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Schlamm-Murat zerbeißt Transensocken

 

Per Bus von Istanbul nach Frankfurt? So mittelwitzig. Pöbelnde Sitznachbarn, Angst an der Grenze. Plötzlich klebt dem Fahrer eine Brustwarze im Gesicht. Das Fax der Woche

Tag der Rückreise. Der Digitalwecker im nicht bezogenen Nachbarzimmer klingelt seit 4.05 Uhr, ich rufe die Gastbetreuung an. Wecker verstummt um 4.29 Uhr. Schlaf unmöglich. Liege im Bett wie eine frisch geschlüpfte denkende Made. Option 1: Zugfahrt von Istanbul nach Frankfurt. Sechs Umstiege, unter anderem in Dimitrovgrad, Budapest Nordbahnhof, Budapest-Keleti. Dauer: 47,04 Stunden. Nix. Option 2: Busfahrt. Ja. Laufe nach dem Frühstück im geduckten Galopp zur Apotheke. Apothekerin misst Knie-, Waden- und Fußknöchelumfang, reicht mir die passenden Thrombosestrümpfe. Beim Hochziehen reiße ich mir zwei Büschel Beinhaare aus. Besser Bein als Arsch, sagt der Pförtner beim Abschied.

Tumult im Busbahnhof. Ich bekomme den Sitzplatz 1, Stinkstiefel erhebt darauf Anspruch. Sitzstreik im Gang. Freund des Stinkstiefels flüstert mir ins Ohr: Überreiz es nicht! Das ist Schlamm-Murat. Der kann mit einem Biss deine dicken Transensocken zerfetzen … Bin todesmutig, ich weiche nicht.

Per Bus von Istanbul nach Frankfurt
Faksimile des Faxes von Feridun Zaimoglu

Ein fliegender Händler steigt ein und brüllt: Meine Taschen sind der Tod der Tüten. Fünf Piaster das Stück … Schlamm-Murat verzieht sich nach hinten, Höker wird alle Taschen los. Abfahrt. Dreißig Minuten später Abzweig. Leeres großes Brachland. Verhandlungen am Telefon: Wo, verdammt noch mal, sind die fünf Fahrgäste? Auf zum nächsten Parkplatz, fünf grinsende Bulgaren sitzen auf großen Koffern. An der Grenze wird ein Bulgare in Handschellen abgeführt. Er strahlt uns an, wir wünschen ihm eine saubere Einzelzelle, der Polizist sagt, wir sollen uns keine Sorgen machen: Kleines Delikt, kurze Vernehmung.

Rast in Bulgarien. Angriff der Killerfliegen. Rein in den Bus. Schlamm-Murat ruft: Mann oder Transenstrumpf – jetzt entscheidet es sich! … Die Männer rollen Zeitungen und Zeitschriften, klatschen die Fliegen tot. Der Fahrer ist stinkig, Blutschmier an den Kopfstützen, an den Fenstern und an seiner Wange: Er hat sich hart geohrfeigt, weil eine Killerfliege auf seiner Wange gelandet ist. Fahrer 2 schickt ihn in die Schlafkoje.

Sofia, halb zehn Uhr nachts, verdunkelt, da und dort spärliches Gespensterlicht. Straßenlaternen, Galgengerüste, Arme von Riesen in der Finsternis. Werbetafel erloschen. Die Wohnungen sind schwarze Waben. Huschende Frauen und Kinder. Ich denke: Es fallen keine Bomben, es herrscht kein Krieg und doch: Friede ohne Elektrizität ist undenkbar.

Serbische Grenze. Zöllner befragen lange ein mazedonisches Ehepaar, junge Frau drückt Säugling an die Brust. Bange Minuten. Bleiben sie oder verlassen sie uns? Sie steigen ein, Jubel, serbische Zöllner klatschen mit. Ich nicke ein, ich werde wachgerüttelt von meinem Nebenmann. Er sagt: Was hast du geträumt? Los, sag es, sofort …Wieso? Nebenmann: Du hast mit den Lippen getrillert und viel Spucke geschluckt … Ich trinke eine kleine Wasserflasche leer, drehe mich um. Schlamm-Murat starrt mir Löcher in den Hinterkopf. Fahrer 2 bekommt auf dem nächsten Parkplatz Applaus: Er fuhr 480 km durch, wir sind in Kroatien. Gymnastik der Alten und Jungen: ausschreiten, auf einem Bein stehen wie ein Storch. Arme strecken, als wolle man den Verkehr regeln. Hüpfen, in der Luft boxen. Schlamm-Murat führt die Halbstarken an. Fast rechne ich damit, dass sie unter den Drahtzaun auf die Viehweide kriechen.

Fahrer 1 bellt uns zusammen, weiter geht’s. Ein Mann von der Schwarzmeerküste von einem der hinteren Sitze muss kacken. Kein Aufschub möglich. Halt im Niemandsland. Alte Dame sagt eine Stunde später: Pippi, sonst Debakel. Halt auf dem Rasenstreifen, wilde Hunde verbellen die Dame. Fahrer 1 hat schlecht geschlafen, die Bissbeule an seiner Wange sieht aus wie eine Brustwarze. Er verbittet sich per Mikrofon blöde Witze, er wird gleich Teebeutel und Tütenkaffee verteilen, ein zweites Mal mit der Heißwasser-Thermoskanne herumgehen, wer Saug- und Nuckelgeräusche macht, kommt auf seine schwarze Liste. Er wird dann einfach abwarten, bis die betreffende Person einschläft, dann schleicht er sich heran und brüllt der öden Eule ins Ohr.

Totenstille im Bus, ein paar Schleimer lassen ihn hochleben. Leider muss ich bei seinem Anblick wiehern. Mein Vorsatz: kein Schlaf bis zum Endhalt. Einmal schrecke ich hoch, drehe mich um: Er starrt durch die Lücke zwischen den Sitzen, fast hätte er mich gekriegt. Liege ohne Strümpfe um Viertel nach vier im Bett. Istanbul brennt nach.

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