird; diese Vorstellung – Verfassung, Rechtsstaatlichkeit, unabhängige Gerichtshöfe – sind aber dem ganzen Ethos der Demokratie fremd.“ Und weiter gibt es zu bedenken: „In besonders verkrusteten Republiken“, schreibt Geuss, „stößt man wiederholt auf den Traum einer Abschaffung aller Institutionen. Es fragt sich nur, ob dieser Traum nicht gerade das in einem schlechten Sinne ‚utopische‘ Gegenstück zum verkrusteten Zustand darstellt.“

Zudem kann nationale Selbstbestimmung natürlich nur in Bereichen sinnvoll eingefordert werden, die tatsächlich autonom denkbar und auf nationaler Ebene verhandelbar sind. Die Menschenrechte sind eine völkerrechtliche Errungenschaft und die Übereinkunft der EMRK ein Verdienst, den man nicht für eine plumpe Wahlkampfmasche in den Schlussverkauf werfen sollte. Der Wunsch nach klarer demokratischer Legitimation hingegen, überhaupt die Sehnsucht nach Basisdemokratie, die Hoffnung auf das politische Gelingen durch direktere Beteiligung der Bürger, wie sie etwa mit der liquid democracy ausprobiert werden, floriert überall in Europa, in linken wie rechten Milieus, aber auch ganz in der Mitte, und es schwelt ein Unbehagen gegenüber den als intransparent und gleichsam übermächtig empfundenen Institutionen.

Der SVP sind diese Wünsche und Sehnsüchte wohl vornehmlich eine Vorbereitung auf die Schweizer Parlamentswahl im Oktober. Gleichwohl schafft sie es, daraus die bittersten Blüten von allen hervorzubringen, denn was die Straßburger Richter mit ihren Menschenrechten am schärfsten bedrohen, ist eine Schweiz, die nur den Schweizern bleibt. „Völkerrechtsprofessoren argumentieren, der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gehöre im Bereich der Menschenrechte zum zwingenden Völkerrecht“, beklagt die SVP, „womit sie geltend machen, Initiativen wie die Ausschaffungs- und die Durchsetzungsinitiative dürften nicht umgesetzt werden bzw. müssten für ungültig erklärt werden.“ Und es kommt noch schlimmer. „Die Volksinitiative ‚gegen Masseneinwanderung‘ soll nach Meinung gewisser Politiker und Rechtsprofessoren wegen der bilateralen Verträge mit der EU nicht umgesetzt werden.“

Arme SVP. Ihr bleibt eben nur, das Wort Mensch in zwei Kategorien zu teilen, in Schweizer und all jene, die etwas von der Schweiz wollen – und so den Institutionen den Apfel vom Kopf zu schießen. Um mit Schiller zu sprechen: „Mach deine Rechnung mit dem Himmel, Vogt, fort mußt du, deine Uhr ist abgelaufen.“

_________________

Sie möchten keinen Freitext verpassen? Aufgrund der großen Nachfrage gibt es jetzt einen Newsletter. Hier können Sie ihn abonnieren.