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Wenn die große Liebe plötzlich auf dich zählt

 

Die Wohnzimmertür geht auf und Adriano Celentano kommt rein. Das muss ein Missverständnis sein, will unsere Autorin vom Sofa aus noch rufen. Aber da singt er auch schon.

Gestern habe ich geträumt, dass ich in einem lila Samtanzug auf einem mir unbekannten Sofa liege und versuche einzuschlafen. Alles ist so hergerichtet, wie ich es mag: Zwei weiche Kissen und eine Decke, die schwer auf mir liegt. Ich atme ein, ich atme aus. Plötzlich öffnet sich die Tür und Adriano Celentano, ebenfalls in einem lila Samtanzug, kommt schüchtern herein. Ich richte mich auf, bin sofort hellwach und rufe: Hey, Adriano, du Idol meiner Kindheit, komm und setz dich zu mir! Adriano grinst etwas schief, macht eine tänzerische Bewegung und beginnt zu singen:

Conto su di te,
Ich zähle auf dich!

Das ist ein Missverständnis, will ich einwenden, aber er singt weiter:

Ich zähle auf dich und will,
Dass du immer dein Bestes gibst!

Nein, nein, so bitte nicht, Adriano! Ich habe dich geliebt, mit vierzehn und mit dreißig Jahren, und auch jetzt noch liebe ich dich. Deinetwegen habe ich Italienisch gelernt. Inmitten draller Hausfrauen saß ich jeden Mittwochabend in der Volkshochschule und wisperte wieder und wieder: „Sono Katerina e amo l’Italia più di ogni cosa.“ Und anschließend musste ich mit in die Kneipe und Weinschorle trinken. Den Film Gib dem Affen Zucker habe ich achtundzwanzig Mal gesehen und das Lied Yuppi du ist immer noch mein Lieblingslied.

Adriano Celentano: Wenn die große Liebe auf dich zählt
© dpa

Schon in meinem Kinderzimmer spielten sich deinetwegen Dramen ab, denn Depeche Mode war irgendwie in Ordnung, du aber nicht. Wenn eine Mitschülerin zu Besuch kam, schob ich schnell alle deine Platten unter mein Bett. Eine lugte noch hervor. „Was? Du hörst Celentano?“ Deinetwegen hatte ich keine Freunde. Niemand hat mich zu Partys eingeladen. Wenn alle kreischend ins Freibad liefen, saß ich auf einer Bank, lutschte Veilchenpastillen, die es nur am Büdchen in Bergisch-Gladbach gab, presste die Kopfhörer von meinem Walkman auf die Ohren und sang mit dir: „Bebi stei ye push yo oh“. Und irgendwann war ich durchsichtig und konnte sogar durch Wände gehen.

Ich zähle auf dich
Weil du mir, wie auch dem letzten Insekt, Respekt entgegenbringst.
Ich zähle auf dich
Und du wirst es besser machen als ich.

Was soll ich besser machen? Dass du jetzt – nach so vielen Jahren – kommst und Forderungen stellst, verwundert mich. Das ist ja gerade so, als wäre Gott zu Noah gegangen und hätte gesagt: „Bau etwas, was Großes, aber ich verrate dir nicht was…!“ Vielleicht nicht exakt so… egal.
Überhaupt, warum kommst du erst jetzt? Es gab so viele Momente in meinem Leben, da hätte ich dich mit einem guten Ratschlag gebraucht. Herbst 1984, Winter 1987, Sommer 1999, um nur einige aufzuzählen. Da hätte auch ein einfaches Ich zähle auf dich geholfen. Aber du kommst jetzt, gerade, als ich mich hingelegt habe, um ein Nickerchen zu machen. Ich bin jetzt erwachsen. Ich brauche dich nicht mehr. Ich habe jetzt Freunde, und manche gehen auch ins Freibad. Wir sind da sehr tolerant miteinander.

Ich zähle auf dich
Denn die Welt bessert sich nicht
Und wenn du mehr haben wirst
Verbirg keine Schätze.
Ich zähle auf dich
Dass du eine erstickende Forelle von einem idiotischen Kunststoff erlöst
Ich zähle auf dich
Denn das Leben gewinnt
Und die Bombe ist da vergammelt, wo sie ist.

Adriano, genug! Was willst du denn von mir?

Er macht einen Schritt auf mich zu, dreht eine elegante Pirouette und trippelt auf Zehenspitzen wieder hinaus, dann ist er weg, genauso schnell, wie er gekommen war.

Heute Morgen wachte ich mit schwerem Kopf auf. Ich kochte mir einen Kamillentee, was ich sonst nie mache. „Ich zähle auf dich“, hat Adriano gesagt. Was hat er gemeint? Was soll ich tun? Bin ich jetzt so etwas wie ein Medium? Reicht es nicht, dass ich mein Leben, wie alle anderen auch, abarbeite, solange, bis es nichts mehr zu erreichen gibt, nichts mehr zu hoffen, nichts mehr zu hinterlassen? Natürlich, mir geht es gut, aber bin ich schuldig? All diese Fragen und noch einige mehr stellte ich mir bei meiner Tasse Kamillentee. Dazu aß ich ein Milchbrötchen mit Rosinen. War das falsch?
Im Jahr 2006 verkaufte sich Unicamente Celentano 350.000 Mal. Adriano könnte doch damit zufrieden sein. Warum hat er mich ausgesucht? Ich erinnerte mich, wie ich in Foggia auf den breiten Schultern meiner Mutter saß und meinem Idol zujubelte. Er trug einen glänzend weißen Anzug und ich glaube, Ornella Muti war mit ihm auf der Bühne. Und ich glaube, sie war nackt. Ich schwenkte ein Fähnchen, grün, weiß und rot, die italienische Trikolore, und plötzlich hielt Adriano inne, schaute mich an und sagte: „Ciao“. Oder sagte er: „Conto su di te – Ich zähle auf dich“?

Nun sitze ich an meinem Schreibtisch und übe Naturprosa. Also schreibe ich: Der Horizont ist nirgends zu sehen, rechts steht der Mais immer noch herum, ist irgendwie unentschieden gewachsen. Links wird der Blick von zotteligen Wäldern gebremst. Ein bisschen Herbst hängt in der Luft. Aber das kann es doch nicht sein. Adriano zählt auf mich. Er meint wahrscheinlich, ich engagiere mich nicht genug in der Welt. Zu wenig karitatives Engagement, zu wenig pro bono, fehlender missionarischer Eifer für das Wahre, Schöne und Gute. Ist es das? Oder soll ich singen? Das wird es sein! Und so beginne ich zu singen.

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