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Bei diesen Leah- oder Laura-Frauen habe ich einen blinden Fleck

 

Für diese Woche brauchten wir noch einen Querulanten und irgendwas mit Gender. Wie mag es im Kopf eines Talkshow-Redakteurs aussehen? Unsere Autorin ist reingeschlüpft.

Die Dunkelziffer derer, die nicht am Rand der Gesellschaft leben und trotzdem noch fernsehen, ist recht hoch. Wie sie das kommunizieren, wie heimlich oder offen sie mit dieser obsoleten, stumpfsinnigen Beschäftigung umgehen, kann mir egal sein. Will heißen: Unsere Quoten sind okay. Meine Redaktion ist mehr als okay. Ich. Ich bin der Chefredakteur einer TV-Talkshow und bin umgeben von hochqualifizierten Leuten, hauptsächlich Frauen, die einen guten Job machen. Aus Sicht anderer Männer sicher ein paradiesischer Arbeitsplatz. Da sie wirklich fast durchgehend jung und gutaussehend sind und die Fluktuation relativ hoch ist, hat dies bei mir zu Abnutzungserscheinungen geführt: Ich kann diese Frauen nicht mehr auseinanderhalten. Sie alle tragen etwas Wehendes über etwas Engem, dazu Sneakers, mit denen sie über die Flure fliegen. Flache Schuhe, flache Hierarchien. Sie alle erfüllen ihre Aufgaben mit Bravour, wie ich ihnen regelmäßig – siehe Fluktuation – in ihre Zeugnisse schreibe.

Manchmal habe ich das Gefühl, dass sie mit mir flirten oder versuchen, meine verschlossene Art ihnen gegenüber zu ergründen. Vielleicht nehmen sie an, ich würde mich selbst kasteien, indem ich mir aus Gründen der Arbeitsatmosphäre Komplimente, Witze und anerkennendes Mustern verkneife. Vielleicht erkundigen sie sich auch bei den älteren Kollegen nach meiner sexuellen Orientierung. Die Wahrheit ist: Genau dieser Typus Mädchen wandelt regelmäßig durch mein Haus. Und auch bei den Freundinnen meiner Tochter, die alle Leah oder Laura heißen, habe ich diesen blinden Fleck. Ich rede nicht darüber, auch weil ich keine Lust habe auf eine Genderdiskussion. Meine Unfähigkeit, in ihnen die unverwechselbaren Individuen zu sehen, die sie mit Sicherheit sind, hat nichts mit ihrem Geschlecht zu tun, sondern mit meiner Müdigkeit. Bei ständig wechselnden jungen Männern mit ähnlichen Frisuren und H&M-Kampagnen-Kleidungscodes wäre ich sicher genauso … nennen wir es indifferent. Trotzdem bin ich ein guter Boss und gehe davon aus, dass es anderen Leuten in meiner Position ähnlich geht.

Erster Tag nach meinem Sommerurlaub. Und es wird bereits wieder gegendert was das Zeug hält. Für die Talkrunde in der nächsten Woche brauchen wir noch einen Querulanten, einen Devil’s Advocate, eine stark polarisierende Person, die Spaß an dieser Rolle hat. So schaffen wir eine Win-Win-Situation, alle reden durcheinander und fühlen sich wohl dabei, der Zuschauer fühlt sich gut unterhalten, das Heer der TV-Verweigerer wird später online nachziehen, falls es kontrovers oder gar skandalös genug wird, was wir hoffen. Nun, wer könnte das diesmal sein? Ann-Christine hat da verdammt gute Vorarbeit geleistet wie auch schon bei der letzten Sendung vor der Sommerpause. Ich bemühe mich gar nicht erst um ein Gesicht zum Namen Ann-Christine und nicke anerkennend in die gesamte Runde.

© Marcel Mettelsiefen/Getty Images
© Marcel Mettelsiefen/Getty Images

Ich bin ein Nostalgiker, der literweise schwarzen Kaffee trinkt und ungern Wasser. Deshalb denke ich an die Zeit, in der man sich wie verrückt an Helmut Berger und Klaus Kinski erfreute. Doch wir brauchen keinen Star außer Rand und Band, wir brauchen jemanden, dessen Œuvre zum größten Teil an der Teilnahme an Sendungen wie unserer besteht. Die Wahl fiel diesmal auf eine Frau, die bereits fleißig herumgereicht wird und die mit der Aussage provoziert, es würde sich nicht lohnen, arme Männer zu heiraten, wo es doch auch reiche gibt. Aha, sage ich. Und dann dehnt sich eine Leere in meinem Kopf aus, ähnlich des Vakuums, das der Satz „Du, ich hab ja nicht mal mehr einen Fernseher“ bei mir auslöst, den ich in letzter Zeit ständig zu hören bekomme. Kein Fernseher ist jedoch genauso wenig ein Beweis für intellektuelle Glanzleistungen wie viele Bücher, deshalb antworte ich nie auf dieses Konsensgeschwafel.

Diese Frau wäre nicht nur frauenfeindlich, sondern auch männerfeindlich, sagt eine meiner Junior-Redakteurinnen. Die Diskriminierung finanziell schlechter gestellter Männer auf dem Heiratsmarkt interessiert aber im Grunde niemanden, räumt sie dann ein. Guter Punkt, sage ich. Dann sagt die nächste, der ich nach diesem Meeting den internen Namen Paula Plattitüde geben werde: Frauen sollten unabhängig sein und sich nicht dieser Form der Quasiprostitution hingeben. Frauen sollten dies, Frauen sollten das. Meine Frau wollte heute Abend Freunde einladen, sollte dies aber sein lassen, fällt mir dazu ein.

Die dekadente Einstellung dieser Frau ist ein Auswuchs des Turbokapitalismus, sagt eine Frau mit Blick auf ihr iPad. Steht das da?, fragt eine andere. Besagte Frau ist das Gegenteil von Understatement, sie erfreut sich öffentlich an ihrer Lust am Luxus, was fast schon rührend ist, könnte sie rappen, wäre es sogar kreativ. Wie ein Mann, der ausschließlich mit Topmodels zusammen sein möchte und dem dies auch gelingt, tut auch sie, was ihr gefällt und schadet damit niemandem. Trotzdem tun ihr alle den Gefallen, höchst emotional auf sie zu reagieren. Die Reaktionen meiner Redaktion sind ein guter Gradmesser für die Reaktionen „da draußen“, auch wenn meine Redaktion das vermutlich anders sieht.

Wollt ihr keinen reichen Mann?, frage ich in die Runde. Eine meiner Mitarbeiterinnen lacht, eine schaut mich an, als hätte ich eine obszöne Frage gestellt, eine andere, als wäre ich nicht ganz dicht. Das Thema hat den Test zum Reizthema bestanden. Wir gehen die anderen Talkgäste durch. Ja, sie werden anderer Meinung sein, dieses unverhohlene Einfordern des eigenen Vorteils geht den meisten Leuten zu weit beziehungsweise irgendwie gegen den Strich. Unsere Talkrunde wäre weniger vorhersehbar, vielleicht sogar lustig, wenn die anderen Studiogäste gemeinsam mit der Frau deren Reichtum feiern würden. Aber nein, ich winke innerlich ab, diesen Twist würde niemand verstehen. Wir beim Fernsehen leben in ständiger Furcht, nicht verstanden und infolgedessen weggeschaltet zu werden. Was ich früher oft nicht verstanden habe und heute einfach hinnehme.

Ich winke die gesamte Sendung durch. Gute Arbeit, sage ich, was kommt danach? Ethisch korrekte Mode, Drogen- beziehungsweise Asylpolitik, Chancengleichheit. Alles klar. Alles egal. Ich frage mich, wie mein Team reagieren würde, wenn es wüsste, dass ich seit einiger Zeit nicht nur zu einigen Themen keine Meinung mehr habe, sondern zu ausnahmslos allen. Gut, ich bin kein Studiogast, der aufgrund seiner Meinung eingeladen wird, ich bin Journalist, der eine Sendung mit Meinungen zusammenstellt. Und ich hatte früher zu wirklich jedem Thema eine Meinung. Keine Meinung zu haben, wäre mir so absurd vorgekommen, wie keinen Humor zu haben. (Ich kenne übrigens nach wie vor niemanden, der von sich behauptet, keinen Humor zu haben.) Jedenfalls scheint sich mein Reservoir an Meinungen wohl erschöpft zu haben. Was nicht bedeutet, dass ich mit all meiner Erfahrung und Kompetenz keine gute Sendung mehr machen kann. Ein guter Arzt muss schließlich auch nicht krank sein. Ich danke Euch allen, ich nicke ihnen aufmunternd zu. Als sie den Raum verlassen, weiß ich, dass sie sich sofort wieder in die Arbeit stürzen werden. Wir arbeiten unter Hochdruck. Denn apropos Arzt: Oft fühlt sich Fernsehen machen an wie eine Operation am offenen Herzen.

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