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Das ist nur ein Spiel, Mama!

 

Auch wenn man Profibasketballer ist: Es ist schon wichtig, was die Eltern denken. Am Spielfeldrand mit der Mutter des Nationalmannschaftskapitäns

Die Mutter des deutschen Kapitäns ist Lehrerin: Karin Hövermann-Schaffartzik, Politik, Geografie und Geschichte. Sie hat selbst nie Basketball gespielt, aber jahrzehntelang zugesehen. Sie ist die Steuerfrau einer Basketballfamilie, ihre beiden Söhne spielen, und auch der Vater ist seit Jahrzehnten Basketballer. Frau Hövermann hat das Spiel studiert, ab und zu schleicht sich Fachjargon in ihre Sprache. Wenn sie am Spielfeldrand sitzt und ihren Jungs zusieht, hat sie eine dünne Haut. Ihre pädagogische Ader schimmert durch. Als ihre Kinder noch Kinder waren, lächelt sie, habe sie bei gelungenen Aktionen auch dem Gegner applaudiert. Heutzutage passe sie da besser auf. Sie lacht einem direkt ins Gesicht: Manchmal jubele sie immer noch aus Versehen. Eine gute Lebensgrundlage, denke ich: aus Versehen jubeln.

Vor dem Spiel haben sich die deutschen und italienischen Kollegen die Köpfe heiß geredet. Jeder hat so seine Meinung zu Italien, jeder hat etwas zu Deutschland zu sagen: Das Halbfinale der Fußball-WM 2006. Die Sache mit Fabio Grosso. Roberto Baggios Elfer. Die Sache mit Zidane. Mamma mia! San Siro 1990, mein Freund! Im Bauch der Halle werden sämtliche Vorurteile wiedergekäut: Roboter vs. Schwalbenkönige, deutsche Maschinen vs. italienische Muttersöhnchen.

Apropos: In der Halle machen sich Bargnani, Belinelli und Gallinari warm, in den Katakomben herrscht Bewunderung für den italienischen Sieg über Spanien, der einfach scheinende Gameplan und die notwendige Geduld zu seiner Ausführung. Präziseste Parkett-Mathematik. Das Spiel Deutschland-Türkei hingegen war eine Katastrophe, zumindest das erste Viertel steckt der Halle noch in den Knochen. Aber bei einer Europameisterschaft ist jedes Spiel anders, Konstellationen verschieben sich, Gegner liegen einem oder liegen einem nicht, jeder Tag ist ein neuer Tag, dem Sport ist die Gegenwart wichtiger als die Geschichte.

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Mamma mia! Vor dem Spiel sitzt Karin Hövermann-Schaffartzik in aller Ruhe auf ihrem Platz und erzählt. Siebte Reihe, Übersicht und gleichzeitige Nähe. Auf dem Feld wirft sich ihr Sohn Heiko heiß, der wahnsinnige Wurfautomat, er lässt einen Dreier nach dem anderen fliegen, Floater und lange Zweier. Sie sei alt genug, hat er gesagt, sie solle das Spiel gucken, mit wem sie wolle, seinetwegen auch mit dem Schriftsteller. Der Vater Walter Schaffartzik sitzt abseits und seziert die Szenerie, den Gegner und die Deutschen. „Das macht er immer“, sagt sie. „Der ist immer schon Stunden vorher da und bereitet sich vor.“

Heute sind alle da. Wenn man sich in der Halle umsieht, entdeckt man in allen Winkeln der Halle Spielerfrauen, Spielerkinder, Spielereltern. Sie sitzen oben in den Logen und unten am Spielfeldrand. Omas und Opas, Freunde und Freunde von Freunden. Aus allen Teilen des Landes sind sie angereist, Basketballdeutschland hat sich Urlaub genommen und will noch einmal Nowitzki sehen. Deutscher Basketball ist eine Familienangelegenheit.

Hövermann-Schaffartzik und ich geraten ins Plaudern, wir sprechen über die Karriere ihres Sohnes. Berlin, Gießen, Istanbul, wieder Berlin, dann der kontroverse Wechsel nach München. Wie er hier in der Berliner Halle mit den Bayern Meister wurde und sich direkt dort unten im Mittelkreis verbeugt hat. Die ohrenbetäubenden Pfiffe dazu, die Entrüstung. Hövermann-Schaffartzik bewundert die Kaltschnäuzigkeit ihres Sohnes, seinen Umgang mit Jubel und Wut, seine Fähigkeit zur Abstraktion. „Das ist nur ein Spiel, Mama“, habe Heiko einmal gesagt, als sie ihn nach einer Niederlage trösten wollte. Seine eigenen Erwartungen an sich seien viel höher als die der anderen an ihn, sagt sie. Heute Pfiffe, morgen Jubel, einmal Wut, dann wieder Liebe: „Ich glaube, ihm gefällt das.“

Als das Spiel beginnt, ist nichts mehr zu sehen von der deutschen Schludrigkeit aus dem Spiel gegen die Türken. Jetzt ist Italien, die Spannung ist da, Heiko Schaffartzik trifft, seine Mutter steht auf und jubelt. Die ganze Halle steht und jubelt. 42:42 zur Halbzeit, dann plötzlich ein Lauf für uns, plötzlich liegen wir 45:55 vorne. Zehn Punkte, die Italiener treffen ein paar Minuten lang nichts.

Aber dann, aber dann. Karin Hövermann-Schaffartzik setzt sich hin und schüttelt den Kopf, als wisse sie, was jetzt kommt.

Drei Punkte sind ein Punkt mehr als zwei. Die Italiener wissen, dass sie irgendwann wieder treffen werden, denn Belinelli und Gallinari und Bargnani haben ihr ganzes Leben lang getroffen, in der italienischen Liga, in der Nationalmannschaft, in der NBA. Sie kennen die Quoten, die sie werfen, wenn alles normal läuft. Wenn sie diese Quoten ansatzweise erreichen, brauchen sie viel weniger Würfe, um ihre Punkte zu erzielen. Die italienische Taktik: hinten zwei Punkte kassieren, vorne drei Punkte machen. Die deutschen Werfer werden gut verteidigt, ihr Sohn und Nowitzki kommen selten zum Wurf, nur Schröder geben sie Korbleger um Korbleger. Die Italiener spielen mit vier Schützen, sie machen das Feld weit und werfen, denn sie wissen: wenn sie weiter werfen, werden sie irgendwann gewinnen. Zwei Punkte sind einer weniger als drei. Die Italiener sind geduldig, sie kennen die Zahlen.

Es ist eine Art Falle, es kommt genau wie geplant: Danilo Gallinari erzwingt kurz vor Ende der regulären Spielzeit die Verlängerung, und die Italiener lassen Schröder weiter zum Korb rauschen wie schon das ganze Spiel über. Einmal trifft er, zweimal verliert er den Ball, einmal übersehen die Schiedsrichter ein Foul. Schröder bleibt eine Sekunde zu lang am Boden, Belinelli dribbelt nach vorne, fünf Italiener gegen vier Deutsche, zwei schnelle Pässe, dann nimmt er den Dreier. Und trifft. 89:82.

Die Halle hat italienisch gebrüllt. Die Mannschaften haben sich noch einmal im Mittelkreis versammelt, dann sind die Deutschen hinter den Italienern her aus der Halle geschlichen. Dirk Nowitzki ist mit gesenktem Kopf durch einen Nebenausgang verschwunden, und auch Frau Hövermann-Schaffartzik ist längst weg. Es ist nur ein Spiel, denke ich, aber wir wissen: das nächste könnte das letzte sein.