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Diese winzige, widerliche Sekunde

 

Die schlimmsten Momente im Sport sind, wenn Schmerz ist, wo eben noch Kraft war. Ob Wut oder Verzweiflung des verletzten Robin Benzing beim EM-Auftakt größer war?

Robin Benzing: Diese winzige, widerliche Sekunde - Freitext
Trost für Robin Benzing (© Tilo Wiedensohler)

Eine winzige, widerliche Sekunde: Im Auftaktspiel gegen die Isländer bekommt Flügel Robin Benzing an der Freiwurflinie den Ball, in Zeitnot und Bedrängnis, die Wurfuhr tickt und tickt und Benzing muss den Ball loswerden, schafft das auch und wirft im Nach-hinten-Fallen, aber landet dann, knickt weg. Vielleicht war es der Fuß von Jakob Sigurdason. Eine winzige Sekunde nur, dann schlägt Benzing auf den Boden, krümmt sich, verzieht das Gesicht. Sein Team springt auf und rennt zu ihm. Doc Neuendorfer und Alex King heben Benzing hoch und helfen ihm zur Bank, eigentlich schleppen und schleifen sie ihn.

Ich habe mir vorgenommen, jedes Spiel dieser Basketball-Europameisterschaft mit anderen Augen zu sehen: mit Spielermüttern, Basketballlegenden, Sponsoren und Ultras, Schauspielern und Schwarzmarkthändlern, Videoanalysten und Spieleragenten.

Heute sitze ich auf der Pressetribüne. Fünf Reihen voller Basketballjournalisten aus allen Ecken der teilnehmenden Welt, Isländer und Spanier, Türken und Italiener, ein paar Amerikaner und Al Jazeera sind auch da. Die serbische Fachpresse. Die meisten hier kennen sich, High Fives und Umarmungen, man hat schon viele Turniere nebeneinander kommentiert und teilt die buntesten Catering- und Biergeschichten. Die Sandwiches in Belgrad 2005! Die Hühnersuppe von Indianapolis 2002!

Ich sitze neben Johannes Herber, der vor gar nicht langer Zeit selbst noch Nationalspieler war und jetzt für die Frankfurter Allgemeine hier sitzt. Notizbuch und Rotstift, Scoutingpapiere und Kaffeebecher. Was rede ich: Im Grunde ist er immer noch Nationalspieler, größer und fitter als wir anderen Pressefuzzis. Zu den Hymnen steht die Halle auf, bei Herber sieht es würdevoller aus als bei uns, irgendwie gerechtfertigter. Athleten bleiben Athleten. Ständig kommt jemand und fragt, ob er nicht doch mitspielen wolle. All die Verletzten, Joe! You could help, Joe, seriously! Guck dich an, Joe! Fit! Für zehn Minuten reicht’s noch, Joe! Und Herber lächelt nachsichtig und hinter der Nachsicht melancholisch, weil er weiß, dass es so einfach nicht ist. Und weil er weiß, wie es war, dort unten zu stehen und zu spielen. Wie groß und gut.

Johannes Herber hat den Übergang vom Spielfeld auf die Tribüne in größtmöglicher Würde hinbekommen. Nach zwei Kreuzbandrissen, monatelangen Rehas, nach jahrelangen Kämpfen mit dem Rücken und den Füßen, hat er mit 29 die Schuhe in die Ecke gestellt und ein großartiges Basketballbuch geschrieben, Almost Heaven. Er liebt das Spiel, er versteht das Spiel, das hat man damals gesehen, und jetzt kann man es lesen. Er schreibt bei den Kollegen der FAZ eine EM-Kolumne, auf der Pressetribüne diskutieren wir über die Taktik, über Bewegungen und Spielsequenzen, über die Schönheit und Härte des Spiels, und dann knickt Robin Benzing um.

Diese widerliche, winzige Sekunde. Wenn man weiß, dass ab jetzt alles anders sein wird als geplant. Wenn Schmerz ist, wo die Kraft war. Die Halle hält den Atem an, weil alle wissen, dass Benzing nicht simuliert, als er da liegt und auf den Boden haut. Wir sind hier nicht beim Fußball. Auf dem Bildschirm des Kollegen neben uns läuft die Fernsehübertragung des Spiels, aber Herber kann nicht hinsehen. Er kennt das zu gut, er ist da dünnhäutig. Benzing wird vom Platz geschleppt. Syndesmose? Vorderfuß? Um uns herum wird spekuliert. Kann man ohne richtigen Frontcourt gegen die Serben gewinnen? Herber verzieht das Gesicht. Empathie statt Analyse.

Diese widerliche winzige Sekunde. Es gibt ein Bild des Tiptop-Sportfotografen Tilo Wiedensohler, das nach Spielende auf den Bildschirmen der Journalisten um uns herum auftaucht: Es zeigt Robin Benzing, wie er mit hart bandagiertem linken Knöchel auf drei Stühlen gleichzeitig sitzt und vor Schmerz in sein Handtuch beißt. Vielleicht ist es auch Wut, vielleicht ist es Verzweiflung. Man kann das nicht genau erkennen. Sein Blick geht Richtung Spielfeld. Doc Neuendorfer, Nowitzkis Leibarzt, der seit ewigen Jahren auch die Nationalmannschaft betreut und der alles gesehen hat und alles weiß und alles versteht, streicht ihm über den Kopf. Im Hintergrund erkennt man den Sportdirektor, den Osteopathen, den Physiotherapeuten, alle mit unscharfen Gesichtern. Man ahnt ihre Befürchtungen.

Ebenfalls im verschwommenen Hintergrund: Maik Zirbes, der andere wichtige Verletzte der Nationalmannschaft (ebenfalls der Knöchel). Zirbes ist ein Bulle oder Bär, ein Schrank oder eine Wand, er spielt hauptberuflich für den serbischen Meister und Pokalsieger Roter Stern Belgrad. Bei Heimspielen in der Belgrader Arena brüllen und singen 25.000 irre laute und vollkommen besessene Basketballfachleute das komplette Spiel durch. Zirbes ist ein Spieler, der die serbische Intensität, Ernsthaftigkeit und Schläue kennt. Er wäre genau der Richtige gewesen, jetzt fehlt er. Genau wie Daniel Theis, Elias Harris, Maxi Kleber fehlen. Genau wie Robin Benzing. In der Mitte wird es dünn.

Nach dem Spiel verlassen Herber und ich die Halle, die deutschen Fans gehen ebenfalls nach Hause, Väter, Mütter und Kinder. Vor der Tür warten schon die Serben auf Einlass: Väter und Freunde und Flaggen. „Das ist eine andere Nummer“, sagt Johannes Herber. Die serbischen Fans sind wie ihr Team: Sie haben das Spiel von Grund auf begriffen, sie haben keine Angst und sie geben nicht nach. Die Serben sind hier, um das Ding zu gewinnen. Und zwar allen Ernstes: den Mitfavoriten Spanien ringen sie abends jedenfalls in einem fantastischen Basketballspiel nieder: Teodosic, Bjelica, Bogdanovic, Raduljica vs. Gasol, Reyes, Fernandez und Llull. Wahnsinn! Basketball auf unfassbar hohem Niveau. Gegen Serbien wird es wirklich ernst. Vielleicht muss Herber doch noch die Schuhe auspacken.

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