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„Wir mussten dieses Fenster wieder öffnen“

 

Steve Reich ist einer der einflussreichsten Komponisten unserer Zeit. Sein Minimalismus beeinflusste Rockmusik und die Soundtracks von Hollywood. Ein Gespräch über Spiritualität in der Musik und Reichs Freund Arvo Pärt, der nun 80 geworden ist.

Steve Reich: "Wir mussten dieses Fenster wieder öffnen"
© Jeffrey Herman

Es gibt nicht viele Komponisten, die den Lauf der Musikgeschichte verändert haben. Steve Reich, Jahrgang 1936, ist einer von ihnen. Zusammen mit Terry Riley und Philip Glass gilt er als der Begründer der sogenannten Minimal Music, die ab Mitte der 1960er Jahre von der Underground-Szene New Yorks aus ihren weltweiten Siegeszug antrat: einfache Tonfolgen, die über einen langen (manchmal sehr langen) Zeitraum rhythmisch komplex, aber harmonisch gleichbleibend variiert werden.

Wer zum ersten Mal Music for 18 Musicians (1976) hört und davor mit Neuer Musik vor allem die Klang- und Geräuschkaskaden Stockhausens oder Boulez‘ assoziiert hat, wird verblüfft sein. Nicht nur, weil das klassische Musik ist, bei der man sofort tanzen will; sondern weil man plötzlich begreift, wie viele Rockmusiker (Sufjan Stevens!) und Filmkomponisten (Die Tribute von Panem – Tödliche Spiele!) sich seitdem großzügig bei Reich bedient haben. Ein Schicksal, das er mit seinem ein Jahr älteren estnischen Kollegen Arvo Pärt teilt.

Ohne hinter dem Eisernen Vorhang je irgendetwas von Minimal Music gehört zu haben, brach Pärt 1963 radikal mit dem damals vorherrschenden Stil der seriellen Musik und setzte auf eine neue harmonische Einfachheit, jedoch ohne die so zwingenden Puls-Rhythmen seiner amerikanischen Kollegen. Oder, wie Pärt es selbst formuliert: „Ich habe entdeckt, dass es genügt, wenn ein einziger Ton schön gespielt wird.“ Besonders durch die Aufnahmen des Münchener Labels ECM, auf dem in den 1980ern Musiker wie Gidon Kremer und Keith Jarrett seine Stücke einspielten, wurde er weltberühmt – und zur beliebten Soundtrack-Veredelung, wenn es Hollywood besinnlich haben will (Von Fahrenheit 9/11 bis Avengers 2).

Einerseits könnten Reich und Pärt nicht unterschiedlicher sein. Hier Steve Reich, eloquent, witzig, intellektuell und nicht nur mit seiner obligatorischen Baseballkappe uramerikanisch, dort Arvo Pärt, einsilbig, ein wenig kauzig, der mit seinem langem Bart und der Glatze etwas Zurückgezogen-Mönchisches an sich hat. Andererseits sind beide Komponisten seit den 1980ern miteinander befreundet. Dabei verbindet sie mehr als nur das musikalische Interesse an „minimalen“ Formen: Beide sind tiefreligiös. Als Jude beschäftigt sich Reich in vielen seiner Werke mit der Geschichte Israels (in seiner Multimediaoper The Cave zum Beispiel), Pärt, der regelmäßig Texte der Bibel vertont, ist seit 2011 Mitglied des Päpstlichen Rates für Kultur.

So ist es also vielleicht nicht überraschend, dass Reich sofort zusagt, als ich seinen Verlag um ein Interview zu Pärts 80. Geburtstag bitte. Allerdings soll ich zu ihm nach Hause kommen – ein kleines Problem, da Reich außerhalb von New York auf dem Land wohnt. Doch ich habe Glück. Im Rahmen eines Filmprojekts drehe ich in den USA; ein Termin mit Reich ist rasch gefunden, und so mache ich mich mit dem Auto von Manhattan in Richtung Norden auf.

Überraschend schnell dünnen die Häuserzeilen aus, hier und da noch kleine Ortschaften den Hudson entlang. Ein Dorf mit riesiger US-Flagge und einer Kirche im Zentrum (der Parkplatz davor voll besetzt) ist die letzte Station, bevor es in dichte Wälder geht, in denen am Ende von langen, geschwungenen Einfahrten hinter akkurat gestutztem Rasen mal protzige, mal fantasievolle Villen hervorschimmern. Steve Reichs Haus fällt hingegen nüchtern aus, eben minimalistisch: ineinander verschachtelte Blöcke, einstöckig, fast trutzig, mit einem Steingarten davor. Seine Frau, die Videokünstlerin Beryl Korot, begrüßt mich, dann tritt auch schon Reich selbst aus der Küche. Er frühstücke gerade, sei aber gleich fertig, sagt er. Es ist 13 Uhr.

Vor dem Gespräch in seinem Wohnzimmer, in dessen Bücherregal vor allem Werke über das Judentum stehen, fragt er mich noch, wann genau Pärts Geburtstag sei; als ich antworte, am elften September, ist Reich kurz sprachlos – dann aber gleich im Anschluss umso auskunftsfreudiger. Wenn es um die serielle Musik im Europa der 1960er geht, kann er überraschend bissig werden; dreht sich das Gespräch jedoch um Pärt und seine Musik, wird klar, wie sehr ihm sein Freund und Kollege am Herzen liegt.

Thomas von Steinaecker: Was war Ihre erste Begegnung mit der Musik von Arvo Pärt?

Steve Reich: Ich glaube, das war diese Schallplatte von ECM, die dann sehr bekannt wurde, mit Fratres und Tabula Rasa. Davon war ich enorm beeindruckt.

Von Steinaecker: Was daran beeindruckte Sie denn so?

Reich: Es war etwas, das sehr viel Ähnlichkeit mit dem hatte, was ich tue. Pärts Ausgangsmaterial ist sehr simpel. Ich war erstaunt darüber, dass so etwas aus Europa kam. Das einzige Gefühl, das für Musik aus Europa zu zählen scheint, ist doch vor allem Angst. Deutsche und europäische Musik ist vor allem darin gut, sich auf die Brust zu trommeln und Schreie auszustoßen, aber sie ist nicht besonders gut im Singen und Mitwippen. Und dann kommt noch hinzu: Arvos Musik war religiös in einem sehr säkularen Zeitalter.

Von Steinaecker: Sie sind mit Pärt befreundet. Wie lernten Sie sich kennen?

Reich: Das muss so um 1985 gewesen sein, als ich The Desert Music schrieb. Er kam für ein paar Konzerte nach New York. Eines Tages läutete er an meiner Tür. Ich lebte damals vier Blocks entfernt von Ground Zero. Er sprach kaum Englisch, und ich konnte kein Deutsch. Aber ich erinnere mich daran, wie er zum Klavier ging, die aufgeschlagene Partitur von The Desert Music sah und darin blätterte. Dann drehte er sich zu mir und sagte: „Sie brauchen mal Urlaub!“ (lacht)

Von Steinaecker: In Deutschland, aber auch sonst in Europa ist ja Pärts Ruf recht zwiespältig. Einerseits ist er einer der wenigen zeitgenössischen Komponisten mit einem großen Publikum; andererseits wird seine Musik in den Medien oft als zu einfach und religiös naiv kritisiert.

Reich: Ich denke, das zeigt die spirituelle Krise der Musik in Europa. Pärt ist dort die einsame menschliche Stimme.

Von Steinaecker: Was genau meinen Sie mit „spiritueller Krise“?

Reich: Europa hat einen christlichen Ursprung, und der ist ihm abhandengekommen. Und ich verstehe durchaus, wie so etwas passieren kann. Aber es gibt eben auch eine Gruppe innerhalb des Islam, die bereit ist, dafür zu sterben, was sie tut. Und wenn zwei Kulturen dieser Art aufeinandertreffen, wer, meinen Sie, wird die Oberhand gewinnen: der, dem alles egal ist, oder der, der für seine Sache brennt? Also denke ich in Bezug auf Pärt: Er weiß, wo er steht. Er steht auf festem Boden.

Von Steinaecker: Glauben Sie denn, dass Musik mehr als alle anderen Künste dafür geeignet ist, den Menschen mit Gott in Verbindung zu bringen und religiöse Gefühle auszudrücken?

Reich: Natürlich bewegt mich als Komponisten am meisten Musik. Aber ich glaube tatsächlich, das geht den meisten Menschen so. Es braucht kein Training dazu, kein besonderes Wissen. Warum fahren Jugendliche so auf Rockmusik ab? Okay, sie mögen auch Comics, aber, ich meine: Geht man auf ein Rockkonzert, besitzt das eine quasi-heidnische, religiöse Qualität. Etwas Fiebriges. Und diese Intensität wurde immer mit Musik in Verbindung gebracht.

Von Steinaecker: Macht es denn für Sie einen Unterschied, ob Sie religiöse oder weltliche Texte vertonen, wie in den Daniel Variations?

Reich: Eigentlich nicht. Denn gerade in diesem Stück gibt es ja beides: Die letzten Worte von Daniel Pearl, bevor er von islamischen Fundamentalisten 2002 in Pakistan enthauptet wurde; und Auszüge aus dem Buch Daniel aus dem Alten Testament. Es ist also ein quasi-religiöses Stück. Tehilim ist wahrscheinlich jenes meiner Stücke, das am offensten religiös ist. Kennen Sie Tehilim?

Von Steinaecker: Das ist eines meiner Lieblingsstücke.

Reich: Dann kennen Sie ja das Halleluja daraus. Ich meine, man könnte dazu tanzen. Ich habe Leute gesehen, die das taten. Und genau das ist der Punkt. Das Christentum glaubt, dass seine Würdenträger im Zölibat leben sollen. Kein Sex. Im traditionellen Judentum muss der Rabbi verheiratet sein. Wenn nicht, ist er nicht qualifiziert. Er ist nur ein halber Mensch. In der Synagoge trifft man oft Menschen, die klatschen und singen und Schnaps trinken. Es gibt da also eine Art von Freude die sich ganz grundsätzlich vom Christentum unterscheidet, glaube ich. Und das Halleluja in Tehilim, das meiner Meinung nach das Beste ist, was ich je geschrieben habe, zeigt genau das.

Von Steinaecker: Was halten Sie von Aufführungen Ihrer Musik in Kirchen oder Synagogen?

Reich: Im traditionellen Judentum gibt es keinen Bedarf an Konzertmusik. Echte jüdische Musik ist für mich nicht Klezmer oder Fiddler on the Roof. Das ist alles Folklore, was auch okay ist. Aber eigentlich ist es Folgendes: Ein Mann singt von der Schriftrolle. Ich habe viele Stücke geschrieben, die einen religiösen Hintergrund haben. Different Trains ist nicht religiös, aber der Holocaust gehört zur jüdischen Geschichte. Doch das sind alles Stücke für den Konzertsaal. Nun, um Ihre Frage zu beantworten: Mir hat einmal jemand gesagt, Tehilim werde in einer Synagoge in Budapest aufgeführt. Oh, wie schön, habe ich geantwortet. Ich hoffe, sie hat eine gute Akustik. (lacht)

Von Steinaecker: Ist es denn nicht ein wenig einschüchternd, so etwas wie das Halleluja zu vertonen, das schon so viele Komponisten vor Ihnen vertont haben?

Reich: Aber hallo! (lacht) Als ich Tehilim schrieb und beim 150. Psalm angelangt war, dachte ich: Okay, Händel hat das vertont. Bach hat das vertont. Britten hat das vertont. Und was mache ich jetzt? Ich meine, es verpflichtet dazu, sich wirklich anzustrengen. Es wäre furchtbar, wenn ich einfach all diese Riesen nachahmen würde. Sie taten, was sie taten. Jetzt ist es an mir, etwas zu schaffen, das wahr ist und wirklich aus mir selbst kommt.

Von Steinaecker: Sie erwähnten einmal den seltsamen Zufall, dass Terry Riley 1964 im Prinzip dasselbe getan hat wie Arvo Pärt zur gleichen Zeit, obwohl beide nichts voneinander wussten. Beide benutzten C-Dur-Akkorde.

Reich: Pärt stand damals, so wie wir alle, vor dieser Mauer, wie ich es mal nennen möchte, diese Mauer namens Stockhausen, Boulez, Berio und Cage. Was war seine Lösung? Einerseits organisiert er Rhythmen und Dauern streng seriell, aber andererseits beschränkt er sich auf C-Dur. Und das ist das Entscheidende. Es brauchte schon viel Mut, so etwas zu tun. Das war, wie wenn jemand plötzlich laut fluchen würde. Es ist eine unglaubliche Geste. Er kombiniert zwei Dinge, die eigentlich unvereinbar scheinen, und es funktioniert! Davon war ich extrem beeindruckt, auch wenn ich davon erst Mitte der 1980er erfuhr.

Von Steinaecker: Und wie war diese Entwicklung bei Ihnen?

Reich: Als ich anfing zu komponieren, tat ich das, weil ich Bach, Strawinsky und Bebop liebte. Und nicht Wagner oder Schönberg. Es lag etwas in der Luft. Besonders hier in den USA. Zum Beispiel im Jazz bei John Coltrane. 1961, in Africa/Brass, bleibt der Bassist siebzehn Minuten auf E. Wie geht so etwas? Ich meine, das ist ja eigentlich unglaublich langweilig. Das muss ich mir nicht einmal anhören. Falsch. Hören Sie es sich an! Und was hören Sie dann? Sie hören alle Arten von linearen Tonfolgen, die sofort ins Ohr gehen. (singt) Oh, was ist das? Waldhorn-Glissandi, denn Eric Dolphy machte ein Arrangement für Big Band und schrieb Glissandi für Waldhörner! Und dann dieser Rhythmus, bei dem man denkt: Das müssen sechs verschiedene Schlagzeuger sein. Dabei ist es Elvin Jones. Wahrscheinlich der versierteste Schlagzeuger, der je Jazz gespielt hat. Wenn man also rhythmische Komplexität und melodischen Einfallsreichtum hat, dann kann man auch innerhalb einer einzigen Harmonie bleiben. Dadurch werden all diese anderen Dinge betont. Gleichbleibende Harmonik lag also in den USA der späten Fünfziger, frühen Sechziger in der Luft, vor allem wegen Jazz und Popmusik. Das war aber natürlich nicht Arvo Pärts Hintergrund.

Von Steinaecker: Er selbst nennt die Musik des Mittelalters als wichtigen Einfluss.

Reich: Ich will es so sagen: Wenn man Musik von Pärt hört, denkt man, er war vielleicht in der Kirche, und durch das Fenster hörte er Leute, die vorbeigingen und die entweder zu viel getrunken hatten oder einfach nur sangen. Und er machte Musik daraus. Und ich glaube, was in der Generation vor der meinen geschah, war, dass dieses Fenster geschlossen wurde. Und wir mussten dieses Fenster wieder öffnen. Es war die Wiederherstellung der Normalität.

Von Steinaecker: Estland, wo Pärt lebte, war ja damals Teil der Sowjetunion. Gibt es denn für Sie so etwas wie politische Musik oder musikalischen Widerstand gegen ein Regime?

Reich: Wenn dem so ist, interessiert es mich nicht. Wenn Die Dreigroschenoper in diese Kategorie fällt, finde ich sie gut. Aber über all die andere Musik, die explizit politisch ist, rede ich lieber nicht. Wenn Musik eine politische Idee enthält – schön. Aber das Wichtigste an einem Musikstück ist, dass es Musik ist. Wenn die Musik erstklassig ist, wird sie leben. Und was immer sie mitzuteilen hat, wird mittransportiert werden. Aber wenn die Musik nicht gut ist, ist mir auch egal, was sie mitzuteilen hat. Schreiben Sie mir eine E-Mail. Mitteilungen kommen bei mir per Mail besser an.

Von Steinaecker: Letzte Frage: Gibt es denn dann überhaupt einen Unterschied zwischen sogenannter U- und E-Musik?

Reich: Warum nennen Sie es nicht notierte und nicht-notierte Musik? Das erscheint mir eine bessere Unterscheidung, weil es musikalischer ist. Ich habe ein Stück geschrieben, 2 x 5, und die Frage war, wer soll das spielen? Wer spielt elektrische Gitarre, elektrischen Bass und Schlagzeug und kann gut Noten lesen? Interessanterweise gibt es heute einen Haufen Musiker, die das können. Bryce Dessner hat in Yale Musik studiert. Er kann alles vom Blatt spielen, was Sie ihm geben. Er ist Gitarrist. Er und sein Zwillingsbruder haben die Band The National gegründet. Sein Bruder kann keine Noten lesen. Und zusammen sind sie also in dieser Band, weil in der Rockwelt läuft es so, dass du jemandem sagst: Hey, ich spiel dir jetzt mal ein paar Mal was vor, und du spielst es mir dann nach, okay?

Von Steinaecker: Der Gitarrist Jonny Greenwood von der Band Radiohead hat ja auch Ihr Stück Electric Counterpoint gespielt …

Reich: Jonny war ja Bratschist in Oxford, bevor er zu Radiohead kam. Aber wenn Sie den Film There will be Blood anschauen, hören Sie seinen Soundtrack und Sie denken, Sie hören Messiaen oder etwas in der Art. Sie werden niemals auf die Idee kommen, dass der Typ ein Rockstar ist. Wir leben also mit einer neuen Generation von Musikern, die eine klassische Ausbildung genossen haben und die Rockmusik mögen, oder wie auch immer man es nennen mag. Und ich denke, das ist erst der Anfang.