Man läuft über Scherben und morsche, knarrende Bretter. Leerstehende Gebäude sind das Gegenteil von trostlos. Hier lassen sich Exkursionen in fremde Welten unternehmen.
A. zeigt mir seine neue Kamera. Wir fahren mit der S-Bahn Richtung Nordosten. Wir tragen stabiles Schuhwerk, Rucksäcke und Kleidung, die schmutzig werden darf, die kaputt gehen darf. Was wir machen werden? Wir fotografieren. Motive werden wir nicht suchen müssen, wir werden uns in ihnen bewegen. Zugegeben, es ist eine etwas merkwürdige Freizeitbeschäftigung, durch verlassene Gebäude zu laufen und sie zu fotografieren.
Manche dieser Orte finden sich in Reiseführern, andere findet man selbst, während man mit offenen Augen durch die Stadt geht, sie sind von S-Bahn-Trassen aus zu sehen, man hat davon gehört, darüber gelesen. Und fängt man einmal damit an, bemerkt man irritiert, dass es viele dieser Orte gibt: Fabriken, Wohnhäuser, Einfamilienhäuser, Supermärkte, Verwaltungsgebäude, Schwimmbäder, Sporthallen. Eine Stadt in der Stadt. In dieser Stadt treffen wir auf Touristen, weil Touristen einfach überall sind. Wir treffen auf andere, die auch fotografieren. Nie ist jemand allein unterwegs. Man tauscht sich aus: Welches Gebäude zugänglich ist, welches wieder geschlossen wurde, welches abgerissen wurde, wo Bauarbeiten stattfinden. Man schließt sich zusammen, da der Weg von A nach B komplett dunkel ist und nur einer eine Taschenlampe dabei hat, fährt gemeinsam zu einem anderen Ort.
Wir halten uns an Selbstverständliches: Wir betreten nur Gebäude, die offen sind, wir brechen nichts auf, wir verändern nichts, wir nehmen nichts mit. Alles, was bleibt, sind unsere Schuhabdrücke. Das Reden ist reduziert auf das Notwendigste. Sehen wir eine Wäscheleine, einen Flur, der gefegt wurde, machen wir sofort kehrt. Treffen wir doch auf Menschen, die sich dort eine Unterkunft errichtet haben, grüßen wir und gehen. Wir wollen niemanden erschrecken, niemanden stören, nicht ungeladen in einem fremden Wohnzimmer stehen.
Was wir sind: Zwei Männer mittleren Alters, die Abenteuerspielplätze aufsuchen, die behaupten, sie würden diese Gebäude fotografisch dokumentieren, was sie zweifelsohne auch tun, die aber vielleicht auch etwas nachzuholen haben. Vielleicht könnte man diese Beschäftigung besser erklären oder bräuchte es gar nicht erst, wenn man zwanzig Jahre jünger wäre. Sind wir aber nicht. Holen wir also etwas nach? Wahrscheinlich, warum nicht, es tut niemandem weh. Es macht Spaß, es ist aufregend.
Meistens sind wir von morgens bis zum Verschwinden des Lichts unterwegs. Wir sind achtsam und vorsichtig. Nur selten sehen wir eine Scheibe im Fensterrahmen. Wir laufen über Scherben, herausgerissene Bretter, in denen Nägel stecken, über zerschlagenes Mobiliar. Die Wände sind mit Graffiti zugedeckt. Mancher Boden ist marode und knirscht, mancher ist löchrig. Fast in jedem Gebäude finden sich Brandspuren. Der Wind geht durch die Gebäude, Türen knarren, Fenster schlagen. Mitunter ist die Angst ein Begleiter und wird der Begleiter zu groß und zu schwer, genügt ein Innehalten, eine Geste zum Anderen, und wir sind wieder draußen.
Es sind Orte, die einen verstummen lassen, Orte, die traurig machen, Orte, die obgleich ihrer Trostlosigkeit eine Faszination ausstrahlen. Wir gehen durch das Erlebnisbad, in dem ich hin und wieder als Kind war und mich am liebsten durch den Strömungskanal treiben ließ. Ich stehe in diesem Kanal und erinnere mich an die Geräusche, die es in diesem Bad gab. Wir gehen durch einen Festsaal, in dem ein Klavier steht, betreten die Bühne. Was war hier? Sicherlich gab es Tanzveranstaltungen, Feste, vielleicht Jugendweihen? Wir gehen durch die Büros einer Botschaft. Der Boden ist teilweise knöchelhoch mit zurückgelassenen Dokumenten bedeckt. Ein Schreibtisch, darauf eine Schreibmaschine, Polstermöbel. Als wäre das Gebäude fluchtartig zurückgelassen worden. Wir stehen in einem Hörsaal, unter der großen Tafel, sehen hinauf auf die Sitzreihen. Wir gehen durch eine Fabrik, durch die Hallen, in denen mittlerweile hohe Bäume wachsen, Birken, Erlen. Wir gehen durch die beiden fünfstöckigen Verwaltungsgebäude, stehen auf dem Dach, die Sonne scheint, es ist bereits Abend, links die Spree, rechts ein weiteres leer stehendes Areal, weitere Häuser, weitere Hallen. Wie viel Platz, wie viel Raum! Wem gehört das? Wer nennt das sein Eigentum?
Es ist dunkel geworden. Wir sind erschöpft. Wir stehen vor einem Verwaltungsgebäude von Siemens, vor dem ein Denkmal errichtet wurde. Auf der vielleicht 30 cm hohen Platte wurde zentriert ein bronzenes Schwert eingefasst. Die Plattenwände tragen die Umschrift Den Unvergessenen / Kameraden die im Weltkrieg / den Heldentod starben / das Haus Siemens. Es sieht gepflegt aus. 1994 wurde restauriert.
Auf dem U-Bahnhof fällt die Anspannung von uns ab, die Konzentration. Die Augen ruhen aus. Wir steigen in die Bahn, setzen uns und reden nicht. In den Köpfen sind zu viele Eindrücke, zu viel ist passiert, wir haben viel gesehen, das nichts mit unserem Alltag zu tun hat, wir waren in einer anderen Welt, der Kopf muss das sortieren, ordnen, verstehen.
„Noch einen Tee?“, frage ich A.
Er nickt. Wir werden uns in das Café setzen, in das wir uns immer nach einer Tour setzen, das ist eine Konstante, etwas Ordnung nach der Unordnung, in der wir waren. Wir werden auf die belebte Straße sehen, an die Fotos denken, die wir gemacht haben, den Tee trinken und nicht reden.
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